So schloß Fetjukowitsch, und der Ausbruch der Begeisterung im Zuhörerraum war dieses Mal unaufhaltsam wie ein Sturm. Niemand hätte ihm Einhalt tun können. Die Damen weinten, auch viele Männer waren dem Weinen nahe, und selbst zwei von den hohen Standespersonen vergossen Tränen. Der Vorsitzende ergab sich denn auch in die Lage und legte nur zögernd die Hand an die Glocke: „Einen solchen Enthusiasmus unterdrücken, das wäre ja ebenso gewesen, wie ein Heiligtum unterdrücken!“ sollen unsere Damen später gesagt haben. Auch der Redner war sichtlich und aufrichtig gerührt. Aber siehe da, in einem solchen Augenblick erhob sich plötzlich unser Hippolyt Kirillowitsch noch einmal, um zu entgegnen. Geärgert und höchst ungehalten blickte man ihn an. „Wie? Was soll das? Er wagt noch zu entgegnen?“ fragten sich die Damen empört. Doch selbst wenn alle Damen der Welt, und an ihrer Spitze sogar die Frau Hippolyt Kirillowitschs, sich dagegen empört hätten – es wäre unmöglich gewesen, ihn in diesem Augenblick noch aufzuhalten. Er war bleich und zitterte am ganzen Körper vor Aufregung. Die ersten Worte, die er sprach, waren völlig unverständlich: Er war atemlos, sprach alles undeutlich aus, schien sogar den Faden zu verlieren. Doch das legte sich bald. Ich will aus dieser zweiten Rede des Staatsanwalts nur einige Sätze anführen.
„... Uns wird der Vorwurf gemacht, daß wir Romane erdichten. Was aber tut denn der Verteidiger, wenn man seine Rede nicht einen Roman nennen soll, einen doppelten sogar? Es fehlte ja nur noch, daß er ihn in Versen vorgetragen hätte. Fedor Pawlowitsch zerreißt, während er die Geliebte erwartet, das Kuvert und wirft es auf den Fußboden. Es wird sogar gesagt, was er bei dieser unbegreiflichen Prozedur geredet habe. Ist das keine Dichtung? Und wo ist der Beweis dafür, daß er das Geld herausgenommen hat? Wer hat es gehört, daß er dabei gesprochen hat? Der schwachsinnige Idiot Ssmerdjäkoff wird uns als irgendein Byronscher Held geschildert, der sich an der Gesellschaft für seine illegitime Geburt rächt – oder ist das kein Poem im Byronschen Geschmack? Und der Sohn, der beim Vater eingedrungen ist, ihn erschlägt, und auch wieder nicht erschlägt, der ist ja mehr als ein Romanheld, ist selbst ein lebendiges Poem, ist eine Sphinx, die Rätsel aufgibt, welche sie freilich selbst niemals lösen wird. Wenn er erschlagen hat, so hat er erschlagen. Wer aber kann verstehen, daß er erschlagen hat und dabei doch nicht erschlagen haben soll? Dann wird uns verkündet, daß unsere Tribüne die Tribüne der Wahrheit und gesunden Auffassung sei, und siehe da, von dieser Tribüne der ‚gesunden Auffassung‘ erschallt mit der Unantastbarkeit eines Axioms die Behauptung, daß den Vatermord wirklich Vatermord nennen, nichts als Vorurteil sei! Aber, wenn das Verbot, den Vater zu ermorden, nur ein Vorurteil ist, und wenn jedes Kind seinen Vater fragen soll: ‚Vater, warum soll ich dich lieben?