V. Die Startzen

Vielleicht werden meine Leser denken, Aljoscha Karamasoff sei ein kränklicher, ekstatischer, dürftig entwickelter Jüngling gewesen, ein bleicher Träumer, ein blutarmer, kraft- und saftloser Mensch. Im Gegenteil: Aljoscha war schon ein stattlicher, neunzehnjähriger junger Mann mit einem hellen, offenen Blick und strotzte fast vor Gesundheit. Er war sogar sehr hübsch, prächtig gewachsen, dabei von mittelhohem Wuchs, dunkelblond, das Gesicht von einem regelmäßigen, etwas länglichen Oval, in dem die glänzenden, dunkelgrauen Augen weit auseinanderstanden, war sehr nachdenklich und – wenigstens schien es so – sehr ruhig. Man wird vielleicht sagen, daß rote Wangen weder Fanatismus noch Mystizismus ausschließen; ich aber glaube, daß Aljoscha mehr als sonst jemand Realist war. O, versteht sich, im Kloster glaubte er vollkommen an Wunder, doch meiner Meinung nach machen Wunder einen Realisten niemals irre. Nicht die Wunder führen den Realisten zum Glauben. Wenn der echte Realist ungläubig ist, wird er immer die Kraft und die Fähigkeit in sich finden, dem Wunder nicht zu glauben, wenn aber das Wunder vor ihm zur unabweisbaren Tatsache wird, so wird er eher seinen Sinnen nicht trauen, als daß er die Tatsache zugäbe. Oder gibt er sie auch einmal zu, so wird er sie doch nur als ganz natürlichen Vorgang zugeben, der ihm nur bis dahin noch unbekannt war. Im Realisten wird der Glaube nicht durch das Wunder hervorgerufen, sondern das Wunder durch den Glauben. Wenn der Realist einmal glaubt, so muß er gerade infolge seines Realismus unbedingt auch das Wunder zugeben. Der Apostel Thomas sagte, daß er nicht eher glauben werde, als bis er selbst sähe, als er aber sah, da rief er: „Mein Herr und mein Gott!“ Machte ihn das Wunder glauben? Wahrscheinlich nicht, sondern er glaubte ausschließlich darum, weil er glauben wollte, und vielleicht glaubte er in seinem Innersten schon damals vollkommen, als er sagte, er werde nicht eher glauben, als bis er selbst sähe.

Oder vielleicht wird man sagen, Aljoscha sei stumpf gewesen, unentwickelt, habe das Gymnasium nicht beendet usw. Letzteres ist allerdings wahr, doch wäre es eine große Ungerechtigkeit, zu sagen, daß er dumm gewesen sei. Ich wiederhole, was ich schon einmal gesagt habe: Der einzige Grund, warum er diesen Weg einschlug, war der, daß nur dieser Weg allein auf ihn damals einen tiefen Eindruck machte und ihm mit einemmal das ganze Ideal der Erlösung seiner leidenschaftlich aus der Finsternis zum Licht strebenden Seele zeigte. Jetzt bedenke man noch, daß er seinem Alter nach teilweise schon unserer neuen Zeit angehörte, also schon von Natur ehrlich war, nach Wahrheit verlangte, sie suchte, an sie glaubte und mit der ganzen Kraft seiner Seele der Wahrheit unmittelbar teilhaftig werden wollte, sich nach einer Heldentat sehnte, und zwar mit dem bedingungslosen Wunsch, für diese Tat womöglich alles, selbst das Leben zu opfern. Nur sehen es diese Jünglinge leider nicht ein, daß das Opfer des Lebens in den meisten Fällen vielleicht das leichteste von allen Opfern ist, und daß, zum Beispiel, von seinem in Jugend schäumenden Leben fünf oder sechs Jahre schwerem, mühsamem Studium der Wissenschaft zu opfern – und wenn auch nur, um in sich die Kraft zur Förderung dieser selben Wahrheit und zur Ausführung derselben Heldentat, für die man schwärmt, und die zu erfüllen man sich vorgenommen hat, zu verzehnfachen – daß solch ein Opfer vielen von ihnen weit über ihre Kräfte geht. Aljoscha erwählte bloß den Weg, der allen anderen entgegengesetzt war, doch tat er es mit demselben heißen Verlangen nach einer schnellen Heldentat. Kaum war er in ernstem Nachdenken von der Überzeugung, daß es Unsterblichkeit und Gott gibt, ergriffen worden, als er sich natürlicherweise sofort sagte: „Ich will für die Unsterblichkeit leben, auf einen Kompromiß aber gehe ich nicht ein.