Er zählte erst zwanzig Jahre (sein Bruder Iwan war vierundzwanzig und der älteste Bruder Dmitrij achtundzwanzig Jahre alt). Vor allem möchte ich bemerken, daß dieser Jüngling durchaus kein Fanatiker war und, wenigstens meines Erachtens, auch kein Mystiker. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich in ihm einfach einen jugendlichen Menschenfreund sehe. Wenn er aber ins Kloster ging, so tat er das nur, weil das Klosterleben einen tiefen Eindruck auf ihn machte und ihm als Ideal eines Ausgangs seiner sich aus dem Dunkel des Bösen dieser Welt zum Licht der Liebe sehnenden Seele erschien. Und einen so tiefen Eindruck machte dieses Leben auf ihn wohl nur, weil er dort im Kloster einen so ungewöhnlichen Menschen antraf: unseren berühmten Staretz[4] Sossima, an den er sich sofort mit der ganzen großen ersten Liebe seines heißen, sehnsüchtigen Herzens hing. Übrigens will ich nicht bestreiten, daß er schon damals sehr sonderbar war; ja, er war es eigentlich schon seit seiner frühesten Kindheit. Als seine Mutter starb, hatte er kaum das vierte Jahr erreicht, und doch erinnerte er sich, wie ich schon erwähnte, ihres Gesichts, ihrer Liebkosungen, „ganz, als ob sie lebend vor mir stände“. Solche Erinnerungen kann man bekanntlich aus noch jüngeren Jahren haben, schon aus dem zweiten Lebensjahre, doch treten sie im späteren Leben nur wie helle Punkte aus der Dunkelheit hervor, wie ein hellgebliebenes Eckchen eines riesigen Bildes, das bis zur Unkenntlichkeit nachgedunkelt und verloschen ist – bis auf diesen einen begrenzten Fleck. So war es auch mit seiner Erinnerung. Er entsann sich eines stillen Sommerabends: durch das offene Fenster fallen die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne in das Zimmer und in die Ecke auf das Heiligenbild, vor dem das Lämpchen brennt (der schrägen Sonnenstrahlen erinnerte er sich am besten), vor dem Heiligenbild kniet seine Mutter, die „Klikuscha“, die hysterisch weint, schluchzt und Schmerzensschreie ausstößt; sie zieht ihn zu sich heran, umarmt ihn so fest, daß es ihm weh tut, und während sie die Muttergottes um Schutz für ihn anfleht, hebt sie ihn zum schimmernden Heiligenbild empor, als ob sie ihn unter den Schutz der Muttergottes stellen wollte ... und plötzlich kommt die Kinderfrau ins Zimmer hereingestürzt und reißt ihn ganz erschrocken aus den Händen der Mutter. Das war das Bild. Er erinnerte sich auch noch des Gesichtes der Mutter in jenem Augenblick; er sagte: „Es muß wie wahnsinnig, wie verzückt gewesen sein und doch wunderbar schön, wenigstens darnach zu urteilen, wie ich es noch vor mir sehe“. Doch liebte er es nicht, davon zu sprechen. Als Knabe, und auch späterhin als Jüngling, war er wenig mitteilsam und gar nicht gesprächig, doch war er es nicht etwa aus Schüchternheit, sondern aus ganz anderen Gründen, aus gleichsam unbewußten, innerlichen Empfindungen, die eigentlich nur ihn persönlich angingen und mit anderen Menschen nichts zu tun hatten, die aber für ihn so wichtig waren, daß er seine Umgebung darüber ganz zu vergessen schien. Doch er liebte die Menschen: er glaubte an sie sein ganzes Leben hindurch und doch hielt ihn niemand für beschränkt oder naiv. Es war etwas in ihm, was ihm die Menschen zu richten verbot, und ihm immer zuflüsterte, daß er nicht der Richter der Menschen sein, nicht das Verurteilen auf sich nehmen wolle und darum auch unter keiner Bedingung verurteilen werde. Es schien sogar, daß er alles zugab und nichts verurteilte, wenn er auch oftmals selbst schwer darunter litt. Ja, schließlich konnte ihn nichts und niemand mehr weder in Erstaunen setzen noch erschrecken, und das war