In dem uns bekannten Zimmer, das der Hauptmann Ssnegireff mit seiner Familie bewohnte, war die Luft in diesem Augenblick ebenso drückend, wie das Zimmer selbst durch die zahlreichen kleinen Gäste eng wurde. Es saßen wieder einmal mehrere Knaben bei Iljuscha. Wenn sie auch alle, wie Ssmuroff, bereit waren, zu leugnen, daß Aljoscha Karamasoff sie zu Iljuscha geführt und alles zu ihrer Anfreundung getan hatte, so war dies doch einmal so. Seine ganze Kunst bestand in diesem Falle nur darin, daß er sie ihm alle einzeln und ohne jegliche „Kälberzärtlichkeiten“ zuführte, als geschehe es ganz unabsichtlich, womöglich halb aus Versehen. Das war für Iljuscha eine große Freude gewesen. Als er die fast zärtliche Freundschaft dieser seiner früheren Feinde sah, war er tief gerührt. Nur Koljä Krassotkin fehlte noch, und das lag wie eine drückende Last auf seinem Herzen. Wenn es in seinen bitteren Erinnerungen etwas ganz besonders Bitteres gab, so war das gerade dieser Vorfall mit Koljä, seinem früheren einzigen Freunde und Verteidiger, auf den er sich damals mit dem Messer gestürzt hatte. Das sagte sich auch der kleine, gescheite Ssmuroff, der als erster zu Iljuscha gekommen war. Koljä Krassotkin hatte aber auf Ssmuroffs entfernte Andeutung, daß Aljoscha „in einer gewissen Angelegenheit“ vielleicht zu ihm kommen werde, sofort kurz jeden weiteren Annäherungsversuch abgeschnitten, indem er Ssmuroff barsch auftrug, „Karamasoff“ zu sagen, daß er selbst wisse, was er zu tun habe, daß er niemanden um Rat bitte und im übrigen, wenn er zu dem Kranken ginge, das dann tun würde, wenn es ihm angemessen scheine – er habe dabei seine „persönliche Berechnung“. Das war vor etwa zwei Wochen gewesen. Daraufhin hatte Aljoscha es unterlassen, seine anfängliche Absicht auszuführen und zu Krassotkin zu gehen. Dafür aber war der kleine Ssmuroff zweimal von ihm zu Koljä geschickt worden. Aber Koljä hatte beide Male in der gereiztesten und schroffsten Weise abgesagt: „Sage Karamasoff, daß ich dann, wenn er zu mir kommt, überhaupt nicht zu Iljuscha gehen werde, und im übrigen bitte ich, mich nicht ewig mit dieser Sache zu belästigen.“ Selbst Ssmuroff hatte noch am Sonnabend nicht gewußt, daß es Koljäs Absicht war, an diesem Sonntag Iljuscha zu besuchen. Erst am Abend hatte Koljä ihm beim Abschied gesagt, er solle ihn am nächsten Morgen auf dem Hof erwarten, er würde mit ihm zusammen zu Ssnegireffs gehen, hatte aber streng verboten, irgend jemand von seinem Kommen zu benachrichtigen. Ssmuroff gehorchte. Der Gedanke jedoch, daß er auch den verlorenen Hund mitbringen werde, war Ssmuroff auf Grund einiger von Koljä flüchtig hingeworfener Worte gekommen. Er hatte nämlich gesagt: „Esel sind sie, wenn sie den Hund nicht finden können, vorausgesetzt, daß er noch lebt.“ Als aber Ssmuroff nach einiger Zeit schüchtern eine Anspielung darauf gemacht hatte, da war Krassotkin „höllisch wütend“ geworden. „Ich bin doch nicht so dumm, daß ich in der ganzen Stadt einen fremden Hund suche, wenn ich meinen Pereswonn habe! Und wie kann man nur so was Dummes denken, daß ein Hund, der eine Stecknadel hinuntergeschluckt hat, am Leben bleibe! Das sind ja nur Sentimentalitäten und weiter nichts!“
Inzwischen verging die Zeit. Iljuscha hatte sein Bettchen in der Ecke unter den Heiligenbildern seit ganzen zwei Wochen nicht mehr verlassen. In die Schule war er seit jenem Tage, an dem er Aljoscha in den Finger gebissen hatte, nicht mehr gegangen. Am selben Tage war er auch erkrankt, doch konnte er im ersten Monat noch allein aufstehen und etwas im Zimmer oder auch im Flur umhergehen. Schließlich aber wurde er so schwach, daß er sich ohne Hilfe seines Vaters kaum noch bewegen konnte. Der Vater zitterte für ihn, hörte sogar ganz auf zu trinken und wurde geradezu tiefsinnig vor Angst bei dem Gedanken, sein Junge könnte sterben. Wenn er ihn bei einem kurzen Gang durch die Stube unter den Armen gestützt und dann wieder ins Bettchen gelegt hatte, lief er nachher jedesmal hinaus auf den Flur, in die dunkelste Ecke, preßte dort die Stirn an die Wand und weinte ganz eigentümlich: kaum hörbar, da es ja Iljuscha nicht zu Ohren kommen durfte – doch konnte man glauben, aus diesem eintönigen Weinen seine ganze ohnmächtige Verzweiflung herauszuhören.