‘ – was wird dann aus uns werden, wo bleiben dann die Grundfesten der Gesellschaft und der Familie? Der Vatermord, sehen Sie mal, ist dasselbe, was in der Vorstellung der Moskauer Kaufmannsfrau Metall und Schwefeläther ist. Die teuersten, heiligsten Gebote in der Bestimmung und der zukünftigen Bedeutung des russischen Gerichts werden uns leichtfertig entstellt vorgemalt, nur um den einen Zweck zu erreichen: um die Rechtfertigung dessen durchzusetzen, was wir nicht rechtfertigen dürfen. Oh, erdrücken Sie ihn mit Ihrer Barmherzigkeit, ruft der Verteidiger aus, – für den Verbrecher ist das wahrhaftig alles, was er braucht! Dann können wir ja morgen sehen, wie niedergedrückt er sein wird! Und ist der Verteidiger nicht noch zu bescheiden, wenn er nur die Freisprechung des Angeklagten verlangt? Warum verlangt er nicht gleich, daß man ein Stipendium auf den Namen des Vatermörders stifte, zur Verewigung seiner Heldentat, ein Stipendium, das der Nachwelt und der jungen Generation zugute kommen könnte? Da wäre doch das Evangelium und die ganze Religion verbessert. Das ist, heißt es, alles nur Mystizismus, nur wir allein haben das wirkliche Christentum, das bereits durch die Analyse der Vernunft und gesunden Auffassung revidiert worden ist. Und siehe, man richtet vor uns einen Pseudochristus auf! Mit welchem Maß ihr messet, wird euch wiedergemessen werden, ruft der Verteidiger aus, und im selben Augenblick verkündet er, daß Christus gelehrt habe, mit demselben Maße wiederzumessen, mit dem uns gemessen wird, – und das alles von der Tribüne der Wahrheit und der gesunden Auffassung! Wir haben erst am Abend vor unserer Rede einen Blick in die Bibel geworfen, und zwar einzig und allein zu dem Zweck, um mit der Kenntnis eines immerhin ganz originellen Werkes zu glänzen, eines Werkes, das man schließlich auch zur Erreichung eines gewissen Eindruckes gebrauchen kann, je nach Bedarf, versteht sich, immer nach Bedarf! Das Gebot Christi aber ist nicht, mit demselben Maße zu messen, sondern sich davor zu hüten, so zu messen, denn also tut die böse Welt. Wir aber sollen verzeihen und auch noch die rechte Backe hinhalten, nicht aber mit demselben Maße wiedermessen, mit dem unsere Feinde messen. Ja, das hat uns unser Gott gelehrt, nicht aber, daß das Verbot für die Kinder, ihre Väter zu erschlagen, ein Vorurteil sei. Wenigstens werden wir uns nicht unterfangen, von der Tribüne der Wahrheit und gesunden Auffassung herab das Evangelium unseres Gottes zu verbessern, den der Verteidiger bloß den ‚gekreuzigten Menschenfreund‘ zu nennen geruht, das genügt ja auch vollkommen, seiner Meinung nach, im Gegensatz zum ganzen rechtgläubigen Rußland, das zu Ihm emporruft: ‚Denn wahrlich bist du unser Gott‘ ...“
Hier aber griff der Vorsitzende ein und unterbrach unseren erregten Hippolyt Kirillowitsch, indem er ihn bat, nicht zu übertreiben, die pflichtschuldigen Grenzen einzuhalten usw. usw., was die Vorsitzenden in solchen Fällen gewöhnlich sagen. Auch der Saal war unruhig geworden. Das Publikum war in Bewegung. Man hörte sogar schon einige Ausrufe des Unwillens. Fetjukowitsch entgegnete nicht einmal. Er bestieg nur die Tribüne, um mit gekränkter Stimme – die Hand aufs Herz gepreßt – ein paar würdevolle Worte zu diesem selben Publikum zu sagen. Bei der Gelegenheit tat er nur einmal noch leicht und spöttisch der „Romane“ und der „Psychologie“ Erwähnung und brachte dann noch geschickt das Zitat an: ‚Jupiter, du ärgerst dich, folglich hast du Unrecht‘ – womit er natürlich beifälliges Lachen im Publikum hervorrief, denn