eigentlich schon von seiner frühesten Jugend an der Fall. Als er mit zwanzig Jahren rein und keusch zu seinem Vater kam, in diese Höhle schmutzigen Lasters, entfernte er sich nur schweigend, wenn er es nicht mehr mit ansehen konnte; doch tat er das ohne den geringsten Ausdruck von Verachtung und Verurteilung, einerlei wessen. Sein Vater, der als ehemaliger Freischlucker gegen solche Beleidigungen ungemein feinfühlig und mißtrauisch war, und ihn denn auch sehr voreingenommen empfing („Er schweigt zu viel und denkt mir viel zu viel,“ sagte er), kam schon nach kurzer Zeit, nach kaum zwei Wochen, immer häufiger zu ihm, um ihn zu umarmen und zu küssen, allerdings mit trunkenen Tränen und in berauschter Rührseligkeit, doch ersichtlich auch, weil er ihn aufrichtig immer mehr lieb gewann, so, wie er vielleicht noch nie jemanden geliebt hatte.
Ja, alle Menschen liebten diesen Jüngling, überall brachte man ihm, wo er auch erschien, schon von Kindheit an sofort Liebe entgegen. Im Hause seines Wohltäters und Erziehers Jefim Petrowitsch Polenoff hatten ihn alle so lieb, daß man ihn wirklich wie einen leiblichen Sohn behandelte. Und doch kam er in dieses Haus in so jungen Jahren, daß es unmöglich ist anzunehmen, er habe durch Schlauheit oder die Kunst zu gefallen oder sich einzuschmeicheln, die allgemeine Liebe erworben. So trug er denn diese Gabe, in allen Liebe zu erwecken, ganz unbewußt in sich, sie lag sozusagen schon in seiner Natur. Dasselbe geschah mit ihm auch in der Schule, während man doch hätte glauben können, daß er gerade zu jenen Kindern gehörte, die in den Kameraden gewöhnlich Spott hervorrufen, nicht selten aber Mißtrauen und sogar Haß. Er war zum Beispiel immer nachdenklich und schien sich gern von allen abzusondern. Er liebte es schon von Kindheit an, sich in einen Winkel zurückzuziehen und Bücher zu lesen. Und doch liebten ihn auch seine Schulkameraden sogar so auffallend, daß man ihn tatsächlich während seiner ganzen Schulzeit den allgemeinen Liebling nennen konnte. Er war selten ausgelassen, selten auch nur lustig; aber ein jeder, der ihn ansah, wußte sofort, daß er nicht finster oder mürrisch war, sondern heiter und gutmütig. Unter seinen Altersgenossen suchte er nie sich hervorzutun. Vielleicht kam dies daher, daß er niemanden und nichts fürchtete, und doch begriffen die Knaben sofort, daß seine Unerschrockenheit keine Prahlerei sein konnte und er selbst nicht einmal wußte, daß er kühn und furchtlos war. Beleidigungen trug er nie nach. Es kam vor, daß er nach einer Stunde dem Beleidiger antwortete oder mit ihm selbst so heiter und zutraulich ein Gespräch begann, als ob niemals etwas zwischen ihnen vorgefallen wäre. Und nie hatte es dabei den Anschein, daß er absichtlich vergessen oder dem Beleidiger verzeihen wollte, sondern es geschah immer ganz harmlos von ihm, als ob er es gar nicht für eine Beleidigung gehalten hätte – und das war es, was die Kinder bestrickte und sie ihm unterwarf. Nur eine Eigenschaft hatte er, die in allen Klassen des Gymnasiums, von der niedrigsten bis zur höchsten, in den Kameraden immerwährend den Wunsch erweckte, ihn zu necken, nicht etwa aus Bosheit, sondern einfach, weil es ihnen Spaß machte. Das waren seine Scham und seine Keuschheit. Er konnte gewisse Worte und gewisse Gespräche über Frauen nicht ertragen. Diese „gewissen“ Worte und Gespräche sind zum Unglück in den Schulen unausrottbar. In der Seele und im Herzen reine Jungen, fast noch Kinder, lieben es zuweilen, in den Klassen unter sich und auch laut von solchen Sachen, Bildern und Vorstellungen zu sprechen, über die selbst einfache Soldaten nicht sprechen würden, denn