Wenn er dann ins Zimmer zurückkehrte, fing er gewöhnlich an, seinen lieben Jungen mit irgend etwas zu zerstreuen. Er erzählte ihm Märchen oder lustige Geschichten, oder er kopierte lächerliche Typen, die er gesehen hatte, oder er imitierte selbst Tiere, indem er ihre Laute nachzuahmen versuchte. Iljuscha jedoch litt darunter, wenn sein Vater sich in dieser Weise verstellte und Narrenpossen trieb. Er bemühte sich krampfhaft, nicht zu zeigen, daß es ihm unangenehm war, aber er sagte sich mit brennendem Weh im Herzen, daß sein Vater in der Gesellschaft erniedrigt war, und immer wieder kehrten seine Gedanken zu jenem „furchtbaren Tage“ zurück. Auch Ninotschka, Iljuschas gelähmte, bescheidene, stille Schwester, liebte es nicht, wenn der Vater sich in dieser Weise erniedrigte (Warwara Nikolajewna war schon längst wieder nach Petersburg gefahren, um dort den Vorlesungen zu folgen), dafür aber fand das geistesschwache Mamachen wahre Freude daran und lachte von ganzem Herzen, wenn ihr Mann sich wie ein Bajazzo gebärdete. Nur damit konnte man sie zerstreuen und trösten, sonst weinte sie fortwährend und beklagte sich launisch, daß alle sie vergäßen, daß niemand sie achte, daß alle sie beleidigten usw. usw. In den letzten Tagen aber hatte auch sie sich verändert. Sie sah häufiger in die Ecke zu Iljuscha hinüber und schien nachdenklicher zu sein. Sie wurde viel schweigsamer und ruhiger, und wenn sie weinte, so weinte sie still vor sich hin, damit es die anderen nicht hörten. Der Hauptmann bemerkte verwundert diese Veränderung; sie betrübte und erschreckte ihn zu gleicher Zeit. Die Besuche der Knaben paßten ihr zuerst gar nicht und ärgerten sie nur, allmählich aber gefielen ihr die fröhlichen Geschichten und das laute Geplapper der Kinder immer mehr, und bald freute sie sich dermaßen über jeden Besuch, daß sie womöglich geweint hätte, wenn die Knaben nicht mehr gekommen wären. Wenn sie etwas erzählten oder Spielchen spielten, so lachte sie vor Freude und schlug in die Hände. Zuweilen rief sie sogar einige von ihnen zu sich und küßte sie. Besonders liebte sie den kleinen Ssmuroff. Was nun den Hauptmann betrifft, so hatte der Besuch der Kinder, die in sein Haus kamen, um Iljuscha zu zerstreuen und zu erheitern, seine Seele gleich mit freudigem Entzücken erfüllt und sogar mit einer Hoffnung, Iljuscha werde nun aufhören, sich zu grämen, und vielleicht sogar schneller davon gesund werden. Oh, er zweifelte keinen Augenblick daran – trotz seiner ganzen Angst um Iljuscha –, daß sein Junge plötzlich wieder gesund werden würde. Er empfing die kleinen Gäste fast andächtig, tat für sie alles, was er konnte, bediente sie sogar und war bereit, sie auf seinem Rücken reiten zu lassen, was er dann auch ausführte; dieses Spiel gefiel aber Iljuscha nicht, und so wurde es sofort aufgegeben. Er kaufte für sie Konfekt, Pfefferkuchen, Nüsse, arrangierte ganze Teekränzchen für die Kleinen und strich ihnen selig Butterbrote. Geld hatte er während dieser ganzen Zeit übergenug. Jene zweihundert Rubel von Katerina Iwanowna hatte er genau so angenommen, wie es von Aljoscha vorausgesagt worden war. Später war Katerina Iwanowna, nachdem sie von Iljuschas Krankheit und ihren Verhältnissen Näheres gehört hatte, selbst zu ihnen gekommen, war mit der ganzen Familie bekannt geworden und hatte sogar das schwachsinnige Mamachen bezaubert. Seit der Zeit versiegten ihre Unterstützungen nicht mehr, und der Hauptmann, der in der Angst um Iljuscha seine früheren „Ehrbegriffe“ ganz vergaß, nahm das Geld gehorsam an. Doktor Herzenstube kam auf Katerina Iwanownas Ersuchen jeden zweiten Tag zu ihnen, um den Kleinen zu untersuchen, doch kam bei seinen Besuchen wenig Gescheites heraus, obgleich er ihn mit Arzeneien geradezu vollstopfte. Dafür wurde von ihnen an diesem Sonntagvormittag ein anderer Arzt erwartet, und zwar ein berühmter Professor aus Moskau. Katerina Iwanowna hatte ihn für viel Geld aus Moskau verschrieben, – doch nicht speziell für Iljuschetschka, sondern zu einem anderen Zweck, von dem weiterhin die Rede sein wird. Als er dann angekommen war, hatte sie ihn gebeten, auch Iljuscha zu besuchen, wovon der Hauptmann schon vorzeitig benachrichtigt worden war. Daß Koljä Krassotkin kommen werde, wußte er dagegen nicht und vermutete es nicht einmal, obwohl er ihn schon lange sehnsüchtig herbeiwünschte, denn er sah nur zu gut, wie sehr es Iljuscha quälte, daß gerade Koljä noch immer nicht kam. Als nun Koljä die Tür aufmachte und eintrat, standen der Hauptmann und alle Knaben dichtgedrängt an Iljuschas Bettchen und betrachteten interessiert den kleinen Bullenbeißer, den der Vater kurz vorher gebracht hatte, und der erst Sonnabend Abend auf die Welt gekommen, doch nichtsdestoweniger schon vor einer Woche gekauft worden war. Das sollte ein Ersatz sein für Shutschka, den von Iljuscha umgebrachten Hund. Iljuscha hatte schon vor drei Tagen gehört, daß er einen kleinen Hund bekommen werde, und zwar keinen gewöhnlichen, sondern einen echten Bullenbeißer (was natürlich sehr wichtig war). Nun lag er da und tat aus Zartgefühl, als freue er sich über das Geschenk, doch alle, der Vater wie die Knaben, sahen wohl, daß dieses neue Hündchen die Erinnerung an Shutschka vielleicht noch stärker in seinem Herzen hervorrief. Das kleine Hundejunge lag neben ihm auf dem Bettchen und krabbelte mit seinen dicken Beinchen; Iljuscha lächelte müde und streichelte ihn mit seiner kleinen, bleichen, abgezehrten Hand. Das kleine Tierchen gefiel ihm sogar sehr, aber ... es war doch immer noch nicht Shutschka! Ja wenn man Shutschka und das Kleine zusammen gehabt hätte, dann wäre das Glück vollständig gewesen!
„Krassotkin!“ rief da einer von den Knaben, der Koljä zuerst bemerkt hatte. Alle erschraken anfänglich, die Knaben traten auseinander und blieben zu beiden Seiten des Bettchens stehen, so daß Iljuscha plötzlich Koljä erblickte. Der Hauptmann stürzte ihm sofort dienstbeflissen entgegen.
„Bitte ... gefälligst ... unser werter Gast!“ brachte er etwas stotternd hervor. „Iljuschetschka, Herr Krassotkin ist zu dir zum Besuch gekommen.“
Doch Krassotkin, der ihm nur eilig die Hand reichte, bewies sofort seine gute Erziehung: er wandte sich von der Tür gleich zu der Frau des Hauses, zu der gelähmten Gattin des Hauptmanns, die in ihrem großen Lehnstuhl saß und im Augenblick äußerst ungehalten darüber war, daß die Knaben so dicht Iljuschas Bett umstanden und sie somit den Hund nicht sehen konnte. Er verbeugte sich ungemein höflich vor ihr, machte einen tadellosen Kratzfuß, wandte sich darauf zu Ninotschka und grüßte auch sie, als Dame, in derselben Weise. Diese Höflichkeit machte auf die kranke Frau einen sehr angenehmen Eindruck.
„Da sieht man doch gleich, daß es ein gut erzogener junger Mann ist,“ sagte sie mit einem Kopfneigen, indem sie die Hände auseinanderführte, „denn sonst, unsere übrigen Gäste, die kommen ja einer auf dem anderen angeritten.“
„Wieso, Mamachen, wieso denn einer auf dem anderen, wie meinst du das?“ fragte zwar freundlich, aber doch etwas ängstlich und betreten der Hauptmann seine Frau.