unser Hippolyt Kirillowitsch glich niemandem weniger, als einem Jupiter. Auf die Anschuldigung, er habe der jungen Generation gestattet, die Väter zu erschlagen, bemerkte Fetjukowitsch nur höchst überlegen, daß er auf so etwas überhaupt nicht entgegnen wolle. Und über den „Pseudochrist“ sowie über den Vorwurf, daß er Christus nicht Gott, sondern nur den „gekreuzigten Menschenfreund“ genannt habe, „was der Rechtgläubigkeit widersprechen soll und niemals von der Tribüne der Wahrheit und der gesunden Auffassung herab gesagt werden könne“, ließ Fetjukowitsch nur eine kurze Bemerkung fallen, in der er auf die „Insinuation“ hinwies. Im übrigen bemerkte er noch, daß er, als er zu uns gereist sei, wenigstens darauf gerechnet habe, die hiesige Tribüne werde gegen Beschuldigungen geschützt sein, die seiner Person gefährlich werden könnten, als Staatsbürger und treuer Untertan, der er sei ... Doch bei diesen Worten wurde auch er vom Vorsitzenden unterbrochen, und so schloß er denn seine Rede mit einer Verbeugung, unter allgemeinem, beifälligem Gemurmel des Saales. Hippolyt Kirillowitsch dagegen war, nach der Meinung unserer Damen, „endgültig aufs Haupt geschlagen“.
Darauf wurde dem Angeklagten selbst das Wort erteilt. Mitjä erhob sich, sprach aber nur wenig. Er war maßlos erschöpft, sowohl körperlich wie seelisch. Der Anschein des Selbstbewußtseins und der persönlichen Kraft, den er beim Eintritt in den Saal gehabt hatte, war jetzt fast ganz verschwunden. Es war, als hätte er an diesem Tage irgend etwas für sein ganzes Leben durchlebt, etwas, das ihn ein sehr Wichtiges gelehrt, und das er jetzt begriffen hatte, während ihm dieses Begreifen früher unmöglich gewesen war. Seine Stimme war matt, er sprach lange nicht mehr so laut wie vorhin. Aus seinen Worten aber klang etwas Neues heraus, etwas Ergebenes, Besiegtes, das sich niedergebeugt und unterworfen hatte.
„Was soll ich sagen, meine Herren Geschworenen! Ich stehe vor meinem Gericht, ich fühle Gottes Hand über mir. Das Ende des zügellosen Menschen ist gekommen! Aber ich sage Ihnen, wie wenn ich meinem Gotte beichtete: Am Blute meines Vaters bin ich unschuldig, – nein, daran habe ich keine Schuld! Zum letztenmal wiederhole ich: Nicht ich habe ihn erschlagen! Ich bin zügellos und wild gewesen, aber ich habe das Gute geliebt. In jedem Augenblick habe ich mir vorgenommen, mich zu bessern, und doch habe ich gleich einem wilden Tiere dahingelebt. Ich danke dem Staatsanwalt, er hat mir vieles über mich gesagt, was ich selbst nicht gewußt habe, aber es ist nicht wahr, daß ich den Vater erschlagen habe, darin täuscht sich der Staatsanwalt. Ich danke auch dem Verteidiger, ich habe geweint, als ich ihm zuhörte, aber es ist nicht wahr, daß ich den Vater erschlagen habe, auch die bloße Annahme ist unwahr in sich und überflüssig. Den Ärzten aber glauben Sie nicht, ich bin bei vollem Verstande, nur meine Seele leidet schwer. Wenn Sie mich verschonen, wenn Sie mich freisprechen – werde ich für Sie beten. Ich werde ein besserer Mensch werden, darauf gebe ich mein Wort, ich gebe es Ihnen, wie meinem Gott. Wenn Sie mich aber verurteilen – so zerbreche ich selbst den Degen über meinem Haupte, und nachdem ich es getan, werde ich die zerbrochenen Stücke küssen! Aber verschont mich, ihr Menschen, beraubt mich nicht meines Gottes, ich kenne mich: Ich werde wider Ihn murren! Zu schwer ist es für meine Seele, meine Herren ... laßt den Kelch an mir vorübergehen!“
