Anfang November. Die Kälte war bei uns schon auf elf Grad gestiegen, und dazu kam noch Glatteis. Auf die gefrorene Erde war nachts etwas trockener Schnee gefallen, und nun fegte ihn ein kalter, scharfer Wind durch die langweiligen Straßen des Städtchens und besonders über den Marktplatz in unermüdlichen Stößen vor sich her. Der Morgen ist bewölkt, doch der Schneefall hat schon aufgehört.
Nicht weit vom Marktplatz, in der Nähe der Plotnikoffschen Kolonialwarenhandlung, steht das kleine, von außen wie von innen sehr saubere Haus der Witwe des verstorbenen Beamten Krassotkin. Der Gouvernementssekretär Krassotkin war schon vor langer Zeit gestorben, vor etwa vierzehn Jahren; seine Witwe aber, ein etwa dreißigjähriges und noch immer sehr nettes appetitliches Frauchen, lebte in ihrem schmucken Häuschen „vom eigenen Kapital“. Sie lebte sittsam und bescheiden und hatte einen zärtlichen, sanften, im allgemeinen recht heiteren Charakter. Sie war bereits mit achtzehn Jahren Witwe geworden, nachdem sie mit ihrem Mann nur ein Jahr lang zusammengelebt und ihm kurz vor seinem Tode einen Sohn geboren hatte. Seit der Zeit, seit dem Tode ihres Mannes, widmete sie sich ganz der Erziehung dieses ihres einzigen Söhnchens Koljä, und wenn sie ihn auch alle diese vierzehn Jahre geradezu abgöttisch liebte, so machte sie mit ihm, versteht sich, weit mehr Leiden durch, als er ihr Freuden bereitete, da sie jeden Tag für ihn zitterte und fast verging vor Angst, er könnte sich erkalten, erkranken, sich beim Spielen Schaden tun, auf einen Stuhl klettern und herunterfallen usw. usw. Als aber Koljä die Vorschule und späterhin unser Progymnasium zu besuchen begann, da fing sie an, alle Wissenschaften zu studieren, um ihm beim Lernen helfen und mit ihm die Aufgaben durchnehmen zu können. Sie suchte mit seinen Lehrern und deren Frauen bekannt zu werden, lud sie zum Kaffee ein, sie verwöhnte und hätschelte sogar seine Schulkameraden, damit sie ihren Koljä nicht anrührten, nicht verspotteten, oder gar – Gott behüte! – verprügelten. Sie brachte es so weit, daß die Knaben schließlich über ihn lachten und ihn als „das Muttersöhnchen“ neckten. Koljä aber verstand es, sich zu verteidigen. Er war ein mutiger Junge und „furchtbar stark“, wie das Gerücht zu melden wußte, das sich bald in der Klasse verbreitete, war gewandt, charakterfest, kühn und unternehmungslustig. Er lernte gut, und es hieß sogar unter den Kameraden, daß er in der Arithmetik und allgemeinen Geschichte selbst dem Lehrer, Herrn Dardaneloff, ein Bein stellen könne. Wenn nun der Junge auch etwas „von oben herab“ war und das Nasenspitzchen oft gehörig emporreckte, so war er doch ein guter Kamerad, der sich nie überhob. Die Achtung der Mitschüler nahm er übrigens als etwas Selbstverständliches hin. Die Hauptsache war, daß er Maß hielt, daß er sich bei Gelegenheit selbst zurückzuhalten verstand, und daß er in seinem Verhalten zu den Lehrern niemals die letzte, sehr bemerkbare Grenze überschritt, über die hinaus die Streiche nicht mehr verziehen werden können, da sie dann bereits zu „Unordnung, Rebellion und Verletzung der Vorschriften“ führen. Und doch war er nichts weniger als abgeneigt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit wie der ausgelassenste Schulbub ausgelassen zu sein, oder vielmehr nicht so sehr ausgelassen zu sein, als etwas Besonderes anzustiften, einen ganz besonders tollen Streich zu spielen, „Extrafurore“ zu machen, sich einen „Schick“ zu geben, kurz, sich irgendwie auffallend auszuzeichnen. Vor allem war er sehr ehrgeizig. Sogar seine Mama verstand er in ein untergeordnetes Verhältnis zu sich zu bringen, ja, er beherrschte sie fast despotisch. Sie hatte sich ihm widerspruchslos untergeordnet, oh, schon lange war er der Herr im Hause! Nur den einen Gedanken konnte sie nicht ertragen: daß ihr Junge sie „wenig liebe“. Es schien ihr immer, daß ihr Koljä „nichts für sie fühle“, und so kam es denn vor, daß sie, in Tränen aufgelöst, ihm wegen seiner Kälte zu ihr Vorwürfe machte. So etwas liebte der Junge äußerst wenig, und je mehr Herzensergüsse man von ihm verlangte, um so zurückhaltender wurde er. Das geschah aber von ihm nicht absichtlich, wie es schien, sondern ganz unwillkürlich, – so war nun einmal sein Charakter. Doch die Mutter täuschte sich: er liebte seine Mama sogar sehr, nur liebte er keine „Kälberzärtlichkeiten“, wie er sich in seinem Schülerjargon ausdrückte. Sein Vater hatte viele Bücher hinterlassen, die von der Mutter in einem großen Schrank aufbewahrt wurden. Koljä machte sich bald daran, diese Bücher zu lesen. Die Mama beunruhigte das weiter nicht; sie wunderte sich vorläufig nur über ihren Jungen, wie der so ganze Stunden lang am Bücherschrank stehen und lesen konnte. Daher hatte denn Koljä in kurzer Zeit schon manches gelesen, was er in so jungen Jahren gar nicht zu wissen gebraucht hätte.