„So, sie kommen eben hereingeritten. Draußen im Flur setzt sich der eine dem anderen auf die Schultern und kommt dann so in eine wohlerzogene Familie hereingeritten, kreuzbeinig auf dem anderen. Was ist denn das für ein Gast?“
„Aber wer denn das, Mamachen, wer ist denn so hereingekommen?“
„Dieser dort ist auf jenem hereingekommen und der andere auf jenem ...“
Doch Koljä stand schon an Iljuschas Bettchen. Der Kranke erbleichte. Er richtete sich in seinem Bettchen auf und sah Koljä unbeweglich ins Gesicht. Der hatte seinen früheren, kleinen Freund schon seit zwei Monaten nicht mehr gesehen und blieb daher bei seinem Anblick ganz betroffen stehen: er hatte sich nicht denken können, daß er ein so mageres und gelbes Gesichtchen, so brennende, übernatürlich große Augen, so abgemagerte Händchen sehen werde. Mit trauriger Verwunderung bemerkte er, daß Iljuscha tief und schnell atmete, und daß seine Lippen trocken waren. Er trat auf ihn zu, reichte ihm die Hand und fragte ganz verwirrt:
„Nun, mein Freund ... wie geht es dir?“ Aber seine Stimme brach ihm plötzlich ab, es fehlte ihm an Ungezwungenheit, in seinem Gesicht zuckte etwas, seine Lippen bebten. Iljuscha lächelte ihm schmerzlich zu, konnte aber kein Wort hervorbringen. Da hob Koljä plötzlich seine Hand und strich Iljuscha über das Haar.
„Tut nichts!“ flüsterte er ihm leise zu, teils um ihn zu trösten, teils ... er wußte selbst nicht, warum er es sagte. Einen Augenblick schwiegen sie wieder.
„Wie, du hast einen jungen Hund?“ fragte Koljä plötzlich im gleichgültigsten Ton.
„Ja – a – a ...“ antwortete Iljuscha, mit tonloser leiser Stimme, als wäre er außer Atem.
„Eine schwarze Nase hat er, das bedeutet, daß er zu den bösen, den Kettenhunden gehört,“ sagte ernst und gewichtig Koljä, als ob es sich nur um den Hund und die schwarze Nase handelte. In Wirklichkeit aber bekämpfte er immer noch sein Gefühl, um nicht wie ein „Kleiner“ in Tränen auszubrechen; er konnte sich noch immer nicht beherrschen. „Wenn der groß wird, muß er an die Kette kommen, das weiß ich.“
„Er wird riesig groß werden!“ rief einer von den Knaben aus.
„Sicher!“
„Ein Bullenbeißer, der wird so groß wie ein Kalb,“ ertönten mehrere Stimmen durcheinander.
„Wie ein Kalb, wie ein echtes Kalb!“ fuhr plötzlich der Hauptmann dazwischen, „ich habe absichtlich einen so bösen ausgesucht, den allerbösesten, auch seine Eltern sind groß und böse, ungefähr so hoch vom Fußboden ... Setzen Sie sich hierher aufs Bett zu Iljuscha, oder wenn nicht dorthin, dann hier auf die Truhe. Wir bitten ergebenst, unser werter Gast ... langersehnter Gast ... Waren Sie mit Alexei Fedorowitsch zusammen?“
Krassotkin setzte sich aufs Bettchen zu Iljuschas Füßen. Er hatte sich unterwegs zurecht gelegt, womit er das Gespräch beginnen sollte, doch hatte er jetzt ganz den Faden verloren.
„Nein ... ich bin mit Pereswonn ... Ich habe jetzt einen Hund, Pereswonn. Ein slawischer Name. Er wartet dort ... wenn ich pfeife, stürzt er sofort herein. Ich habe nämlich auch einen Hund,“ – er wandte sich hastig zu Iljuscha – „erinnerst du dich noch Shutschkas, Freund?“ platzte er plötzlich mit der Frage heraus, die dem Kranken wie Feuer durch Mark und Bein fuhr.
Iljuschas Gesichtchen verzog sich. Gequält sah er Koljä in die Augen. Aljoscha, der an der Tür stand, runzelte die Stirn und wollte Koljä abwinken, daß er nicht von Shutschka sprechen solle, aber der bemerkte es nicht oder wollte es nicht bemerken.
„Wo ist ... Shutschka?“ fragte Iljuscha mit versagender Stimme.
„Nun, Bruder, dein Shutschka ist perdu! Der ist nicht mehr zu finden.“
Iljuscha schwieg, doch sah er noch einmal Koljä lange und unverwandt an. Aljoscha erhaschte einen Blick von Koljä und winkte ihm aus allen Kräften ab, der wandte sich aber wieder zurück und gab sich den Anschein, als hätte er nichts bemerkt.
„Fortgelaufen ist er und umgekommen. Wie sollte er auch nicht nach einem solchen Frühstück umkommen,“ sagte Koljä schneidend und unbarmherzig, indessen schien ihm aber doch die Stimme nicht recht zu gehorchen. „Dafür habe ich Pereswonn ... Ein altslawischer Name ... Ich habe ihn mitgebracht, ich werde ihn dir zeigen ...“
„Ist nicht nötig!“ unterbrach ihn plötzlich Iljuschetschka.
„Nein, nein, du mußt ihn durchaus sehen ... Er wird dich zerstreuen. Ich habe ihn absichtlich hergebracht ... er ist ebenso langhaarig wie jener ... Erlauben Sie, gnädige Frau, meinen Hund hereinzurufen?“ wandte er sich plötzlich an Frau Ssnegireff in großer Aufregung.
„Nicht, nicht!“ rief Iljuscha mit trauriger Stimme aus. Vorwurfsvoll blickten seine Augen.
„Würden Sie vielleicht ...“ der Hauptmann stürzte von der Kiste, auf der er an der Wand gesessen hatte, vor. „Sie würden vielleicht ... zu einer anderen Zeit ...“ stotterte er, aber Koljä, der auf dem Seinen bestand, ließ sich nicht mehr aufhalten und rief Ssmuroff zu: „Ssmuroff, öffne die Tür!“ und wie der sie geöffnet hatte, pfiff er einmal kurz dem Hunde, und Pereswonn stürzte ins Zimmer.
„Hopp, Pereswonn, mach den Diener, den Diener!“ schrie Koljä, erhob sich und zog den Hund, der auf den Hinterbeinen aufrecht stand, an Iljuschas Bett heran. Da ereignete sich aber etwas ganz Unerwartetes: Iljuscha zuckte zusammen und beugte sich mit dem ganzen Körper vor, beugte sich über Pereswonn und sah ihn wie erstarrt an:
„Das ist ja ... Shutschka!“ rief er plötzlich mit vor Freude und Leid zitterndem Stimmchen aus.