Soldaten wissen und verstehen vieles nicht von dem, was ganz jungen Kindern unserer höheren Gesellschaft schon bekannt ist. Eine Sittenverderbnis kann man das nicht gut nennen, ein wirklicher innerer Zynismus ist es auch nicht, wohl aber ist es ein äußerer Zynismus, den man oft für vornehm, „schneidig“ und womöglich noch für nachahmungswürdig hält. Als man nun bemerkte, daß „Aljoschka Karamasoff“, wenn man „davon“ sprach, seine Finger in die Ohren steckte, so versammelte man sich um ihn und riß ihm mit Gewalt die Hände fort und schrie ihm dann Gemeinheiten in beide Ohren: er jedoch riß sich los, wälzte sich auf dem Fußboden herum, versuchte sich zu verstecken und zu bedecken, ertrug aber, ohne ihnen ein Wort zu erwidern, ohne zu schreien, schweigend die Beleidigung. Zu guter Letzt ließen sie ihn denn auch in Ruh und neckten ihn nicht mehr als „das Mädchen“, sahen aber in der Beziehung doch mit Bedauern auf ihn herab. Als Schüler war er einer von den besseren, doch niemals war er der erste.
Als Polenoff starb, blieb Aljoscha noch zwei Jahre im Kreisgymnasium. Die untröstliche Gemahlin Jefim Petrowitschs begab sich sofort nach seinem Tode, und zwar auf lange Zeit, mit ihrer ganzen Familie, die nur aus Wesen weiblichen Geschlechts bestand, nach Italien. Aljoscha kam zu zwei Damen, die er früher niemals gesehen hatte, zu entfernten Verwandten Jefim Petrowitschs; unter welchen Bedingungen, das wußte er selbst nicht. Charakteristisch, und das sogar im höchsten Grade, war diese eine Eigenschaft an ihm, daß er sich niemals darum bekümmerte, auf wessen Kosten er lebte. Darin war er der größte Gegensatz seines älteren Bruders Iwan Fedorowitsch, der die zwei ersten Jahre auf der Universität Not litt und sich durch seine eigene Arbeit ernährte, und es von Kindheit an immer bitter empfunden hatte, daß er auf fremde Kosten, auf die seines Wohltäters, leben mußte. Diese sonderbare Charaktereigenschaft Aljoschas konnte man indessen nicht streng verurteilen, denn ein jeder, der ihn nur etwas näher kennen lernte, überzeugte sich alsbald, daß Aljoscha in der Beziehung zu dem Typ der gleichsam einfältigen Jünglinge gehörte, die, wenn man ihnen ein ganzes Kapital gäbe, es bei der ersten Gelegenheit fortgeben würden, sei es zu einem guten Zweck oder einfach einem gewandten Menschen, wenn er sie darum bäte. Ja, und überhaupt kannte er nicht den Wert des Geldes – versteht sich, nicht im buchstäblichen Sinne gesprochen. Aber wenn man ihm Taschengeld gab, um das er niemals selbst bat, so wußte er wochenlang nicht, was er mit ihm anfangen sollte, oder er gab es sofort, und ohne zu berechnen, aus. Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, ein Mensch, der in Geldsachen und bourgeoisen Ehrbegriffen sehr empfindlich war, sprach über Alexei einmal folgenden Aphorismus aus: „Er ist vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der, wenn man ihn plötzlich allein und ohne Geld auf einem Platze einer ihm unbekannten Millionenstadt ließe, weder verloren gehen würde, noch vor Kälte oder Hunger sterben, denn man würde ihm sofort zu essen geben, ihm sofort alles verschaffen, ohne daß er sich auch nur anzustrengen brauchte oder sich erniedrigen müßte, und ohne daß er dem Gönner zur Last fiele, im Gegenteil, man würde es sich noch zur Ehre anrechnen.“