Seine Stimme versagte, kaum konnte er noch die letzten Worte hervorstoßen. Fast fiel er auf seinen Platz zurück. Der Gerichtshof schritt darauf zur Aufstellung der Fragen und fragte beide Parteien nach ihren Anträgen. Ich übergehe die Einzelheiten. Endlich erhoben sich die Geschworenen, um sich zur Beratung zurückzuziehen. Der Vorsitzende war sehr ermüdet und sagte ihnen daher nur ein schwaches Geleitwort: „Seien Sie unparteiisch, lassen Sie sich nicht von den schönen Worten der Verteidigung beeinflussen, wägen Sie gerecht, vergessen Sie nicht, daß eine große Verantwortung auf Ihnen ruht“ usw. usw. Die Geschworenen entfernten sich, und die Sitzung war unterbrochen. Man konnte aufstehen, umhergehen, die verschiedenen Eindrücke austauschen, am Büfett sich etwas stärken. Es war schon sehr spät, schon nach Mitternacht, kurz vor eins, doch niemand fuhr nach Haus. Man war so aufgeregt, daß man an Schlaf nicht einmal denken wollte. Alle erwarteten bangen Herzens das Urteil, obgleich es ihnen gar nicht bange um den Richterspruch war. Die Damen wurden höchstens von ihrer mehr hysterischen Ungeduld gepeinigt, ihre Herzen aber waren ziemlich ruhig: „Oh, unfehlbar wird er freigesprochen werden!“ meinte man überzeugt, und man bereitete sich schon auf den Augenblick der großen Begeisterung vor. Ich muß gestehen, daß auch unter dem männlichen Publikum des Saales sehr viele von der Freisprechung fest überzeugt waren. Die einen freuten sich, die anderen wiederum machten mürrische Gesichter, und die dritten ließen sogar ganz niedergeschlagen die Nase hängen: Nein, die wünschten wahrlich keine Freisprechung! Selbst Fetjukowitsch soll von seinem Erfolge fest überzeugt gewesen sein. Er war umringt, man beglückwünschte ihn und streute ihm Weihrauch.
„Es gibt,“ soll er gesagt haben – wie man später erzählte, „es gibt gewisse unsichtbare Fäden, die den Verteidiger mit den Geschworenen verbinden. Sie knüpfen sich, und man fühlt sie schon während der Rede. Ich habe sie auch diesmal gefühlt. Die Sache ist unser, seien Sie unbesorgt.“
„Na, meine Herren, was meinen Sie, was unsere Bäuerlein jetzt sagen werden?“ fragte ein dicker, pockennarbiger Herr, ein Gutsbesitzer, dessen Güter in der Nähe der Stadt lagen, indem er sich zu einer Gruppe Herren gesellte, die eifrig disputierten.
„Aber es sind ja nicht nur Bauern allein. Vier von ihnen sind doch Beamte.“
„Jawohl, nichts weniger als Beamte,“ sagte hinzutretend ein Mitglied des Landtags.
„Kennen Sie den Nasarjeff, den Prochor Iwanowitsch, jenen Kaufmann mit der Medaille, den einen von den Geschworenen?“
„Was ist denn mit ihm?“
„Ein kapitaler Kopf!“
„Aber er schweigt ja immer.“
„Das tut er, aber das ist ja um so besser. Der braucht sich nicht von diesem Petersburger belehren zu lassen, der könnte selbst ganz Petersburg belehren, – zwölf Stück Kinder, bedenken Sie nur das allein!“
„Aber ich bitt’ Sie, ist denn das überhaupt möglich, daß sie ihn nicht freisprechen?“ rief in einer anderen Gruppe einer von unseren jungen Beamten aus.