„Und was glaubtest du denn?“ rief Krassotkin mit lauter Stimme, beugte sich zum Hunde nieder, ergriff ihn und hob ihn zu Iljuscha aufs Bett.
„Sieh, Freund, sieh, dieses Auge fehlt, und hier das linke Ohr ist eingerissen, genau die Merkmale, die du mir angegeben hast. Nach diesen Merkmalen habe ich ihn denn auch gefunden. Gleich damals, so schnell wie möglich. Er gehörte ja niemandem, er war ja herrenlos!“ erklärte er, sich an den Hauptmann, an seine Frau, an Aljoscha wendend, und dann fuhr er wieder zu Iljuscha fort, – „er war bei Fedotoffs auf dem Hinterhof, er hoffte wohl da was abzukriegen, die fütterten ihn aber nicht, ein Landstreicher ist er ja, einer aus dem Dorf ... So habe ich ihn aufgefunden ... Siehst du, Freund, er hat damals dein Stück nicht hinuntergeschluckt. Denn wenn er es verschluckt hätte, dann wäre er ja doch sicher krepiert, sicherlich! Er muß es folglich zur rechten Zeit noch ausgespien haben, denn er lebt ja noch. Du hast es nur nicht bemerkt, wie er es ausspie. Ausgespien hat er es, die Stecknadel wird aber seine Zunge gestochen haben, darum hat er denn auch so gewinselt. Und du dachtest, daß er es ganz hinuntergeschluckt hätte. Er wird ja schon furchtbar gewinselt haben, das glaube ich, denn bei Hunden ist die Haut im Maule sehr zart ... zarter als beim Menschen, viel zarter!“ bestand Koljä eifrig darauf, mit heißem und vor Begeisterung strahlendem Gesicht.
Iljuscha konnte kein Wort hervorbringen. Er starrte mit seinen großen und erschrocken aufgerissenen Augen, mit offenem Munde und bleich wie ein Handtuch Koljä an. Wenn der harmlose Krassotkin nur gewußt hätte, wie gefährlich eine solche Aufregung auf die Gesundheit des kranken Knaben wirken mußte, so hätte er sich niemals zu einem solchen Stückchen entschlossen, wie er es jetzt aufführte. Doch von allen Anwesenden im Zimmer verstand dies nur Aljoscha. Der Hauptmann dagegen verwandelte sich ganz und gar in einen kleinen Knaben.
„Shutschka! Also das ist Shutschka?“ rief er mit seliger Stimme. „Iljuschetschka, das ist ja Shutschka, dein Shutschka! Mamachen, das ist ja Shutschka!“ Er fing beinahe an zu weinen.
„Und ich habe das nicht erraten können!“ rief Ssmuroff bekümmert. „Das ist wieder ganz Krassotkin! Ich sagte ja, daß er ihn finden wird, und da hat er ihn nun auch wirklich gefunden!“
„Da hat er ihn nun auch wirklich gefunden!“ wiederholte ein anderer freudig.
„Feiner Kerl, Krassotkin!“ rief ein Dritter.
„Feiner Kerl, feiner Kerl!“ riefen die Jungen jetzt alle und wollten schon applaudieren.
„Wartet, wartet!“ versuchte Krassotkin sie zu überschreien, „ich werde euch erzählen, wie es geschah! Die Sache war nämlich so und nicht anders! Ich habe ihn aufgesucht, zu mir gebracht, versteckt und einfach eingeschlossen und ihn bis auf den letzten Tag niemand gezeigt. Nur Ssmuroff allein sah ihn vor zwei Wochen, aber ich versicherte ihm, daß es Pereswonn sei, und so hat er ihn nicht erkannt. In der Zwischenzeit brachte ich ihm aber alle diese Stückchen bei; seht nur, seht nur, was er alles kann! Ich habe ihn das alles gelehrt, um ihn dir, Freund, so gut abgerichtet zu bringen. Sieh nur, Freund, wie dein Shutschka jetzt ist! Habt ihr hier nicht ein Stückchen Fleisch, er wird euch gleich ein Stückchen vormachen, daß ihr vor Lachen umfallt. – Fleisch, ein Stückchen, ist hier wirklich keines zu haben?“
Der Hauptmann stürzte durch den Flur in die Stube der Wirtsleute, wo man das Essen kochte. Koljä aber beeilte sich, um nicht seine teure Zeit zu verlieren, Pereswonn den Befehl zu geben: „Stirb!“ Der drehte sich plötzlich auf den Rücken um, streckte alle Viere in die Luft und lag unbeweglich. Die Jungen lachten, Iljuscha sah mit seinem traurigen Lächeln auf den Hund, doch am meisten von allen gefiel es dem „Mamachen“, daß Pereswonn gestorben war. Sie lachte von Herzen darüber und rief dem Hunde schmeichelnd zu:
„Pereswonn, Pereswonn!“
„Er wird sich nicht erheben, er wird sich nicht erheben!“ rief Koljä überzeugt und stolz, „wenn auch die ganze Welt ihn rufen würde. Ich aber brauche ihn nur einmal zu rufen, und sofort wird er aufspringen! Ici, Pereswonn!“
Der Hund sprang auf, sprang an ihm empor und heulte vor Freude. Der Hauptmann kam mit einem gekochten Stück Rindfleisch herbeigestürzt.
„Ist es nicht zu heiß?“ fragte geschäftig und vorsorglich Koljä, der das Stück an sich nahm. „Nein, es ist nicht heiß, Hunde lieben ja sonst nichts Heißes. Sehen Sie alle ... Iljuschetschka, sieh, so sieh doch, Freund, warum siehst du nicht? Ich habe ihn ihm gebracht, und nun will er nicht sehen!“
Das neue Kunststück bestand darin, daß dem unbeweglich dastehenden Hunde das Stück Fleisch gerade auf die Nase gelegt wurde. Das arme Tier mußte mit dem Stück Fleisch auf der Nase unbeweglich dastehen, wie sein Herr ihm befohlen hatte. Doch Pereswonn hatte nur eine kleine Minute lang auszuhalten.
„Pill!“ rief Koljä, und das Stück flog im Nu von der Schnauze ins Maul.
Das Publikum drückte natürlich begeistert seine Verwunderung darüber aus.
„Und sind Sie wirklich, sind Sie wirklich nur darum die ganze Zeit nicht gekommen, weil Sie den Hund dressieren wollten?“ rief Aljoscha vorwurfsvoll aus.
„Gerade darum!“ gestand Koljä gutmütig ein. „Ich wollte ihn in seinem Glanze zeigen.“
„Pereswonn! Pereswonn!“ rief Iljuscha dem Hunde schmeichelnd zu und schnippte mit seinen abgemagerten Fingerchen, wie man es zu tun pflegt, wenn man einen Hund zu sich heranlocken will.
„Was rufst du ihn! Er soll sofort zu dir ins Bett springen. Ici, Pereswonn!“ Koljä schlug mit der flachen Hand aufs Bett.