Das Gymnasium beendete er nicht; er hatte noch ein ganzes Jahr vor sich, als er plötzlich seinen Damen erklärte, daß er wegen einer Sache, die sich in seinem Kopf festgesetzt hatte, zu seinem Vater fahren müsse. Die Damen waren sehr betrübt und erschrocken darüber und wollten es ihm zuerst nicht gestatten. Die Fahrt kostete nicht viel, doch die Damen erlaubten ihm nicht, seine Uhr zu dem Zwecke zu versetzen – ein Geschenk, das er zur Erinnerung von der Familie seines Wohltäters erhalten hatte, als diese ins Ausland abgereist war – und statteten ihn selbst nicht nur mit reichen Mitteln, sondern auch noch mit neuen Kleidern und guter Wäsche aus. Er gab ihnen aber die Hälfte des Geldes zurück und erklärte ihnen, daß er durchaus in der dritten Klasse fahren wolle. Als er dann in unserem Städtchen ankam, antwortete er auf die ersten Fragen seines Vaters: „Warum hast du dich denn hierher begeben, ohne deinen Kursus beendet zu haben?“ einfach überhaupt nichts, sondern war, wie man sich allgemein erzählte, in sich gekehrt und nachdenklich. Bald darauf brachte man heraus, daß er das Grab seiner Mutter suchte. Er sagte später sogar selbst, daß er nur darum gekommen sei. Aber es ist wohl kaum anzunehmen, daß dies allein der Grund seiner Reise war. Viel wahrscheinlicher ist, daß er sich damals selbst nicht erklären konnte, was er wollte: irgend etwas hatte sich in seiner Brust erhoben, etwas, das ihn schon auf einen neuen, unbekannten und unvermeidlichen Weg zog. Fedor Pawlowitsch konnte ihm übrigens den Platz, wo er seine zweite Frau begraben hatte, nicht zeigen, da er nach der Beerdigung niemals mehr an ihrem Grabe gewesen war, und daher im Laufe der Jahre ganz vergessen hatte, wo sie eigentlich beerdigt lag ...
Noch ein Wort über Fedor Pawlowitsch. Er hatte längere Zeit über nicht in unserem Städtchen gelebt. Im dritten oder vierten Jahre nach dem Tode seiner Frau war er in den Süden Rußlands gereist und zu guter Letzt in Odessa angekommen, wo er einige Jahre verlebte. Nach seinen eigenen Worten hatte er sich dort mit vielen „Juden und Jüdchen der verschiedensten Sorten“ angefreundet, und war zum Schluß sogar „bei richtigen Hebräern“ empfangen worden. Es ist wohl anzunehmen, daß er in dieser Periode seines Lebens die besondere Kunst entwickelt hatte, aus allem Geld herauszuschlagen und so sein Kapital beträchtlich zu vergrößern. Er kehrte erst drei Jahre vor der Ankunft Aljoschas endgültig in unser Städtchen zurück. Seine früheren Bekannten fanden ihn sehr gealtert, obgleich er noch längst kein Greis war; auch hielt er sich nicht etwa anständiger, sondern womöglich noch unanständiger. Vor allem tat sich in dem alten Narren das Bedürfnis kund, jetzt auch andere zu Narren zu machen. Mit Frauen verkehrte er nicht nur wie früher, sondern tat es noch gemeiner, noch widerlicher. In kurzer Zeit gründete er viele neue Schenken in unserem Gouvernement. Es war klar, daß er mindestens hunderttausend Rubel Kapital besitzen mußte. Viele von den Stadteinwohnern, aber auch viele vom Lande, wurden denn auch alsbald seine Schuldner, doch natürlich nur unter den sichersten Garantieen. Äußerlich veränderte er sich in der letzten Zeit ganz ansehnlich: er bekam etwas Aufgedunsenes, das er früher nicht gehabt hatte, schien sich auch von seinen Handlungen nicht mehr Rechenschaft ablegen zu können, bekundete einen gewissen Leichtsinn, begann mit dem einen und endete mit etwas ganz anderem, wurde auffallend unruhig und betrank sich immer öfter, und wenn ihn nicht zuweilen sein treuer Diener Grigorij, der in der Zwischenzeit gleichfalls recht gealtert war, fast wie seinen Zögling bewacht und beschützt hätte, so würde er sich vielleicht durch seine Lebensweise ernste Unannehmlichkeiten zugezogen haben. Die Ankunft Aljoschas machte aber in moralischer Beziehung doch einen gewissen Eindruck auf ihn: es schien, als ob in diesem verderbten Alten etwas von dem wiedererwachte, was in seiner Seele schon längst verstummt war.
