IV. Shutschka

Koljä lehnte sich mit wichtiger Miene an den Zaun und erwartete Aljoschas Erscheinen. Eigentlich hatte er sich schon lange auf diesen Augenblick vorbereitet, denn im Grunde wollte er mehr als gern seine Bekanntschaft machen. Viel hatte er von ihm gehört, besonders durch die kleineren Schüler, doch hatte er sich absichtlich immer überlegen-gleichmütig gestellt, wenn man von ihm sprach, hatte sogar Aljoschas Tun „kritisiert“, was jedoch nicht hinderte, daß er aufmerksam zuhörte, wenn man von ihm sprach. Ja, er wollte ungeheuer gern Alexei Karamasoff kennen lernen, denn in allem, was er über ihn gehört hatte, war etwas ungemein Sympathisches und Anziehendes gewesen. So war denn auch dieser Augenblick am Zaun ein sehr wichtiger: vor allen Dingen durfte man sich nicht blamieren, man mußte sich eben vollkommen selbständig zeigen, denn: „Sonst könnte er merken, daß ich dreizehnjährig bin, und mich für einen ebensolchen Knaben halten wie jene Kleinen. Was hat er nur an ihnen? Sollte ich ihn das nicht vielleicht fragen, wenn er kommt? Das Gemeine ist nur, daß ich noch so klein von Wuchs bin. Tusikoff zum Beispiel, ist doch jünger als ich und trotzdem um einen halben Kopf länger. Nur mein Gesicht ist nicht so dumm. Ich bin nicht gerade schön zu nennen, ich weiß, ich habe ein scheußliches Gesicht, aber dafür ist es klug. Auch darf ich nicht gar zu freundlich sein, ich muß mich sogar unbedingt zurückhaltender zeigen, denn wenn man ihn gleich mit offenen Armen empfängt, kann er ja denken ... Pfui, das wäre aber gemein, wenn er dächte, daß ich –! ...“

So regte Koljä sich unnütz auf, während er wartete und sich aus allen Kräften bemühte, eine möglichst ungezwungene Haltung anzunehmen. Am meisten quälte ihn, daß er so klein von Wuchs war, ja, gar nicht so sehr das „scheußliche“ Gesicht, wie gerade der kleine Wuchs quälte ihn. Zu Hause hatte er schon im vorigen Jahre mit der Bleifeder ein Zeichen an der Wand gemacht, das seine Größe an dem und dem Tage angab, und seit der Zeit ging er alle zwei Monate einmal an diese Wand, um zu messen, wieviel er inzwischen gewachsen war. Doch leider wuchs er sehr langsam, was ihn bisweilen fast zur Verzweiflung brachte. Was nun sein Gesicht anbelangt, so war es durchaus nicht „scheußlich“, sondern sogar recht nett: ein weißes, etwas blasses Knabengesicht mit Sommersprossen auf dem Näschen. Seine grauen, nicht großen, doch lebhaften Augen blickten dreist in die Welt, und oftmals wurden sie dunkel von tiefem Gefühl. Die Kinnbacken waren etwas breit, die Lippen klein und ziemlich schmal, dafür aber sehr rot; die Nase war gleichfalls klein, und die Spitze guckte impertinent in die Luft: „Eine ausgesprochene Stumpfnase, das reinste Exemplar von dieser Sorte!“ sagte sich Koljä, wenn er vor dem Spiegel stand und ihm jedesmal tief verstimmt wieder den Rücken kehrte. „Und ist denn das Gesicht auch wirklich klug?“ fragte er sich mitunter, wenn er selbst daran zu zweifeln begann. Übrigens muß man nun nicht denken, daß die Sorge um seinen Wuchs und die Nase seine ganze Seele erfüllte. Nein, das war durchaus nicht der Fall. Wie schwer auch die Minuten vor dem Spiegel zuweilen waren, er vergaß sie doch schnell und auf lange Zeit, indem er sich mit Leib und Seele den „Ideen und dem wirklichen Leben“ hingab, wie er selbst seine Tätigkeit bezeichnete.