Und Pereswonn flog wie ein Pfeil aufs Bett zu Iljuscha. Dieser umarmte seinen Kopf mit beiden Armen, und Pereswonn leckte ihm sofort die Wange. Iljuschetschka preßte ihn an sich und versteckte sein Gesicht vor den anderen im langhaarigen Fell des Hundes.
„Mein Gott, mein Gott!“ murmelte der Hauptmann.
Koljä setzte sich wieder auf das Bett zu Iljuscha.
„Iljuscha, ich kann dir noch etwas zeigen. Ich habe dir die kleine Kanone gebracht. Erinnerst du dich noch, wie ich dir von dieser kleinen Kanone erzählte, und du ausriefst: ‚Ach, wenn ich sie doch auch sehen könnte!‘ Nun, jetzt habe ich sie dir gebracht.“
Koljä zog aus seiner Büchertasche die kleine Kanone hervor, die er auch schon den Knirpsen gezeigt hatte. Er beeilte sich sehr dabei, weil er selbst so glücklich war: Zu einer anderen Zeit würde er gewartet haben, bis der effektvolle Eindruck, den soeben Pereswonn gemacht hatte, etwas nachgelassen hätte, jetzt aber beeilte er sich, denn: „Wenn sie das so glücklich macht, so gebe ich ihnen noch mehr Glück!“ dachte er, selbst ganz trunken vor Seligkeit.
„Dieses Ding habe ich schon lange beim Beamten Morosoff gesehen, und jetzt habe ich es ihm abgenommen, – für dich, Freund, für dich! Das Ding stand bei ihm so da, ohne daß er sich etwas aus ihm machte. Er hatte es vom Bruder bekommen. Ich habe es gegen ein Buch aus Papas Schrank: ‚Der Verwandte Mohammeds oder die heilende Dummheit‘, eingetauscht. Hundert Jahre alt ist das Buch, in Moskau ist es erschienen, als es noch keine Zensur gab. Morosoff ist aber ein Liebhaber solcher Sachen. Er dankte mir noch ...“
Koljä hielt die kleine Kanone hoch, damit alle sie sehen konnten. Iljuscha richtete sich im Bett auf und betrachtete, den rechten Arm um den Hals Pereswonns geschlungen, ganz entzückt das Spielzeug. Doch der Effekt erreichte den höchsten Grad, als Koljä erklärte, daß er auch Pulver bei sich habe, und daß man sofort aus ihr schießen könne, wenn nur die Damen nichts dagegen hätten. „Mamachen“ verlangte natürlich, man möge ihr das Spielzeug näher zu betrachten geben, was sofort erfüllt wurde. Die kleine Kanone auf den blanken Rädern gefiel ihr ungeheuer, und sie rollte sie auf ihren Knien hin und her. Auf die Frage, ob sie zu schießen erlaube, gab sie sofort ihre Einwilligung, ohne übrigens zu begreifen, um was es sich handelte. Koljä zeigte das Pulver und das Schrot. Der Hauptmann übernahm, als früherer Offizier, das Laden und schüttete nur eine ganz kleine Portion Pulver in die Kanone; das Schrot bat er für ein anderes Mal aufzubewahren. Die Kanone wurde auf den Fußboden gestellt und auf eine leere Wand gerichtet, darauf stopfte man ins Zündloch drei kleine Pulverkörner und zündete sie mit einem Streichhölzchen an. Es erfolgte ein glänzender Schuß. „Mamachen“ zuckte zusammen, lachte aber sogleich auf vor Freude. Die Knaben hatten mit stummem Entzücken zugeschaut, doch am seligsten von allen war der Hauptmann: Das mußte doch seinem Iljuscha Freude bereiten! Koljä nahm die Kanone und schenkte sie unverzüglich Iljuscha, zusammen mit dem Pulver und Schrot.
„Das ist für dich, für dich!“ wiederholte er in seiner Glückseligkeit.
„Ach, schenken Sie sie mir! Nein, schenken Sie die kleine Kanone lieber mir!“ bat Mamachen plötzlich wie ein kleines Kind.
Ihr Gesicht drückte ängstliche Unruhe aus, in der Furcht, daß man sie ihr nicht schenken würde. Koljä war ganz verwirrt. Der Hauptmann wurde unruhig.
„Mamachen, Mamachen,“ rief er zu ihr laufend, „die Kanone gehört dir, dir, aber wir lassen sie nur bei Iljuscha, denn man hat sie ihm geschenkt, doch sonst wird sie dir gehören. Iljuscha wird sie dir zum Spielen geben, sie wird euch beiden zusammen gehören, beiden ...“
„Nein, ich will nicht zusammen, nein, mir soll sie gehören und nicht Iljuscha!“ bestand Mamachen auf ihrem Willen und wollte schon zu weinen anfangen.
„Mama, nimm sie für dich, nimm sie, Mama!“ rief plötzlich Iljuscha. „Krassotkin, kann ich sie meiner Mama schenken?“ wandte er sich mit bittender Miene zu Krassotkin, da er fürchtete, daß jener beleidigt sein würde, wenn er dessen Geschenk anderen gab.
„Gewiß kannst du das!“ willigte Krassotkin sofort ein, nahm die Kanone aus Iljuschas Hand und überreichte sie selbst mit der höflichsten Verbeugung dem Mamachen.
Die weinte fast vor Rührung.
„Iljuschetschka, mein Liebling, da sieht man, wer sein Mamachen liebt!“ sagte sie gerührt, und sie begann sofort wieder die Kanone auf ihren Knien hin- und herzurollen.
„Mamachen, erlaube, daß ich dir die Hand küsse!“ Ihr Gemahl lief wieder zu ihr hin und führte sofort seine Absicht aus.
„Und wer noch ein lieber junger Mann ist, das ist dieser gute Junge da!“ sagte Mamachen, auf Krassotkin weisend.
„Pulver werde ich dir soviel wie du nur willst bringen, Iljuscha. Wir machen jetzt selbst Pulver. Borowikoff weiß die Mischung: Vierundzwanzig Teile Salpeter, zehn Teile Schwefel und sechs Teile Birkenkohle, alles zusammen gemischt und gestoßen, Wasser hinzugefügt, ein weicher Teig daraus gemacht, zwischen Leder gerieben – und dann hat man das Pulver!“
„Mir hat Ssmuroff von eurem Pulver schon erzählt, aber Papa sagt, es sei kein wirkliches Pulver,“ antwortete Iljuscha.