„Weißt du auch, Alexei,“ sagte er oftmals, wenn er ihn betrachtete, „daß du ihr sehr ähnlich bist, ich meine der Klikuscha?“ So nannte er stets seine verstorbene Frau, die Mutter Iwans und Aljoschas. Das Grab der „Klikuscha“ zeigte dem Jungen schließlich der Diener Grigorij. Er führte ihn auf unseren Friedhof, und dort zeigte er ihm in einer entlegenen Ecke eine kleine, nicht gerade teuere, doch immerhin sauber gearbeitete gußeiserne Platte, auf der sogar eine Inschrift stand: der Name, das Geburts- und Todesjahr der Verstorbenen, und darunter war noch ein vierstrophiger Spruch eingraviert, einer von den allgemein gebräuchlichen auf den Gräbern des Mittelstandes. Diese Platte erwies sich zu Aljoschas nicht geringer Verwunderung als ein Liebeswerk Grigorijs. Er hatte sie selbst auf dem Grabe der armen „Klikuscha“ errichten lassen, auf seine Kosten, nachdem Fedor Pawlowitsch, den er mehrmals mit der Erinnerung an dieses Grab geärgert hatte, schließlich nach Odessa gefahren war und hinfort nicht nur von Gräbern, sondern auch von allem Gewesenen nichts mehr wissen wollte. Aljoscha äußerte am kleinen Grabe seiner Mutter keinerlei besondere Rührung; er hörte nur der wichtig und ernst vorgetragenen Erzählung Grigorijs von der Errichtung der Grabplatte zu, stand mit gesenktem Kopf, und sprach die ganze Zeit über kein Wort. Seit jenem Tage war er vielleicht im ganzen Jahr kein einziges Mal wieder auf den Kirchhof gegangen. Doch auf Fedor Pawlowitsch machte auch diese kleine Episode einen gewissen Eindruck, was sich in einer sehr originellen Weise äußerte. Er nahm plötzlich tausend Rubel und brachte dieses Tausend in unser Kloster, um Seelenmessen für seine verstorbene Frau lesen zu lassen, doch nicht für die zweite, die Mutter Aljoschas, die „Klikuscha“, sondern für die erste, Adelaida Iwanowna, die ihn geprügelt hatte. Am Abend dieses Tages betrank er sich, und schimpfte dann in Aljoschas Gegenwart gewaltig über die Mönche. Selbst war er nichts weniger als ein religiöser Mensch; er hatte vielleicht kein einziges Mal im Leben ein Fünfkopekenlicht vor ein Heiligenbild gestellt. Aber gerade solche Burschen können zuweilen ganz sonderbare Ausbrüche plötzlicher Gefühle und plötzlicher Gedanken haben.