“ Ebenso wäre er, wenn er sich überzeugt hätte, daß es Unsterblichkeit und Gott nicht gibt, sofort zu den Atheisten und Sozialisten übergegangen (denn der Sozialismus ist nicht nur eine Arbeiterfrage oder eine Frage des sog. vierten Standes, sondern hauptsächlich eine atheistische Frage, die Frage der gegenwärtigen Inkarnation des Atheismus, die Frage des „Turmes zu Babel“, der gerade ohne Gott gebaut wird, nicht zur Erreichung des Himmels von der Erde aus, sondern zur Niederführung des Himmels auf die Erde). Es schien Aljoscha sogar sonderbar und unmöglich, so weiter zu leben. Es steht geschrieben: „Verteile dein Gut und folge mir nach, wenn du vollkommen sein willst.“ Und so sagte sich denn auch Aljoscha: „Ich kann doch nicht an Stelle meines ganzen Gutes nur zwei Rubel geben, und anstatt des ‚folge mir nach‘ nur zur Kirche gehen.“ Von den Eindrücken seiner Kinderjahre erinnerte er sich vielleicht noch einiger aus unserem Kloster, wohin ihn die Mutter oftmals mitgenommen hatte. Vielleicht waren auch die schrägen Strahlen der Abendsonne, die auf das schimmernde Heiligenbild fielen, als ihn seine Mutter, die Klikuscha, zu jenem hingehalten hatte, auf ewig in seine Seele gefallen. Nachdenklich und still war er damals, als er herkam, vielleicht nur, um zu sehen: Ist hier alles, oder sind auch hier nur zwei Rubel? – Da traf er im Kloster diesen Staretz ...

Dieser Staretz war, wie ich schon früher sagte, der Staretz Sossima. Doch hier sehe ich mich gezwungen, zunächst ein wenig zu erläutern, wer und was diese „Startzen“ in unseren Klöstern eigentlich sind. Es tut mir nur leid, daß ich mich in dieser Frage nicht ganz maßgebend fühle; ich werde mich daher mit einer kurzen, mehr oberflächlichen Erklärung begnügen. Viele Sachkundige behaupten, daß das Startzentum bei uns in unseren russischen Klöstern erst seit sehr kurzer Zeit eingeführt sei, kaum seit hundert Jahren, während es im ganzen orthodoxen Osten, besonders auf dem Sinai und dem Athos, schon seit mehr denn tausend Jahren vorkomme. Es wird zwar behauptet, daß das Startzentum auch bei uns früher, schon in den ältesten Zeiten, bestanden habe, dann aber infolge der vielen Heimsuchungen Rußlands, infolge des Tatarenjochs, der inneren Unruhen, der Unterbrechung unserer früheren Verbindungen mit dem Westen und schließlich der Eroberung Konstantinopels durch die Türken vergessen worden sei. Aufgekommen aber wäre es jetzt wieder seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts durch einen der großen Eiferer, Paissij Welitschkowskij und seine Schüler, doch ist es noch heute, also selbst nach fast hundert Jahren, nur in sehr wenigen Klöstern eingeführt, und nicht selten ist es sogar als in Rußland unerhörte Neuerung nahezu Verfolgungen ausgesetzt gewesen. Zu besonderer Blüte kam es bei uns in Rußland in der berühmten Einsiedelei der Koselskischen Optina. Wann und durch wen es auch in unserem, ganz nahe bei der Stadt gelegenen Kloster eingeführt worden ist, weiß ich nicht; doch sind dort schon drei Startzen gewesen, von denen der Staretz Sossima der dritte und der letzte Nachfolger war. Auch er siechte schon in Krankheit und Schwäche dahin. Durch wen man ihn aber ersetzen sollte, das wußte man noch nicht einmal. Für unser Kloster war das eine wichtige Frage, da es sich bis dahin eigentlich noch durch nichts ausgezeichnet hatte: Es gab in ihm weder Gebeine Heiliger noch „wunderbar erschienene,[5] wundertätige Heiligenbilder“, und nicht einmal alte Sagen, die es mit unserer Geschichte verknüpft oder von ihm Großes, um das Vaterland Verdienstvolles zu berichten gewußt hätten. Aufgeblüht aber und in ganz Rußland bekannt geworden war es gerade durch seine Startzen, die zu sehen und zu hören Pilger in Scharen von weitem herkamen und oft Tausende von Werst zu Fuß zurücklegten. Doch was ist nun solch ein Staretz? Der Staretz ist einer, der eines Menschen Seele und Willen in seine Seele und seinen Willen aufnimmt. Wenn man einen Staretz gewählt hat, sagt man sich von dem eigenen Willen los und gibt ihn dem Staretz zu vollem Gehorsam mit vollständiger Selbstverleugnung. Diese Prüfung, diese furchtbare Lebensüberwindung nimmt der sich dem Staretz Ergebende freiwillig auf sich: in der Hoffnung, nach langer