„Wie denn, nicht wirkliches?“ Koljä errötete. „Es brennt doch. Ich weiß übrigens nicht ...“
„Nein, ich meinte nur so,“ wandte der Hauptmann ganz schuldbewußt ein. „Es ist wahr, ich habe gesagt, daß das echte Pulver nicht so zubereitet wird, doch das will nichts sagen, man kann auch so ...“
„Ich weiß es nicht, Sie müssen es besser wissen. Wir haben es in einem steinernen Pomadentopf angebrannt, es brannte vorzüglich, es brannte ganz ab, nur ein wenig Ruß blieb nach. Es war ja nur eine weiche Masse, wenn man die aber durchs Fell reibt ... Übrigens, Sie wissen es besser, ich weiß es nicht ... Aber den Bulkin hat sein Vater des Pulvers wegen durchgedroschen, hast du das schon gehört?“ wandte er sich wieder an Iljuscha.
„Ja, ich habe davon gehört,“ antwortete Iljuscha. Er hatte mit unendlichem Interesse und mit Entzücken Koljä zugehört.
„Wir hatten eine ganze Flasche Pulver zubereitet, und er hielt sie unter seinem Bett versteckt. Der Vater hatte es aber bemerkt. ‚Damit kannst du uns ja alle in die Luft sprengen,‘ hat er gesagt und ihn sofort durchgeprügelt. Und er soll sogar die Absicht gehabt haben, sich beim Gymnasialdirektor über mich zu beschweren ... Jetzt darf sein Sohn nicht mehr mit mir verkehren, jetzt darf niemand mehr mit mir verkehren. Auch Ssmuroff darf es nicht, bei allen bin ich verschrien, – man sagt, ich sei ein ‚Tollkühner‘.“ Koljä lächelte geringschätzig. „Das kommt alles von der Eisenbahnaffäre.“
„Ach ja, auch wir haben von Ihrem Stückchen gehört!“ fiel sofort der Hauptmann ein. „Wie haben Sie nur dort unten gelegen? Hatten Sie denn wirklich gar keine Angst, unter dem Eisenbahnzuge zu liegen? War es denn nicht furchtbar?“
Der Hauptmann versuchte, sich bei Koljä einzuschmeicheln.
„Nicht besonders,“ erwiderte Koljä nachlässig. „Meinen Ruhm hat mir nur diese verfluchte Geschichte mit der Gans verdorben,“ sagte er zu Iljuscha gewandt. Doch wie sehr er sich auch anstrengte, sich gleichmütig zu stellen, so konnte er sich doch nicht beherrschen und fiel immer wieder aus dem Ton.
„Ach ja, von der Gans habe ich auch gehört!“ rief Iljuscha lachend und über das ganze Gesicht strahlend. „Man hat mir davon erzählt, aber wie war es denn, ich habe nicht recht verstanden: bist du wirklich vom Richter verurteilt worden?“
„Es war eine nichtssagende Lappalie, ein dummer Scherz, aus dem man wieder einmal einen Elefanten gemacht hat,“ begann Koljä aufgeräumt. „Ich ging nämlich einmal hier über den Marktplatz, als gerade Gänse angetrieben wurden. Ich bleibe also stehen und betrachte sie. Da bemerke ich, daß neben mir ein Bursche steht, Wischnjäkoff – er ist jetzt Laufbursche bei Plotnikoffs – ja, daß er neben mir steht und mich ansieht. Und plötzlich fragt er mich: ‚Warum siehst du denn so auf die Gänse?‘ Ich blickte ihn an: eine dumme runde Fratze, der Kerl ist etwa zwanzig Jahre alt. Ich, wissen Sie, lehne das Volk nie ab. Ich habe es gern, mit dem Volke ... Jedenfalls sind wir zurückgeblieben im Vergleich zum Volke – das ist ein Axiom. Sie belieben zu lächeln, Karamasoff?“
„Gott bewahre! Ich bin ganz Ohr!“ antwortete Aljoscha mit der offenherzigsten Miene, und der argwöhnische Koljä beruhigte sich.
„Meine Theorie, Karamasoff, ist klar, und einfach,“ fuhr er wieder aufgeräumt fort. „Ich glaube an das Volk und bin immer bereit, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ohne es dabei im geringsten zu beschönigen, das ist sine qua ... Ja, richtig, ich erzählte ja von der Gans. Ich wende mich also an diesen Dummkopf und antworte ihm: ‚Ich denke darüber nach, was die Gans sich jetzt wohl denken mag.‘ Er sieht mich völlig blödsinnig an. ‚Was kann sich denn eine Gans denken?‘ fragt er. – ‚Nun, sieh mal,‘ sage ich, ‚dort steht eine Fuhre mit Hafer. Aus dem einen Sack fallen die Haferkörner heraus, und die Gans streckt den Hals genau vor dem Rade, ganz unten, nach den Körnern aus – siehst du sie?‘ – ‚Jawohl,‘ sagt er. – ‚Nun also,‘ sage ich, ‚wenn man nun den Wagen ein ganz klein wenig vorrückte – wird dann das Rad der Gans den Hals abschneiden oder nicht?‘ – ‚Selbstverständlich wird es ihn abschneiden,‘ sagt er und grinst übers ganze Maul, zerschmilzt einfach vor Wonne. – ‚Nun, dann los, Junge!‘ sage ich. – ‚Los!‘ sagt er. Wir brauchen uns nicht viel anzustrengen; er stellte sich ganz unauffällig an den Pferdekopf, ich zur Seite, um die Gans richtig hinzusteuern. Der Bauer aber gähnte und sprach mit einem anderen, so daß ich schließlich nichts zu dirigieren hatte: Die Gans streckte ganz von selbst den Hals wieder nach den Haferkörnern aus, genau vor dem Rade. Ich zwinkerte dem Burschen zu, er zog unmerklich ein wenig den Zaum und – kr – rack, fährt das Rad der Gans über den Hals. Natürlich mitten durch. Und da mußte es der Zufall gerade so fügen, daß im selben Augenblick alle auf uns sahen. Da war denn das Geschrei groß: ‚Das hat er absichtlich so gemacht!‘ – ‚Nein, ich habe es nicht absichtlich getan!‘ sagt der Bursch. Nun, versteht sich: ‚Zum Friedensrichter!‘ schreien sie. Auch ich wurde gepackt. – ‚Auch du warst dabei,‘ heißt es, ‚du bist der Anstifter, dich kennt ja schon der ganze Markt!‘ Mich kennt nämlich tatsächlich der ganze Markt,“ fügte Koljä selbstgefällig hinzu. „So pilgerten wir denn, alle Mann hoch, zum Friedensrichter. Auch der Leichnam unseres Opfers, die Gans, wurde mitgeschleppt. Meinem Burschen aber fiel mittlerweile das Herz in die Hosen. Er weint – weint wie ein altes Weib. Wir kamen also richtig beim Friedensrichter an. Der Viehhändler schreit: ‚Auf diese Weise kann man sie – d. h. die Gänse – ja alle um einen Kopf kürzer machen!‘ Nun, versteht sich, zuerst das Zeugenverhör. Der Friedensrichter erledigte die Sache sofort: Für die Gans dem Viehhändler einen Rubel zu zahlen, die Gans aber mag der Bursche behalten. Und daß man hinfort sich solche Scherze nicht mehr erlaube! Der Bursche aber weint immer noch wie ein altes Weib und jammert: ‚Das war nicht ich, ich bin ganz unschuldig, er hat mich dazu verleitet!‘ und will die ganze Schuld auf mich abwälzen. Ich antwortete mit voller Kaltblütigkeit, daß ich ihn zu nichts verleitet habe, daß ich nur den Grundgedanken gegeben und es bloß so als Plan ausgeheckt habe. Der Friedensrichter Nefedoff lächelte und ärgerte sich natürlich sofort darüber, daß er gelächelt hatte. ‚Ich werde Sie,‘ sagt er zu mir, ‚sofort bei Ihrem Schuldirektor anzeigen, damit es Sie weiterhin nicht mehr gelüstet, ähnliche Pläne zu machen, statt hinter den Schulbüchern zu sitzen.‘ Das hat er nun nicht getan, aber die Geschichte hat sich doch allmählich verbreitet und ist dann auf diese Weise unserer Schulobrigkeit zu Ohren gekommen – man hat dort bekanntlich sehr lange Ohren! Am meisten hat sich unser ‚Klassiker‘ Kolbassnikoff darüber empört, aber Dardaneloff ist wiederum für mich eingetreten. Dafür ist nun Kolbassnikoff wütend wie ein grüner Esel. Du, Iljuscha, du weißt doch schon, daß er sich verheiratet hat? Er hat von Michailoffs tausend Rubel Mitgift bekommen, die Braut aber hat einen Rüssel, sage ich dir, na, prima Qualität und in höchster Potenz. Die Quintaner haben denn auch sofort ein Epigramm verfaßt:
Es ging die Nachricht von Mund zu Mund:
‚Kolbassnikoff hat sich verlobt!‘
Ganz Quinta ward aber sprachlos zur Stund ...