Ich sagte schon, daß sein Gesicht aufgedunsen war. Seine Züge drückten damals etwas aus, das scharf die Charakteristik und das Wesentliche seines durchlebten Lebens kennzeichnete. Außer den langen und fleischigen Säcken unter seinen kleinen, ewig unverschämten, mißtrauischen und spöttischen Äuglein, außer einer Menge kleiner, tiefer Runzeln in seinem kleinen, doch fetten Gesicht, hing sich an sein spitzes Kinn noch ein großes, fleischiges und sackartig längliches Doppelkinn, das ihm ein ganz besonders widerlich-lüsternes Aussehen verlieh. Hinzu füge man jetzt noch einen großen, sinnlichen Mund mit fleischigen Lippen, hinter denen man die kleinen Stummel schwarz gewordener, fast verfaulter Zähne sah. Wenn er zu sprechen begann, spritzte jedesmal Speichel von seinen Lippen. Übrigens liebte er selbst, über sein Gesicht zu scherzen, obgleich er, wie es schien, ganz zufrieden mit ihm war. Besonders wies er auf seine Nase hin, die nicht sehr groß, doch sehr schmal und stark gebogen war: „Echt römisch,“ pflegte er zu sagen, „zusammen mit dem Doppelkinn die echte Physiognomie eines alten römischen Patriziers aus der Verfallszeit.“ Darauf, glaube ich, war er sogar ziemlich stolz.
Eines Tages nun, bald nachdem Aljoscha das Grab seiner Mutter besucht hatte, erklärte dieser plötzlich seinem Vater, daß er in das Kloster eintreten wolle, und daß die Mönche bereit seien, ihn als Novizen aufzunehmen. Er fügte noch hinzu, daß es sein heißer Wunsch sei, und daß er jetzt von ihm, seinem Vater, die feierliche Erlaubnis dazu erbäte. Der Alte wußte schon, daß der Staretz Sossima, der in der Einsiedelei des Klosters lebte, auf seinen „sanften, stillen Jungen“ einen tiefen Eindruck gemacht hatte.
„Dieser Staretz ist bei ihnen noch der ehrlichste von allen,“ brummte er vor sich hin, nachdem er Aljoschas Bitte, über die er sich weiter gar nicht wunderte, angehört hatte. „Hm ... sieh mal einer an, wohin du willst ... Also dorthin willst du, mein sanfter Junge!“ Er war halbtrunken, und plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einem langen, stumpfen Grinsen, das aber doch nicht einer gewissen Schlauheit und Hinterlist entbehrte: „Hm ... weißt du, ich ahnte es ja, daß du gerade mit irgend so etwas enden würdest, kannst du dir das vorstellen? Gerade darauf hattest du’s doch abgesehen. Nun, was, meinetwegen ... Du hast doch deine Zweitausend, das wäre denn die Aussteuer. Ich aber werde dich, mein Liebling, nie verlassen, und auch jetzt werde ich dir alles geben, was du zum Eintritt nötig hast, wenn sie’s verlangen. Nun, und wenn sie’s nicht verlangen, warum dann aufdrängen, nicht wahr? Geld gibst du ja nur wie’n Kanarienvogel aus, kaum zwei Körnchen in einer Woche ... Hm ... weißt du, bei einem bekannten Kloster gibt’s so eine kleine Vorstadt, und alle wissen dort schon, daß in ihr nur die ‚Klosterweiber‘ leben, so werden sie dort allgemein genannt, etwa dreißig an der Zahl, glaube ich ... Ich war dort mal, nicht uninteressant, natürlich in ihrer Art, so als Abwechslung einmal. Gemein war nur der furchtbare Russizismus, nicht eine einzige Französin war dabei, könnten aber sein, denn die Mittel sind bedeutend. Nun, werden’s schon bald riechen und angeflogen kommen. Hier aber, alle Achtung, hier gibt’s keine Klosterweiber, Mönche an zweihundert Stück. Alle ehrsam, nichts zu sagen. Fasten bloß. Ich muß gestehen ... Hm! Also du willst zu den Mönchen gehen? Aber du tust mir