„Sicherlich wird er freigesprochen werden,“ ließ sich da eine andere überzeugte Stimme vernehmen.
„Eine Schande, eine Schmach wäre es, wenn sie ihn nicht freisprächen!“ fuhr der junge Beamte sich ereifernd fort. „Mag er ihn doch erschlagen haben, aber zwischen Vater und Vater ist immerhin ein Unterschied! Und dann, er ist doch so erregt und so aufgebracht gewesen ... Er hat ja vielleicht tatsächlich mit der Mörserkeule nur einmal so geschwenkt, und der Alte hat dann ganz von selbst den Geist aufgegeben. Dumm war nur, daß sie da noch den Diener an den Haaren herbeizogen. Das ist doch eine lächerliche Verdächtigung. Ich hätte an der Stelle des Verteidigers einfach gesagt: Er hat erschlagen, ist aber unschuldig, und damit hol euch der Teufel!“
„Das hat er ja auch getan, nur hat er das ‚hol euch der Teufel‘ nicht laut hinzugefügt.“
„Nein, Michael Ssemjonytsch, beinahe hat er es hinzugefügt ...“ griff eine dritte hohe Stimme auf.
„Aber, hören Sie doch, meine Herren, man hat doch vorige Ostern die Schauspielerin freigesprochen, die der Ehefrau ihres Geliebten die Kehle durchgeschnitten hatte!“
„Sie hatte nicht ganz durchgeschnitten.“
„Das bleibt sich gleich, sie hatte schon angefangen zu schneiden!“
„Und was er da von den Kindern sagte? Großartig!“
„Großartig!“
„Ja, nichts zu sagen, das hat er gut gemacht.“
„Und dann das von der Mystik, von der Mystik, was? – das war doch!“
„Ach, lassen Sie doch die Mystik Mystik sein,“ unterbrach ihn ein anderer, „versuchen Sie mal lieber, sich in die Lage unseres Hippolyt zu versetzen, stellen Sie sich bloß mal das Leben vor, das ihn von heute ab erwartet! Morgen wird ihm ja seine Frau wegen Mitjenka die Augen auskratzen.“
„Ist sie hier?“
„Was hier! Wäre sie hier, so würde sie sie ihm schon ausgekratzt haben! Nein, mein Lieber, die sitzt zu Hause und hat glücklich Zahnweh. He – he – he!“
„Ha – ha – ha!“
In einer anderen Gruppe:
„Der Mitjenka wird ja, wie’s scheint, wahrhaftig freigesprochen werden.“
„Und die Folge davon wird sein, daß er morgen unsere ganze ‚Hauptstadt‘ auf den Kopf stellt und dann wieder mal zehn Tage lang durchgeht.“
„Tja, weiß der Teufel noch eins!“ meinte der andere kopfschüttelnd.