In der letzten Zeit aber hatte er ein paar Streiche gespielt, die die Mama ernstlich beunruhigten. Es waren das nicht irgendwelche sittlich bedenkliche, bösartige Stückchen, sondern wahrhaft tollkühne, halsbrecherische Wagnisse gewesen. Die Mama hatte nämlich Ende Juli, in der Ferienzeit, mit ihrem Jungen eine Verwandte besucht, deren Mann auf der nächsten Eisenbahnstation, siebzig Werst von unserem Städtchen, angestellt war. (Es war das dieselbe Eisenbahnstation, von der einen Monat darauf Iwan Fedorowitsch Karamasoff nach Moskau reiste.) Das erste, was Koljä bei seinen Verwandten tat, war, daß er sich genau die Lokomotiven besah, sich mit der Maschine gut bekannt machte, alle Räder untersuchte usw., denn er sagte sich, daß er mit diesen Kenntnissen seinen Mitschülern imponieren werde. Es fanden sich noch ein paar andere Knaben dazu, mit denen er sich anfreundete; die einen von ihnen wohnten daselbst auf der Station, die anderen in der Nachbarschaft, – im ganzen hatten sich sechs oder sieben Jungen im Alter zwischen zwölf und fünfzehn Jahren zusammengetan, darunter zwei Gymnasiasten aus unserer Stadt. Diese Jungen spielten und tollten zusammen, und siehe da, am vierten oder fünften Tage des Besuchs – Frau Krassotkin und Koljä waren nur auf etwa eine Woche hingefahren – kam es unter ihnen zu einer ganz unglaublichen Wette um zwei Rubel: und zwar handelte es sich um folgendes:
Koljä, der Jüngste unter ihnen, und daher von den anderen etwas herablassend Behandelte, hatte aus knabenhaftem Ehrgeiz oder aus unverzeihlicher Tollkühnheit vorgeschlagen, nachts, wenn der Elfuhrzug käme, so lange zwischen den Schienen zu liegen, bis der Eilzug über ihn hinweggegangen wäre. Allerdings waren verschiedene Versuche gemacht worden, die ergeben hatten, daß man sehr wohl so zwischen den Schienen liegen und sich an den Boden drücken konnte, ohne vom Zug berührt zu werden, der dann in der größten Geschwindigkeit über einen hinwegsausen werde. Trotzdem jedoch – besten Dank für das Liegen! Koljä aber behauptete steif und fest, daß er sich hinlegen und liegen bleiben werde. Er wurde zuerst ausgelacht, ein Prahlhänschen, ein Aufschneider genannt, und durch diese Neckereien nur noch mehr zu seinem Vorhaben gereizt. Das Entscheidendste dabei war, daß diese Fünfzehnjährigen schon gar zu wichtig vor ihm taten und ihn zuerst als „Kleinen“ überhaupt nicht in ihre „Clique“ hatten aufnehmen wollen, was ihm denn doch zu sehr „an die Ehre“ ging. Und so ward beschlossen, am Abend aufzubrechen und ungefähr auf eine Werst längs dem Eisenbahndamm weiterzugehen, um dann bis elf den Zug, der dort von der Station aus bereits in Gang gekommen sein würde, zu erwarten. Der Abend kam, man versammelte sich und machte sich auf den Weg. Die Nacht brach an: es war eine mondlose, nicht nur dunkle, sondern fast pechschwarze Nacht. Kurz vor elf legte Koljä sich zwischen den Schienen hin. Die übrigen fünf, die die Wette eingegangen waren, warteten zuerst mit beklommenem Herzen, zuletzt aber in Angst und Reue unten am Bahndamm im Gebüsch. Endlich, – ein Pfiff und fernes Rollen zeigten an, daß der Schnellzug die Station verließ. Da tauchten auch schon in der Nacht zwei feurige Augen auf und fauchend raste das Ungetüm heran. „Lauf Koljä! Lauf fort!