Aljoscha erschien sehr bald und trat schnell auf Koljä zu. Dieser hatte sofort bemerkt, daß Aljoscha auffallend freudig aussah. „Sollte er sich wirklich über mich so freuen?“ dachte Koljä, angenehm berührt. Bei der Gelegenheit mag noch erwähnt werden, daß Aljoscha sich in der Zwischenzeit sehr verändert hatte. Er hatte die Kutte ausgezogen und trug einen kurzen, tadellos gearbeiteten Rock, einen runden, weichen Filzhut und kurzgeschorenes Haar. Das alles stand ihm vortrefflich. Er sah geradezu schön aus. Sein anziehendes Gesicht hatte einen heiteren Ausdruck, doch war diese Heiterkeit von einer ganz eigenartigen Stille und Ruhe. Zu Koljäs Verwunderung kam Aljoscha so, wie er im Zimmer gesessen hatte, zu ihm heraus, trotz der scharfen Kälte ohne Überzieher. Augenscheinlich hatte er sich sehr beeilt.

Aljoscha streckte ihm sofort die Hand entgegen.

„Da sind Sie ja endlich! Wie wir Sie erwartet haben!“

„Ich hatte meine Gründe, die Sie sofort erfahren werden. Jedenfalls freut es mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe eigentlich schon lange auf die Gelegenheit gewartet ... ich habe viel von Ihnen gehört ...“ sagte Koljä etwas außer Atem.

„Wir wären ja auch so zusammengekommen; auch ich habe viel von Ihnen gehört; hierher aber sind Sie leider etwas zu spät gekommen.“

„Ja, sagen Sie doch, wie steht es hier?“

„Iljuscha geht es sehr schlecht, er wird nicht mehr lange leben.“

„Was? Wie ist das möglich? Aber da müssen Sie doch zugeben, Karamasoff, daß die Medizin nichts als Quacksalberei ist!“ rief Koljä aufrichtig empört.

„Iljuscha hat oft, sehr oft nach Ihnen gefragt, sogar in der Nacht, wenn er phantasierte, hat er Ihren Namen genannt. Daraus sieht man, wie lieb Sie ihm gewesen sind ... früher ... vor jenem Messerstich Außerdem gibt es noch andere Gründe, die ... Sagen Sie, ist das Ihr Hund?“

„Ja. Mein Pereswonn.“

„Und nicht Shutschka?“ Aljoscha blickte traurig und enttäuscht Koljä in die Augen. „So ist denn Shutschka wirklich ganz und gar verschwunden?“