und so weiter, – furchtbar komisch! Ich werde es dir einmal bringen. Gegen Dardaneloff aber habe ich nichts: Es ist ein Mensch mit Kenntnissen, mit reellen Kenntnissen. Solche Leute achte ich ... Das hat natürlich nichts damit zu tun, daß er mich verteidigt hat ...“
„Aber du hast ihm doch mit der Frage, wer Troja gegründet habe, ein Bein gestellt!“ bemerkte plötzlich Ssmuroff, der in diesem Augenblick auf seinen „Freund Krassotkin“ ungemein stolz war. Die Gänsegeschichte hatte ihm gar zu sehr gefallen.
„Wirklich? So ist es also wahr?“ griff sofort der Hauptmann dieses Thema auf. „Mit der Frage, wer Troja gegründet hat? Auch ich habe schon davon gehört, wie Sie ihm damit ein Bein gestellt haben. Iljuscha hat es mir damals erzählt ...“
„Er weiß alles, Papa, er weiß am meisten von uns allen!“ fiel nun auch Iljuscha stolz und freudig ein, „er tut nur so, als ob er so einer wäre, aber er ist doch bei uns in allen Fächern der erste ...“
Iljuscha blickte Koljä in grenzenlosem Glück selig lächelnd an.
„Ach, das von Troja ist doch nur Unsinn, nur ein Scherz. Ich halte diese Frage selbst für müßig,“ meinte Koljä mit stolzer Bescheidenheit.
Es war ihm inzwischen gelungen, in den richtigen Ton hineinzukommen, doch war er trotzdem etwas unruhig: Er fühlte, daß er sehr aufgeregt war und von der Gans z. B. schon gar zu lebhaft erzählt hatte. Aljoscha aber hatte während der ganzen Erzählung geschwiegen und war unerschütterlich ernst. Das nagte nun dem selbstgefälligen Knaben am Herzen. „Oder sollte er vielleicht deswegen schweigen,“ fragte er sich, „weil er mich verachtet und bei sich denkt, daß ich von ihm gelobt werden will? In dem Falle, wenn er es wagt, so etwas zu denken, werde ich ...“
„Ja, ich halte diese Frage für unbedingt müßig,“ sagte er nochmals und brach stolz ab.
„Ich weiß aber, wer Troja gegründet hat,“ sagte plötzlich ganz unerwartet ein kleiner Knabe, der bis dahin noch kein Wort gesprochen hatte, überhaupt schweigsam und ersichtlich schüchtern war. Er sah sehr nett aus und schien etwa elf Jahre alt zu sein. Er hieß Kartascheff.
Koljä blickte sich verwundert und wichtig nach dem Kleinen, der bei der Tür saß, um. Die Sache war nämlich die, daß die Frage, wer nun eigentlich Troja gegründet hatte, für alle Schüler zu einem interessanten Problem geworden war. Um die Namen der Gründer zu erfahren, mußte man im Ssmaragdoff nachlesen. Den aber besaß außer Koljä niemand. Nun hatte der kleine Kartascheff, während Koljä mit anderem beschäftigt gewesen war, flugs den Ssmaragdoff, der zwischen seinen Schulbüchern gelegen hatte, aufgeschlagen und zufällig gerade die Stelle gefunden, die von der Gründung Trojas handelte. Das war schon vor verhältnismäßig ziemlich langer Zeit geschehen, aber er hatte sich immer gescheut und geschämt, den anderen Jungen zu sagen, daß er es gleichfalls wußte, und teilweise fürchtete er sich auch, da daraus leicht etwas entstehen oder Koljä ihn in Verlegenheit bringen konnte. Nun aber hatte er plötzlich nicht an sich halten können und doch gesagt, was er schon lange hatte sagen wollen.
„Na, wer denn?“ fragte Koljä von oben herab, da er dem Kleinen am Gesicht ansah, daß jener es in der Tat wußte, und er bereitete sich natürlich sofort auf die Folgen vor. In die allgemeine Stimmung war plötzlich ein Mißton gekommen.
„Troja gründeten Teukros, Dardanos, Illys und Tros,“ sagte der Junge laut, langsam und deutlich, und kaum hatte er es ausgesprochen, als er auch schon errötete – und zwar so errötete, daß er einem leidtat, wenn man ihn ansah. Die Augen aller Knaben waren unverwandt auf ihn gerichtet, etwa eine Minute lang, und dann plötzlich wandten sich aller Blicke von ihm auf Koljä. Der blickte immer noch mit verächtlicher Kaltblütigkeit auf den Kleinen.
„Das heißt, wie haben sie denn gegründet?“ geruhte er endlich zu fragen. „Und was heißt das überhaupt, eine Stadt oder ein Reich gründen? Sind sie etwa hingekommen und haben sie dann jeder einen Ziegelstein hingelegt, wie?“
Man lachte. Der schuldbewußte Kleine wurde noch röter, purpurrot. Er schwieg und war dem Weinen nahe. Koljä aber erbarmte sich seiner nicht so schnell.