Prüfung sich selbst überwinden zu können, sich seiner selbst dermaßen zu bemächtigen, daß er endlich durch lebenslänglichen Gehorsam die volle Freiheit erlange, – das heißt, um vor sich selbst frei zu sein, auf daß er dem Los derer entgehe, die das ganze Leben verleben und doch ewig ihr eigener Knecht bleiben. Diese Einrichtung, ich meine das Startzentum, ist nicht theoretisch entstanden, sondern hat sich im Osten aus der Praxis ergeben und ist heutzutage schon tausendjährig. Die Verpflichtungen dem Staretz gegenüber sind nicht etwa der gewöhnliche „Gehorsam“ (oder „Dienst“), der in unseren russischen Klöstern seit jeher üblich ist; nein, hier handelt es sich um die ewige Beichte aller sich dem Staretz Ergebenden und die unlösbare Verbindung zwischen dem Gebundenen und dem Bindenden. Man erzählt sich zum Beispiel, daß einmal in den ältesten Zeiten des Christentums ein derart Gebundener eine Buße, die ihm von seinem Staretz auferlegt worden war, nicht erfüllt und das Kloster verlassen hatte, und in ein anderes Land, ich glaube aus Syrien nach Ägypten, gezogen war. Dort hatte er lange Zeit Großes vollbracht, und schließlich war er für seinen Glauben den Märtyrertod gestorben. Als aber die Kirche ihn, den sie fast schon als Heiligen ehrte, bestatten wollte, da war der Sarg plötzlich bei den Worten des Diakonus: „Katechumenen, geht hinaus“, mit der in ihm liegenden Leiche des Märtyrers von der Stelle gerückt und zur Kirche hinausgeworfen worden, und also war es dreimal geschehen. Erst später hatte man erfahren, daß der heilige Dulder den Gehorsam gebrochen und seinen Staretz verlassen hatte, und darum konnte ihm ohne die Erlaubnis dieses Staretz, selbst trotz seiner großen Taten, nicht verziehen werden. Und seine Bestattung konnte erst stattfinden, als sein Staretz ihn der Buße enthoben hatte. Natürlich ist das nur eine alte Legende, doch will ich noch eine andere Begebenheit aus unserer Zeit erzählen: Einer unserer zeitgenössischen Mönche hatte sich in das Kloster des Athos zurückgezogen, und plötzlich befiehlt ihm sein Staretz, Athos zu verlassen – Athos, das er bis in die tiefste Tiefe seiner Seele in Liebe eingeschlossen hatte! – und zuerst nach Jerusalem und dann zurück nach Rußland, in den Norden, nach Sibirien zu gehen: „Dort ist dein Platz, nicht hier.“ Der erschrockene und vor Leid niedergedrückte Mönch ging nach Konstantinopel zum Ökumenischen Patriarchen und flehte ihn an, ihn des Gehorsams zu entbinden; da aber antwortete ihm der Ökumenische Machthaber, daß nicht nur er, der Ökumenische Patriarch, ihn nicht befreien könne, sondern daß es auf der ganzen Erde keine Macht gäbe, die ihn von dem, was ihm einmal sein Staretz auferlegt hätte, entbinden könnte, abgesehen natürlich von dem Staretz selbst. So haben denn die Startzen in gewissen Fällen eine grenzenlose und unvergleichliche Macht. Das ist auch der Grund, warum bei uns das Startzentum in vielen Klöstern auf solche Feindseligkeit stieß. Indessen aber wurden die Startzen im Volk alsbald sehr geachtet und verehrt. Zu den Startzen unseres Klosters kamen sowohl die einfachsten als die vornehmsten Leute, um ihnen kniend ihre Zweifel, Sünden und Leiden zu beichten und sie um Rat und Leitung zu bitten. Dagegen führten dann die Gegner der Startzen unter anderen Beschuldigungen aus, daß hierbei das Mysterium der Beichte eigenmächtig und leichtsinnig profaniert werde – obgleich in diesem Falle das ununterbrochene Beichten des sich ihm ergebenden Klosterbruders oder Weltlichen keineswegs als Mysterium aufgefaßt wurde. Es endete schließlich damit, daß das Startzentum sich doch behauptete und allmählich in den Klöstern verbreitete. Allerdings ist auch das wahr, daß dieses erprobte und schon tausendjährige Mittel zur sittlichen Auferstehung des Menschen von der Sklaverei zur Freiheit und zur moralischen Vervollkommnung sich in ein zweischneidiges Schwert verwandeln kann, so daß es manchen vielleicht, statt zur Demut und endgültigen Selbstüberwindung, zu satanischem Stolz, also zu Ketten, nicht aber zur Freiheit führt.