„Ich weiß, daß Sie alle gern Shutschka wiederfinden wollten, ich habe es gehört,“ sagte Koljä mit rätselhaftem Lächeln. „Hören Sie, Karamasoff, ich werde Ihnen die ganze Sachlage erklären, ich bin ja hauptsächlich nur darum gekommen, und deswegen habe ich Sie auch herausrufen lassen, um Ihnen vorher die ganze Episode zu erzählen, ich meine, bevor wir hineingehen,“ begann Koljä lebhaft. „Sehen Sie, Karamasoff, im Frühling trat Iljuscha in die Vorbereitungsklasse ein. Nun, man weiß doch, wie die ist: Kleine, dumme Jungen, Iljuscha wurde sofort von allen geneckt. Ich beobachtete, da ich doch zwei Klassen höher sitze, alles nur aus der Ferne. Ich sah, es ist ein kleiner, schwächlicher Junge, aber er duckt sich nicht, er prügelt sich mit jedem, der ihn neckt, er ist stolz, die Augen blitzen nur so. Solche Jungen gefallen mir. Sie aber neckten ihn noch mehr. Hauptsächlich taten sie es darum, weil er damals ganz alte Kleider trug. Seine Höschen kletterten an den Beinchen hinauf und die Stiefelspitzen waren entzwei und glichen zwei hungrigen Mäulchen. Darum neckten sie ihn und machten sich über ihn lustig. Nein, das liebe ich nicht. Ich griff sofort ein und gab ihnen gehörig Extrapfeffer. Ich verhaue sie doch, sie aber vergöttern mich trotzdem, wissen Sie das schon, Karamasoff?“ – prahlte Koljä halb unbewußt. „Und überhaupt habe ich Kinder ganz gern. Mir sitzen außerdem noch zu Hause zwei Nestlinge auf dem Halse, heute haben sie mich sogar unverzeihlich lange aufgehalten. So hörten die Jungen denn auf, Iljuscha zu necken oder zu verprügeln, da ich ihn unter meine Protektion genommen hatte. Ich sah sofort, daß er stolz war, sehr stolz, das sage ich Ihnen, aber schließlich unterwarf er sich mir ganz, geradezu sklavisch. Er erfüllte jeden Befehl, den ich gab, gehorchte mir wie einem Gott, und war bald auf dem besten Wege, mich zu imitieren. In den Pausen zwischen den Stunden kam er jedesmal sofort zu mir, und wir spazierten dann zusammen. Sonntags kam er gleichfalls zu mir. Bei uns im Gymnasium lacht man darüber, wenn ein Älterer mit einem von den Kleinen geht und sich dazu noch so kameradschaftlich zu ihm verhält. Aber das ist ja nur ein Vorurteil. Es ist nun einmal mein Einfall, ich will es so, und damit basta, nicht wahr? Ich belehre ihn also, trage viel zu seiner Entwicklung bei, – und warum, sagen Sie doch selbst, warum soll ich das nicht tun, wenn er mir gefällt? Da haben wir doch zum Beispiel Sie, Karamasoff; Sie haben sich ja gleichfalls mit diesen Kindern angefreundet, das bedeutet doch, daß Sie auf die junge Generation einwirken wollen, daß Sie sie entwickeln wollen, kurz, daß Sie nützlich sein wollen, nicht wahr? Und ich muß gestehen, dieser Ihr Charakterzug, von dem ich viel gehört habe, hat mich am meisten interessiert. Übrigens zur Sache: Ich bemerkte also bald, daß in dem Jungen sich eine gewisse Empfindsamkeit, eine gewisse Sentimentalität entwickelte, ich aber, wissen Sie, bin ein ausgesprochener Feind aller Kälberzärtlichkeiten, und zwar schon von Geburt an. Und zudem sind das doch Widersprüche: er ist stolz, mir aber sklavisch ergeben, – sklavisch ergeben, und plötzlich blitzen die Äuglein auf, und er will nicht einmal mehr übereinstimmen mit mir, streitet, kriecht womöglich an der Wand hinauf! Ich habe mitunter Ideen verfochten, er aber fängt plötzlich an mir zu widersprechen, nur sind es, wie ich alsbald einsehe, nicht die Ideen, die er angreift, sondern er empört sich gegen mich persönlich, weil ich seine Zärtlichkeit mit Kaltblütigkeit erwidere. Nun, und um ihn jetzt zu erziehen, werde ich, je zärtlicher er zu mir wird, desto kälter zu ihm. Ich tat es absichtlich. Meiner Überzeugung nach mußte ich es gerade so machen. Mein Ziel war, seinen Charakter zu bilden, auszugleichen, einen Menschen aus ihm zu machen ... nun, und so weiter ... Sie verstehen mich natürlich auch ohne Worte. Plötzlich bemerke ich, er ist niedergeschlagen, den einen Tag, den zweiten, dritten – und diesmal nicht wegen der Zärtlichkeiten oder Nichtzärtlichkeiten, sondern aus einem anderen, gewichtigeren, höheren Grunde. Was ist denn das für eine Tragödie, denke ich. Ich dringe in ihn, bis ich schließlich die ganze Sache erfahre. Er war auf irgendeine Weise mit dem Diener Ihres verstorbenen Vaters, der damals noch lebte, mit dem Ssmerdjäkoff, zusammengekommen, und dieser hatte ihm, dem dummen kleinen Jungen, etwas ganz Blödsinniges gezeigt, das heißt vielmehr etwas wahrhaft tierisch Rohes – nämlich aus Brot, aus weichem, teigartigem Brot, eine Kugel zu kneten, eine Stecknadel hineinzustecken und diesen Brotball dann einem Hofhunde vorzuwerfen – einem von jenen verhungerten, die die Bissen gierig hinunterschlucken –, und dann zuzusehen, was der Hund macht. Und so hatten sie denn beide so eine Kugel fabriziert und diesem selben zottigen Hunde vorgeworfen, dem Shutschka, der dort auf dem Hof, wo er war, überhaupt