„Ja, Teufel hin und Teufel her, ohne Teufel geht’s nicht mehr, – ‚wo soll er denn sein, wenn er nicht hier ist?‘“
„Meine Herren, nun gut, sagen wir: Redekunst! Aber man kann doch faktisch nicht den Vätern die Köpfe einschlagen! Wie weit käme man denn damit?“
„Der Triumphwagen, der Triumphwagen, wissen Sie noch?“
„Ja, der machte aus ’nem Schlitten sofort ’nen Triumphwagen.“
„Und morgen aus einem Triumphwagen einen Schlitten – ‚je nach Bedarf, immer nach Bedarf‘.“
„Ja, heutzutage machen alles nur noch die Gewandten. Meine Herren, gibt es überhaupt noch Wahrheit und Recht in Rußland, oder gibt es sie nicht mehr?“
Da ertönte die Glocke. Die Geschworenen hatten sich genau eine Stunde beraten, nicht mehr und nicht weniger. Tiefes Schweigen trat ein, kaum, daß das Publikum sich gesetzt hatte. Ich sehe die Szene noch vor mir, wie die Geschworenen wieder eintraten – nacheinander. Endlich! Die einzelnen Fragen übergehe ich, und ich habe sie auch vergessen. Sie wurden punktweise vorgelegt. Ich erinnere mich nur noch der Antwort auf die erste und wichtigste Frage des Vorsitzenden: „Hat er vorsätzlich um des Raubes willen erschlagen?“ (oder so ungefähr, den genauen Wortlaut habe ich vergessen). Der ganze Saal schien wie erstorben zu sein. Da trat der Obmann der Geschworenen, der übrigens der jüngste von ihnen war, vor und sagte, laut und deutlich, bei der Totenstille des ganzen Saales:
„Ja. Er ist schuldig!“
Und darauf Punkt für Punkt dieselbe Antwort: Schuldig, schuldig, schuldig, und zwar ohne die geringste Milderung! Das hatte niemand erwartet! Selbst die Strengsten waren überzeugt gewesen, daß man doch wenigstens mildernde Umstände in Betracht ziehen werde. Die Totenstille des Saales dauerte immer noch an, buchstäblich, als wären alle erstarrt gewesen – sowohl diejenigen, welche die Verurteilung, wie diejenigen, welche die Freisprechung gewünscht hatten. Doch das war nur in den ersten Minuten. Dann erhob sich plötzlich ein furchtbares Chaos. Unter dem männlichen Publikum schienen viele sehr zufrieden zu sein. Einige rieben sich sogar die Hände, ohne ihre Freude zu verbergen. Die Unzufriedenen dagegen waren niedergedrückt, sie flüsterten untereinander, zuckten mit den Achseln, und schienen immer noch nicht recht zur Besinnung kommen zu können. Aber, o Gott, was geschah mit unseren Damen! Ich glaubte schon, es würde eine Revolution geben. Zuerst trauten sie ihren Ohren nicht. Dann aber hörte man von allen Seiten empörte Ausrufe: „Was soll das bedeuten? Was soll denn das heißen?“ Sie sprangen von ihren Plätzen auf. Wahrscheinlich glaubten sie, daß man alles sofort noch umändern und anders machen könne. Und in diesem Augenblick erhob sich plötzlich Mitjä und schrie noch einmal laut über den ganzen Saal hin, mit einer Stimme, die das Herz erzittern machte, und indem er die Hände vor sich ausstreckte:
„Ich schwöre es bei Gott und seinem furchtbaren Gerichte, am Blute meines Vaters bin ich unschuldig! Katjä, ich verzeihe dir! Brüder, Freunde, habt Mitleid mit der anderen! ...“
Er sprach nicht zu Ende: Er schluchzte mit lauter Stimme auf, mit einer Stimme, die an ihm ganz neu, ganz unerwartet, die weiß Gott woher gekommen war, mit einer Stimme, bei der einen das Grauen faßte. Und da hörten wir plötzlich von oben, aus der entferntesten Ecke des Chores, einen gellenden Schrei: Gruschenka hatte ihn ausgestoßen. Sie hatte schon früher die Leute angefleht, sie dorthin nach oben zu lassen, schon vor den Plaidoyers. Mitjä wurde hinausgeführt. Die Verlesung des Urteils wurde auf den nächsten Vormittag vertagt. Der ganze Saal erhob sich in erregter Hast. Ich entfernte mich und hörte den Menschen nicht mehr zu. Ich habe nur ein paar Ausrufe behalten, die ich auf der Treppe, beim Hinauseilen, auffing.
„Der kann jetzt seine zwanzig Jahre angeschmiedet Bergwerke riechen!“
„Mindestens.“
„Ja, unsere Bäuerlein haben ihren Mann gestanden.“
„Und haben unseren Mitjenka begraben!“