Der Staretz Sossima war fünfundsechzig Jahre alt; er stammte aus einer Gutsbesitzerfamilie, war als Junge Kadett gewesen und hatte im Kaukasus als Oberleutnant gedient. Zweifellos hatte er auf Aljoscha durch irgendeine ganz besondere Eigenschaft seiner Seele einen so tiefen Eindruck gemacht. Aljoscha lebte in seiner unmittelbaren Nähe, in seiner Zelle, da der Staretz ihn sehr liebgewonnen hatte. Ich muß noch bemerken, daß Aljoscha, als er damals im Kloster lebte, noch durch nichts gebunden war, zu jeder Zeit aus dem Kloster gehen und ganze Tage lang fortbleiben konnte, und wenn er die Kutte trug, so geschah es von ihm freiwillig, um nicht unter den anderen im Kloster aufzufallen, und natürlich gefiel es ihm auch selbst, die Kutte zu tragen. Vielleicht wirkten auf seine jugendliche Phantasie auch die Macht und der Ruhm, die seinen Staretz ununterbrochen umgaben. Von dem Staretz Sossima sagte man, er hätte in all den Jahren dermaßen viel Geständnisse und Geheimnisse in seine Seele aufgenommen, daß er schließlich schon auf den ersten Blick in das Gesicht des Unbekannten erraten könne, womit jemand zu ihm kam, was er suchte, und sogar, welch eine Qual sein Gewissen peinigte, und ihn, noch bevor der Andere ein Wort gesprochen, durch diese Kenntnis seines Geheimnisses in Erstaunen setzte, verwirrte und nicht selten erschreckte. Dabei fiel es Aljoscha besonders auf, daß viele, wenn nicht alle, die das erstemal zum Staretz zu einem Gespräch unter vier Augen kamen, ängstlich und unruhig bei ihm eintraten, dafür aber beinahe immer heiter und glücklich wieder fortgingen, daß selbst das finsterste Gesicht sich in ein fröhliches verwandelte. Auch wunderte es ihn sehr, daß der Staretz keineswegs streng war; im Gegenteil, er war stets heiter. Die Mönche sagten von ihm, daß er mit seiner Seele am meisten an denen hinge, die sündiger wären, und den am meisten liebte, der am sündigsten war. Unter den Mönchen gab es selbst bis zu seinem Lebensende noch manche, die ihn haßten und beneideten, doch war ihre Zahl schon recht klein geworden, und auch sie schwiegen, obgleich zu ihnen sogar sehr bekannte und im Kloster hochangesehene Mönche gehörten, wie zum Beispiel einer der ältesten Einsiedler, Pater Ferapont, der ein großer Schweiger und außergewöhnlicher Faster war. Doch immerhin hielt schon die übergroße Mehrzahl unbedingt zum Staretz Sossima, und von ihnen liebten ihn viele von ganzem Herzen; einige aber hingen geradezu fanatisch an ihm. Letztere sagten sogar – übrigens sagten sie es doch nicht ganz laut –, daß er ein Heiliger sei, daß darüber kein Zweifel bestehen könne, und da sie seinen nahen Tod voraussahen, so erwarteten sie sogar Wunder und schon in nächster Zukunft von dem Verscheidenden großen Ruhm fürs Kloster. Auch Aljoscha glaubte widerspruchslos an die wundertätige Kraft des Staretz, ganz wie er widerspruchslos auch an die Geschichte von dem dreimal aus der Kirche hinausgeflogenen Sarge glaubte. Er sah es, wie viele, die mit kranken Kindern oder erwachsenen Kranken hinkamen und den Staretz baten, seine Hände auf sie zu legen und ein Gebet über ihnen zu sprechen, alsbald wiederkehrten – viele sogar schon am nächsten Tage – und weinend vor dem Staretz niederfielen, um ihm für die Heilung ihrer Kranken zu danken. War’s nun wirklich Heilung, oder war’s nur eine natürliche Erleichterung – das konnte für Aljoscha weiter keine Frage sein, denn er glaubte bedingungslos an die geistige Kraft seines Lehrers, dessen Ruhm für ihn gleichsam sein eigener Triumph war. Besonders jedoch erbebte sein Herz und verklärte sich sein ganzes Gesicht, wenn der Staretz zu dem Volke, das ihn an der Pforte der Einsiedelei erwartete, hinausging. Diese Pilger kamen von weit her, von allen Gauen Rußlands, um den Staretz zu sehen und seinen Segen zu empfangen. Sie knieten vor ihm nieder, weinten, küßten seine Füße, küßten die Erde, auf der er stand, und die Weiber hielten ihm ihre Kinder hin oder führten ihm eine kranke Klikuscha zu.