nichts zu fressen bekam, und nur die ganze Nacht in den Wind hinausheulte. – Lieben Sie dieses dumme Gebell, Karamasoff? Ich kann es nicht ausstehen! – Nun, der verhungerte Hund hatte natürlich sofort zugeschnappt und hinuntergeschluckt, und dann hat er gleich zu heulen und zu winseln angefangen, ja, er hat sich immer winselnd im Kreise herumgedreht und dann plötzlich ist er winselnd und aufheulend fortgelaufen und – verschwunden. So hat es mir Iljuscha selbst erzählt. Er gestand es mir und weinte dabei, umklammerte mich und weinte herzbrechend. ‚Er lief und winselte, lief und winselte,‘ wiederholte er immer wieder, dermaßen hatte ihn dieses Bild gepackt. Das waren also Gewissensbisse bei ihm. Ich nahm es ernst. Ich wollte ihm hauptsächlich wegen des früheren Verhaltens eine Lektion erteilen, und so habe ich denn, ich muß gestehen, etwas Komödie gespielt, mich absichtlich verstellt, als wäre ich in einer Weise empört darüber, wie ich es in Wirklichkeit vielleicht gar nicht war. ‚Du hast eine niedrige, schändliche Tat begangen,‘ sage ich zu ihm, ‚du bist ein Schurke. Ich werde natürlich nicht ausposaunen, was du getan hast, aber vorläufig breche ich jeden Verkehr mit dir ab. Ich werde mir die Sache noch überlegen und dich dann durch Ssmuroff wissen lassen – durch denselben Knaben, mit dem ich heute gekommen bin, der Sie soeben herausgerufen hat, er ist mir immer ergeben gewesen –, ob ich hinfort noch mit dir Umgang pflegen kann, oder ob ich dich als einen erklärten Schuft überhaupt nicht mehr kennen will.‘ Das ging ihm schrecklich nahe. Offen gestanden, ich fühlte schon damals, daß ich vielleicht doch zu streng war, aber was sollte ich tun – das war nun einmal mein Prinzip. Darauf, am nächsten Tage, schicke ich Ssmuroff zu ihm und lasse sagen, daß ich ‚nicht mehr mit ihm sprechen werde‘ – das sagt man so bei uns, wenn zwei Kameraden ihre Freundschaft brechen. Das Geheimnis bestand aber darin, daß ich ihn nur ein paar Tage lang in Acht und Bann halten und ihm dann wieder die Hand reichen wollte, wenn ich seine Reue sehen würde. Das war meine feste Absicht. Aber was glauben Sie wohl, nachdem er Ssmuroff angehört hat, schreit er ihm mit blitzenden Augen zu: ‚Sage Krassotkin, daß ich von jetzt ab allen Hunden solche Brotkugeln mit Stecknadeln vorwerfen werde, allen, allen!‘ – Aha, dachte ich, das Kerlchen rebelliert, ein freier Geist scheint sich eingeschlichen zu haben, nun, den muß man ausräuchern. Und ich begann ihm meine tiefe Verachtung zu zeigen; wenn wir einander begegneten, wandte ich mich von ihm ab, oder ich lächelte ironisch. Da aber kam plötzlich diese Geschichte mit dem Vater dazwischen, Sie wissen doch, mit dem Bastwisch. Jetzt sehen Sie, wie er schon vorbereitet war – zu dieser ganzen Katastrophe mit dem Vater. Als aber die Knaben sahen, daß ich ihn verlassen hatte, da ging es wieder los mit dem Necken: ‚Bastwisch, Bastwisch!‘ Und da begannen denn zwischen ihnen wieder die Schlachten mit Kieselsteinen. Das tut mir jetzt schrecklich leid, denn ich glaube, damals haben sie ihn einmal furchtbar verprügelt. Eines Tages aber warf er sich auf dem Hof gegen die ganze Bande, als wir Älteren gerade nach der letzten Stunde die Schule verließen, und ich blieb etwa zehn Schritt von ihm stehen und sah ihm zu. Auf Ehrenwort, ich erinnere mich nicht mehr, ob ich damals gelächelt habe oder nicht; ich weiß nur noch, daß er mir in dem Augenblick maßlos, nein wirklich, maßlos leid tat. Noch einen Augenblick – und ich hätte mich dazwischen geworfen, um ihn zu verteidigen. Da aber erblickte er mich plötzlich; ich weiß nicht, was er in meinem Blick gesehen hat, – er riß sein Federmesser heraus, stürzte sich auf mich und stach mich in den Schenkel, hier, gerade hier am rechten Bein. Ich rührte mich nicht, ich muß gestehen, ich bin zuweilen recht tapfer, Karamasoff. Ich blickte ihn nur verächtlich an, als wollte ich mit dem Blick sagen: ‚Willst du mich vielleicht noch einmal stechen, zum Dank für meine Freundschaft, so stehe ich zu Diensten.‘ Er aber stach nicht zum zweitenmal, er hielt es nicht aus, er erschrak selbst, warf das Messer fort, weinte laut auf und lief davon. Ich petzte natürlich nicht und befahl auch den anderen, zu schweigen, damit es die Lehrer nicht erführen, und selbst meiner Mutter sagte ich es erst, als alles schon zugeheilt war. Und die Narbe war ja auch ganz unbedeutend, nur so eine etwas tiefere Schramme. Darauf höre ich, daß er am selben Tage noch eine Schlacht geliefert und Sie in den Finger gebissen hat, – aber Sie begreifen doch, in welch einer Verfassung er sich damals befand! Nun, jetzt ist es nicht mehr gutzumachen. Ich war damals sehr dumm: als er darauf erkrankte, ging ich nicht hin, um ihm alles zu verzeihen, ich meine, um mich wieder in aller Freundschaft mit ihm zu versöhnen. Das ist nun die ganze Geschichte ... nur glaube ich, daß ich es dumm gemacht habe ...“