doch leid, Aljoscha, wirklich, glaub mir, ich habe dich liebgewonnen! ... Übrigens, das wäre eine günstige Gelegenheit: Du kannst dort auch für uns Sünder beten, haben wir doch hier schon gar zu viel gesündigt. Ich habe immer daran gedacht: wer wird einmal für mich beten? Gibt es in der Welt auch nur einen einzigen Menschen, der für mich beten wird? Du mein lieber Junge, ich bin doch in dieser Beziehung ganz furchtbar dumm, du glaubst es nicht, wie dumm! Ganz furchtbar. Siehst du: wie dumm ich aber nun auch bin, an dieses denke ich doch ununterbrochen, ununterbrochen, d. h. versteht sich, so mitunter, aber ich denke doch immerhin daran! Es kann doch nicht sein, denke ich, daß die Teufel vergessen sollten, mich mit Ofenkrücken oder spitzen Haken zu sich hinabzuziehen, wenn ich gestorben bin? Nun, und da denke ich denn so: Haken? Woher nehmen sie die? Schön, – Haken! – aber was für welche? Etwa eiserne? Wo werden sie denn dort geschmiedet? Oder haben sie dort womöglich so ’ne ganze Fabrik? Im Kloster glauben doch die Mönche sicherlich, daß es in der Hölle, zum Beispiel, einen Plafond, eine Decke gibt. Ich aber, siehst du, bin bereit, an die Hölle zu glauben, nur muß sie ohne Decke sein; das ist gewissermaßen delikater, aufgeklärter – das heißt lutherischer. Im Grunde aber sollte man meinen, – ist’s denn nicht einerlei: mit ’ner Decke oder ohne Decke? Das aber ist ja die verflixte Frage! Nun, sage doch selbst: wenn es keine Decke gibt, so gibt es folglich auch keine Haken. Gibt’s aber keine Haken, so geht ja die ganze Hölle flöten, dann ist ja das Ganze nur ’ne Fabel; also – wiederum unwahrscheinlich: wer wird mich dann noch mit Ofengabeln hinunterziehen, denn wenn man nicht einmal mich hinunterzieht, wer soll dann überhaupt noch gezogen werden, und wo ist dann die Gerechtigkeit in der Welt? Il faudrait les inventer, diese Ofengabeln, speziell für mich, für mich allein, denn, ach Aljoscha! – wenn du wüßtest, was ich für ein Schandkerl bin! ...“
„Aber dort gibt es doch gar keine Ofengabeln,“ sagte still und ruhig Aljoscha, der ernst den Vater betrachtete.
„Stimmt, nur Schatten von Ofengabeln. Ich weiß, ich weiß. Das ist, wie ein Franzose die Hölle beschreibt: J’ai vu l’ombre d’un cocher qui avec l’ombre d’une brosse frottait l’ombre d’une carrosse. Aber woher weißt du denn, mein Täubchen, daß es dort keine Ofengabeln gibt? Bleib mal erst ein bißchen bei den Mönchen, dann wirst du schon was andres anstimmen, wirst piepen, wie die Alten singen. Doch, übrigens, gehe hin, wenn du willst, trachte, bis zur Wahrheit vorzudringen und komm dann her erzählen: es wird doch immerhin leichter sein, ins Jenseits abzugehen, wenn man genau weiß, wie’s dort eigentlich zugeht. Und dort bei den Mönchen ist’s auch anständiger für dich als hier bei mir, dem alten Trinker und den Mädels ... wenn auch dich, wie einen Engel, nichts berührt. Nun, vielleicht wird dich auch dort nichts berühren, nur darum erlaube ich dir alles, weil ich eben darauf hoffe. Deinen Verstand hat doch nicht der Teufel aufgefressen. Wirst entflammen und erlöschen, gesund werden und zurückkommen. Ich aber werde dich erwarten. Fühle ich doch, daß du der einzige Mensch auf der ganzen Welt bist, der mich nicht verurteilt hat, du mein lieber Junge, das fühle ich doch, wie soll ich denn das nicht fühlen! ...“
Und er fing sogar an zu flennen. Er war ein sentimentaler Mensch. Er war gemein und sentimental zugleich.