Der Staretz redete mit ihnen, sprach über ihnen ein kurzes Gebet und segnete sie dann. In der letzten Zeit war er durch seine Krankheit so schwach geworden, daß er nicht mehr die Zelle verlassen konnte, und dann warteten die Pilger im Kloster oft tagelang auf sein Erscheinen. Niemals fragte sich Aljoscha, warum das Volk den Staretz so liebte, warum die Leute vor ihm niederfielen und vor Rührung weinten, sobald sie nur sein Antlitz sahen. O, er begriff vorzüglich, daß es für die demütige Seele des einfachen Russen, die von Leid und Arbeit zerquält ist, und vor allem durch die immerwährende Ungerechtigkeit und die Sünde – wie durch die eigene, so auch durch die Sünde der ganzen Welt –, keinen größeren Trost und kein größeres Verlangen gibt, als ein Heiligtum oder einen Heiligen zu finden, vor ihm niederzufallen und ihn anzubeten: „Wenn es auch bei uns Sünde, Unwahrheit und Versuchung gibt, so gibt es dort irgendwo auf Erden doch einen Heiligen und Höheren; dafür hat er die Wahrheit, dafür kennt er die Wahrheit: also ist sie auf Erden noch nicht gestorben, also wird sie einmal auch zu uns kommen und sich über die ganze Erde verbreiten, wie es verheißen ist.“

Aljoscha wußte, daß nur das Volk so fühlt und so denkt – das begriff er wohl; doch daran, daß gerade der Staretz dieser Heilige, dieser Hüter der Gotteswahrheit in den Augen des Volkes war – daran zweifelte er auch keinen Augenblick, gleich diesen weinenden Bauern und ihren kranken Weibern, die ihre Kinder dem Staretz entgegenbrachten. Die Überzeugung, daß der Staretz sterbend oder erst durch seinen Tod dem Kloster ungewöhnlichen Ruhm verschaffen werde, herrschte in Aljoschas Seele vielleicht sogar noch stärker als in allen anderen Anhängern des Staretz. Und überhaupt erhob sich und entbrannte in dieser ganzen letzten Zeit eine unbestimmbare, tiefe, flammende Begeisterung immer stärker und stärker in seinem Herzen. Es verwirrte ihn nicht im geringsten, daß dieser Staretz doch immerhin als ein einzelner vor ihm stand: „Gleichviel, er ist heilig, in seinem Herzen liegt das Geheimnis der Erneuerung aller, jene Kraft, die endlich die Wahrheit auf der Erde aufrichten wird, und alle werden heilig sein, und alle werden einander lieben, und es wird weder Reiche noch Arme, weder sich Überhebende noch Erniedrigte mehr geben, sondern es werden alle wie Kinder Gottes sein, und es wird das wahre Reich Christi beginnen.“ Das war es, wovon Aljoschas Herz träumte.