„Um über solche historische Ereignisse, wie die Gründung einer Nation, reden zu können, muß man sich zuerst darüber klar werden, was das eigentlich heißt,“ sagte er streng zur Belehrung. „Übrigens messe ich diesen Altweibergeschichten keinerlei Bedeutung bei, und überhaupt achte ich die Allgemeine Geschichte nicht sonderlich,“ fügte er nachlässig hinzu, diesmal wieder zu allen gewandt.
„Wie, die Allgemeine Geschichte?“ erkundigte sich der Hauptmann fast entsetzt.
„Ja, die sogenannte Allgemeine Geschichte – das ist doch nur die Erlernung einer ganzen Reihe von menschlichen Dummheiten und weiter nichts. Achtung habe ich nur vor der Mathematik und den Naturwissenschaften,“ sagte Koljä majestätisch, indem er flüchtig zu Aljoscha hinüberblickte: es war ja nur dessen Meinung, die er hier fürchtete.
Aljoscha jedoch schwieg die ganze Zeit über und war nach wie vor vollkommen ernst. Hätte er etwas dagegen gesagt, so wäre es dabei geblieben, er aber schwieg, und dies konnte sehr wohl aus Verachtung geschehen. Der Gedanke an diese Möglichkeit machte Koljä geradezu wild.
„Und dann überhaupt – die klassischen Sprachen, zum Beispiel. Das ist doch absolut nichts anderes als Blödsinn ... Sie scheinen wieder nicht mit mir übereinzustimmen, Karamasoff?“
„Nein,“ sagte Aljoscha mit zurückhaltendem Lächeln.
„Die klassischen Sprachen sind, wenn Sie meine ganze Meinung darüber wissen wollen, eine polizeiliche Maßregel, und das ist der einzige Zweck, zu dem sie eingeführt sind!“ Koljä geriet allmählich wieder in Hitze. „Sie sind eingeführt, weil sie langweilig sind und die Fähigkeiten abstumpfen. Es war langweilig, wie sollte man es nun noch langweiliger machen? Es war sinnlos, wie sollte man es nun noch sinnloser machen? Und da dachte man sich denn die klassischen Sprachen aus. Das ist meine Meinung über die klassischen Sprachen, und ich hoffe, daß ich sie nie ändern werde,“ schloß Koljä schroff.
Auf seinen Wangen zeichneten sich zwei rote Flecke ab.
„Das ist wahr,“ sagte plötzlich der kleine Ssmuroff, der aufmerksam zugehört hatte, mit heller und überzeugter Kinderstimme.
„Und selbst ist er der Erste im Lateinischen!“ rief plötzlich ein anderer Knabe laut.
„Ja, Papa, er sagt das so, aber selbst ist er im Lateinischen der Erste in der Klasse,“ sagte gleich darauf auch Iljuschetschka.
„Was ist denn dabei?“ Koljä fand es für nötig, sich zu rechtfertigen, obgleich ihm das Lob nicht unangenehm war. „Ich lerne Latein, weil man es muß, weil ich meiner Mutter versprochen habe, das Gymnasium zu absolvieren. Und meiner Meinung nach muß man das, was man einmal tut, dann auch gründlich tun. Im Herzen aber verachte ich tief den Klassizismus und diese ganze Gemeinheit ... Sind Sie nicht mit mir einverstanden, Karamasoff?“
„Aber warum soll das denn eine ‚Gemeinheit‘ sein?“ fragte Aljoscha und lächelte wieder.
„Aber ich bitte Sie! Sämtliche Klassiker sind doch in alle Sprachen übersetzt, folglich brauchen wir ja nicht zur Erlernung der Klassiker Latein – sondern ... wegen der polizeilichen Maßregel, die darin liegt, d. h. zur Gewöhnung an das ‚du mußt, wenn du auch nicht weißt, warum und wozu‘. Und dann vor allem zur Abstumpfung der Fähigkeiten. Wie gesagt. Und das soll nun keine Gemeinheit sein?“
„Wer hat Ihnen denn das alles eingeredet?“ fragte Aljoscha verwundert.
„Erstens kann ich sehr wohl selbst darüber urteilen, ohne daß ich mir etwas einreden lasse, und zweitens, wissen Sie, hat dasselbe, was ich Ihnen soeben von den übersetzten Klassikern sagte, auch der Lehrer Kolbassnikoff in der Quinta gesagt ...“
„Der fremde Professor ist angekommen!“ sagte plötzlich Ninotschka, die die ganze Zeit geschwiegen hatte.
An der Hofpforte hielt Frau Chochlakoffs Equipage. Der Hauptmann, der den berühmten Arzt schon seit dem Morgen erwartet hatte, stürzte Hals über Kopf hinaus. Das Mamachen richtete sich auf und nahm eine feierliche Miene an. Aljoscha trat an Iljuschas Bettchen und versuchte die Kissen ein wenig zu ordnen. Die Knaben verabschiedeten sich eilig, einige von ihnen versprachen noch, am Abend wiederzukommen. Koljä rief seinen Pereswonn, und der sprang mit einem Satz vom Bett herab.
„Ich gehe noch nicht fort, ich bleibe noch hier!“ flüsterte Koljä eilig Iljuscha zu. „Ich werde im Flur warten und dann wiederkommen, wenn der Professor fortgefahren ist, mit Pereswonn wiederkommen.“
Da trat aber der Professor bereits herein – eine imposante Erscheinung im Bärenpelz mit langem, dunklem Backenbart und glänzendem rasiertem Kinn. Nachdem er über die Schwelle getreten war, blieb er zuerst ganz verdutzt stehen: Wahrscheinlich glaubte er, sich in der Tür versehen zu haben.
„Was soll denn das bedeuten? Wo bin ich denn hier hineingeraten?“ brummte er in den Bart. Er stand verständnislos an der Tür, ohne den Pelz abzuwerfen oder seine Seebärmütze, deren Schirm gleichfalls mit Seebärfell überzogen war, abzunehmen. Die vielen Menschen, die Ärmlichkeit der Stube, die in der Ecke auf einer Schnur hängende Wäsche verstimmten und befremdeten ihn sichtlich. Der Hauptmann bog sich vor ihm das Rückgrat krumm.
„Sie sind hier, hier bei uns,“ stotterte er untertänig, „hier, jawohl, bei uns, zu denen Sie ...“
„Ssnegireff?“ fragte der Professor laut und wichtig. „Herr Ssnegireff – sind Sie das?“
„Ja, ich!“
„Ah!“
Der Professor blickte sich noch einmal angeekelt im Zimmer um und warf dann seinen Pelz ab. An seinem Halse blitzte ein bedeutender Orden, der allen sofort in die Augen stach. Der Hauptmann fing den Pelz auf, und der Professor nahm die Mütze ab.
„Wo ist denn hier der Patient?“ fragte er laut und wichtig.