“ schrien fünf angsterstickte Stimmen aus dem Gebüsch. Es war aber schon zu spät: der Zug war schon da und sauste vorüber. Die Jungen stürzten den Damm hinauf zu Koljä: er lag regungslos zwischen den Schienen. Man rüttelte ihn, rief ihn an, und versuchte ihn schließlich aufzuheben. Da stand er plötzlich von selbst auf und ging schweigend den Bahndamm hinab. Unten angelangt, erklärte er, daß er absichtlich unbeweglich liegen geblieben sei, um ihnen Angst zu machen. Doch war das nicht ganz wahrheitsgetreu: er hatte tatsächlich die Besinnung verloren, wie er später, nach langer Zeit, seiner Mama gestand. So hatte er sich denn den Ruhm, ein „Tollkühner“ zu sein, für alle Zeiten erworben. Er kehrte nur sehr bleich zur Station zurück und erkrankte am Tage darauf an einem leichten Nervenfieber, doch war er bald wieder ungemein lebhaft, lustig und zufrieden. Der Streich wurde nicht gleich bekannt; erst als er wieder zurückgekehrt war und wieder in die Schule ging, verbreitete sich die tolle Geschichte, dank den beiden Gymnasiasten, die dabei gewesen waren, unter den Schülern unseres Progymnasiums, bis sie schließlich auch der Schulobrigkeit zu Ohren kam. Da aber stürzte Koljäs Mama hin zu den Direktoren, um für ihren Sohn Verzeihung zu erflehen, und erreichte denn auch, daß der sehr geachtete und einflußreiche Lehrer Dardaneloff für ihren Jungen eintrat und ihn verteidigte, und daß man die Sache zu guter Letzt auf sich beruhen ließ, als wäre überhaupt nichts geschehen. Dieser Dardaneloff, ein unverheirateter und noch nicht alter Mann, war nämlich schon seit etlichen Jahren glühend in Frau Krassotkin verliebt und hatte ihr auch schon einmal, vor etwa einem Jahr, in der ehrerbietigsten Weise und halb vergehend vor Angst und Verlegenheit einen Heiratsantrag gemacht; sie aber hatte ihn ohne weiteres abgewiesen, da sie eine Wiederverheiratung als einen Verrat an ihrem Sohne empfunden hätte. Trotzdem hatte Dardaneloff vielleicht doch das Recht, nach gewissen Anzeichen zu schließen, daß er der hübschen Dame nicht unsympathisch war. Der tolle Streich Koljäs schien nun das Eis gebrochen zu haben, und ihm war für seine freundliche Verwendung eine leise Andeutung, daß er hoffen könne, zuteil geworden, freilich nur eine sehr entfernte. Da aber Dardaneloff, was Rücksichtnahme und Zartgefühl betraf, ein wahres Phänomen war, so genügte das vollkommen, um ihn unendlich glücklich zu machen. Den Knaben liebte er sehr, nur hielt er es für erniedrigend, sich bei ihm einzuschmeicheln, daher verhielt er sich zu ihm in der Klasse stets streng und anspruchsvoll. Und auch Koljä „hielt ihn sich in respektvoller Entfernung“. Er bereitete sich zu den Stunden ausgezeichnet vor, behauptete sich in der Klasse als zweiter Schüler, war im Umgang mit ihm etwas trocken, und die ganze Klasse glaubte, daß er in der allgemeinen Geschichte Dardaneloff sogar schlagen könne. Und tatsächlich hatte Koljä ihm einmal die Frage gestellt: Wer hat Troja gegründet? – worauf der Lehrer nur „im allgemeinen“ geantwortet hatte, von den Bewegungen der verschiedenen Völker, von ihren Wanderungen und Niederlassungen und Übersiedlungen, von der Tiefe der Zeiten, von den Mythen und Dichtungen gesprochen: doch auf die Frage, wer, d. h. welche Personen Troja gegründet hatten, darauf konnte er nicht antworten, und im übrigen fand er die Frage müßig. Die Knaben waren überzeugt, daß Dardaneloff einfach nicht wußte, wer Troja gegründet hatte. Koljä aber hatte im Ssmaragdoff, der sich gleichfalls im Bücherschrank des Vaters fand, alles Nähere über die Gründung Trojas nachgelesen. Schließlich interessierte es alle Knaben, wer nun der eigentliche Gründer Trojas war, Koljä Krassotkin aber deckte sein Geheimnis nicht auf, und so genoß er denn allein den Ruhm des Wissens.