Ich glaube, die Ankunft seiner beiden Brüder, die er bis dahin überhaupt noch nicht gekannt hatte, machte einen ungewöhnlich starken Eindruck auf ihn. Mit seinem ältesten Bruder, Dmitrij Fedorowitsch, freundete er sich schneller und näher an, obgleich jener erst später ankam, als mit dem zweiten, seinem leiblichen Bruder Iwan Fedorowitsch. Es reizte ihn heftig, seinen Bruder Iwan näher kennen zu lernen; doch dieser lebte schon ganze zwei Monate beim Vater, sie aber waren sich noch immer nicht nähergetreten, was um so auffallender war, als sie sich sogar ziemlich oft sahen: Aljoscha war selbst schweigsam und schien etwas zu erwarten, schien sich irgendeiner Sache zu schämen; sein Bruder Iwan jedoch hörte, wie es schien, bald gänzlich auf, an ihn auch nur zu denken, obgleich Aljoscha zu Anfang sehr wohl seine langen, fragenden Blicke auf sich ruhen gefühlt und auch bemerkt hatte. Aljoscha schrieb diese Gleichgültigkeit seines Bruders, die ihn nicht wenig befangen machte, ihrem Alters- und besonders Bildungsunterschied zu. Doch machte sich Aljoscha auch noch andere Gedanken: ein so geringes Interesse für ihn und so wenig Teilnahme konnte bei Iwan vielleicht von etwas ganz anderem herrühren, das ihm, Aljoscha, völlig unbekannt blieb. Aus irgendeinem Grunde schien es ihm immer, daß Iwan mit etwas Besonderem beschäftigt war, mit etwas Innerlichem und Ungeheurem, daß er zu einem bestimmten Ziele strebte, vielleicht zu einem sehr schweren, so daß es ihm jetzt nicht um Brüder zu tun war, und daß dies also der einzige Grund sein konnte, warum er auf ihn, Aljoscha, so zerstreut blickte. Auch dachte Aljoscha noch darüber nach, ob sich darin nicht eine gewisse Verachtung des klugen Atheisten für ihn, den dummen Novizen, verbarg. Er wußte es, daß sein Bruder Atheist war. Diese Verachtung aber, selbst wenn sie vorhanden gewesen wäre, hätte ihn nicht kränken können; doch trotz allem erwartete er mit einer ihm selbst unerklärlichen, ihn verwirrenden Unruhe, wann denn der Bruder ihm endlich würde nähertreten wollen. Dmitrij Fedorowitsch äußerte sich über Iwan stets mit der größten Hochachtung und sprach überhaupt immer ganz besonders durchdrungen und begeistert von ihm. Durch ihn erfuhr denn auch Aljoscha alle Einzelheiten jener wichtigen Angelegenheit, die in der letzten Zeit seine beiden älteren Brüder so sonderbar und eng verbunden hatte. Diese begeisterten Äußerungen Dmitrijs über seinen Bruder Iwan waren in Aljoschas Augen um so auffallender, als Dmitrij im Vergleich zu Iwan so gut wie ganz ungebildet war und sie beide, wenn man sie als Persönlichkeiten und Charaktere verglich, einen so schroffen Gegensatz bildeten, wie man ihn sich größer nicht hätte vorstellen können.

Zu dieser Zeit fand dann die Zusammenkunft in der Zelle des Staretz statt, oder richtiger, die Familienversammlung aller Glieder dieser uneinigen Familie, die einen so ungewöhnlichen Eindruck auf Aljoscha machte. Der Vorwand, unter dem man zusammenkam, war natürlich erlogen. Gerade damals hatten die Uneinigkeiten zwischen Dmitrij Fedorowitsch und seinem Vater wegen der Vermögensabrechnungen einen Punkt erreicht, an dem jede Verständigung ausgeschlossen schien. Ihr Verhältnis zueinander spitzte sich immer mehr zu und wurde unerträglich. Ich glaube, Fedor Pawlowitsch war der erste, der scherzend vorschlug, sich doch in der Zelle des Staretz zu versammeln, und wenn auch nicht gerade seine Vermittlerschaft zu suchen, so sich doch immerhin etwas anständiger zu besprechen, wobei die Würde und die Person des Staretz natürlich einen gewissen Einfluß in gutem Sinne haben könnte. Dmitrij Fedorowitsch, der nie beim Staretz gewesen war und ihn nie gesehen hatte, glaubte natürlich, daß man ihn mit dem Staretz schrecken wollte; schließlich aber nahm er den Vorschlag an, besonders deshalb, weil er sich im Herzen für viele, gar zu heftige Ausfälle gegen den Vater heimlich ernste Vorwürfe machte. Bei der Gelegenheit will ich noch bemerken, daß er nicht im Hause seines Vaters lebte, wie Iwan Fedorowitsch, sondern ganz am anderen Ende der Stadt eine Wohnung gemietet hatte.

Hinzu kam jetzt noch, daß Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, der zu jener Zeit gerade auf seinem Gute lebte, ganz besonders diese Idee Fedor Pawlowitschs gefiel. Als Liberaler der vierziger und fünfziger Jahre, Freigeist und Atheist, nahm er mehr aus Langeweile oder aus leichtsinniger Zerstreuungssucht an dieser ganzen Angelegenheit lebhaften Anteil. Er wollte plötzlich ungeheuer gern das Kloster und den „Heiligen“ sehen, und da sich sein alter Prozeß mit dem Kloster wegen der Grenze ihrer Güter und irgendwelcher Rechte auf das Holzfällen im Walde und den Fischfang im Fluß immer noch hinzog, so beeilte er sich jetzt, diesen Umstand zur Einwilligung des Staretz auszunutzen, unter dem Vorwande, daß er selbst mündlich mit dem Prior besprechen wollte, ob sich der Streit nicht irgendwie gütlich beilegen ließ. Einen Gast, der mit so wohlgesinnten Absichten kam, mußte man im Kloster selbstverständlich aufmerksamer und zuvorkommender empfangen als einen gewöhnlichen Neugierigen. Und infolge aller dieser Kombinationen konnte man dann einen gewissen Einfluß vom Kloster aus auf den kranken Staretz erwarten, denn sonst war die Hoffnung, vom Staretz empfangen zu werden, ziemlich gering: er verließ in letzter Zeit fast überhaupt nicht mehr seine Zelle und empfing selbst nicht einmal außergewöhnlichen Besuch. Nun, und so endete es denn auch damit, daß der Staretz seine Einwilligung gab und Tag und Stunde bestimmt wurde. „Wer hat mich berufen, ihr Richter zu sein?“ sagte er nur lächelnd zu Aljoscha.

Als Aljoscha von dieser Zusammenkunft erfuhr, erschrak er. Der einzige von allen, der diesen Besuch ernst nehmen konnte, war sein Bruder Dmitrij; die anderen jedoch würden alle aus leichtsinnigen und für den Staretz vielleicht sogar beleidigenden Gründen kommen – das war es, was Aljoscha sich sagte. Sein Bruder Iwan und Miussoff würden aus Neugier kommen, vielleicht sogar aus einer sehr rohen, sein Vater aber, um als Narr irgendeine dumme Szene zu machen. O, wenn Aljoscha auch schwieg, so kannte er seinen Vater doch schon zur Genüge. Ich wiederhole es: Dieser Jüngling war keineswegs so naiv einfältig, wie alle glaubten. Mit schweren Gefühlen erwartete er den festgesetzten Tag. Zweifellos sorgte er sich im Herzen viel darum, daß alle diese Familienzwistigkeiten sich nicht beilegen ließen. Doch trotzdem galt seine größte Sorge dem Staretz: er zitterte für ihn, fürchtete, daß sie ihn beleidigen könnten, fürchtete besonders den feinen, immer höflichen Spott Miussoffs und das stolze Schweigen seines intelligenten Bruders Iwan. Er wollte es sogar wagen, dem Staretz etwas davon zu sagen, ihn vorzubereiten, bedachte sich aber und sagte nichts. Nur ließ er am Vorabend seinem Bruder Dmitrij durch einen Bekannten sagen, daß er ihn sehr liebe und von ihm die Erfüllung des Versprechens erwarte. Dmitrij wurde nachdenklich, denn er konnte sich auf keine Weise erinnern, was er ihm versprochen haben sollte, und antwortete nur mit einem Brief, in dem er schrieb, daß er sich aus allen Kräften „von einer Niedrigkeit“ zurückhalten werde, und wenn er auch den Staretz und ihren Bruder Iwan sehr hoch achte, so sei er doch überzeugt, daß es sich um eine Falle für ihn oder um eine unwürdige Komödie handele. „Nichtsdestoweniger werde ich eher meine Zunge hinunterschlucken, als daß ich den Respekt vor dem heiligen Manne, den Du so verehrst, irgendwie vergessen sollte,“ schloß Dmitrij seinen kurzen Brief. Aljoscha fühlte sich aber durch ihn nicht sonderlich beruhigt.

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