Da kam nun dieser Eisenbahnstreich dazwischen, und Koljäs Verhalten zur Mutter erfuhr eine Veränderung. Als Anna Fedorowna (so hieß Frau Krassotkin) von der „Heldentat“ ihres Sohnes erfuhr, fiel sie beinahe in Ohnmacht vor Angst, obgleich doch keinerlei Gefahr mehr vorhanden war. Sie bekam die heftigsten nervösen Anfälle, die mit Unterbrechungen mehrere Tage lang andauerten, so daß Koljä ernstlich erschrak und ihr sein heiliges Ehrenwort gab, nie mehr ähnliche Tollkühnheiten zu begehen. Er schwur es ihr auf den Knien vor dem Heiligenbilde, schwur es beim Andenken seines Vaters, wie es seine Mama verlangte, wobei der „männliche, erwachsene“ Koljä wie ein sechsjähriger Knabe vor lauter „Gefühl“ weinte, und Mutter und Sohn sich in den Armen lagen und bis zum Abend schluchzten. Am nächsten Morgen war Koljä ebenso „gefühllos“, wie früher, nur wurde er von da an schweigsamer, bescheidener, strenger und nachdenklicher. Das hinderte freilich nicht, daß er nach anderthalb Monaten wieder einen Streich spielte, durch den sein Name sogar unserem Friedensrichter bekannt wurde. Doch davon später. Die Mutter fuhr fort zu zittern und sich zu quälen, und Dardaneloff schöpfte, im Verhältnis wie ihre Angst wuchs, immer mehr Hoffnung.
Ich muß noch bemerken, daß Koljä in dieser Hinsicht seinen Lehrer sehr gut verstand und sogar ganz durchschaute und ihn, versteht sich, wegen dieser seiner „Gefühlsduseleien“ tief verachtete. Früher hatte er einmal die Unzartheit gehabt, diese Verachtung seiner Mama zu verstehen zu geben, und er hatte außerdem noch angedeutet, daß er sehr wohl wisse, welche Absichten Dardaneloff hege. Aber nach jenen schrecklichen nervösen Anfällen der Mutter änderte er sich auch in dieser Beziehung. Er erlaubte sich hinfort keine einzige Anspielung mehr und äußerte sich über Dardaneloff der Mutter gegenüber stets sehr achtungsvoll, was die feinfühlige Anna Fedorowna sofort mit grenzenloser Dankbarkeit in ihrem Herzen empfand, – dafür aber selbst bei der leisesten Erwähnung Dardaneloffs, etwa im Gespräch mit einem unbefangenen Gast, wenn Koljä dabei war, wie eine Rose erglühte. Koljä dagegen schaute dann mit krauser Stirn zum Fenster hinaus, oder er betrachtete umständlich und äußerst interessiert seine Stiefelspitzen, oder er rief barsch seinen „Pereswonn“ heran, ein langhaariges, zottiges und häßliches Hundevieh, das er vor einem Monat irgendwo „aufgegabelt“ und nach Haus „bugsiert“ hatte, nun im Hause wie ein großes Geheimnis hütete und keinem einzigen seiner Kameraden zeigte. Er tyrannisierte den armen Köter ganz entsetzlich, drillte ihn unermüdlich, bis er ihm alle möglichen Künste „eingefuchst“ hatte, und brachte es schließlich so weit, daß der arme Hund jedesmal heulte, wenn er in die Schule ging, und wenn er wieder zurückkehrte, vor Freude „rappeldoll“ wurde, winselte, sich auf den Rücken warf, alle Stückchen vormachte und wie besessen an ihm hinaufsprang – und das alles nicht auf Befehl, sondern aus bloßem Überschwang seiner Begeisterung und seines dankbaren Hundeherzens.
Ich habe übrigens zu erwähnen vergessen, daß Koljä Krassotkin derselbe Knabe war, der von Iljuscha, dem Sohn des verabschiedeten Hauptmanns Ssnegireff, in der Schule mit dem Federmesser in den Oberschenkel gestochen worden war, als die Schüler jenen, seines Vaters wegen, „Bastwisch“ geneckt hatten.