„Ach, wie schade,“ unterbrach ihn Aljoscha erregt, „daß ich nicht früher von diesen Ihren Beziehungen zu ihm erfahren habe, sonst wäre ich schon längst zu Ihnen gekommen und hätte Sie gebeten, mit mir zusammen Iljuscha zu besuchen. Glauben Sie mir, er hat im Fieber fast nur von Ihnen phantasiert. Ich ahnte nicht, wie teuer Sie ihm sein müssen. Und haben Sie denn Shutschka wirklich nicht gesucht und nicht gefunden? Sein Vater und die Knaben haben in der ganzen Stadt nachgefragt. Wissen Sie, er hat dreimal während der Krankheit, in Tränen aufgelöst, gesagt: ‚Ich bin nur davon krank, Papa, daß ich Shutschka damals umgebracht habe, dafür bestraft mich jetzt Gott.‘ Von diesem Gedanken kann man ihn nicht abbringen! Wenn man ihm aber jetzt diesen Hund wiederbringen und ihm zeigen könnte, daß er nicht gestorben ist und lebt, so würde er vielleicht vor Freude noch gesund werden. Wir haben alle auf Sie gehofft.“

„Aber warum denn gerade auf mich? Warum sollte denn gerade ich Shutschka finden?“ fragte Koljä mit auffallender Wißbegier. „Warum hofften Sie nicht auf einen anderen?“

„Ja, es hieß, daß Sie den Hund krampfhaft suchten, und wenn Sie ihn gefunden hätten, zu Iljuscha bringen würden. Ssmuroff ließ einmal etwas in der Art verlauten. Wir bemühen uns vor allem, ihn zu überzeugen, daß der Hund lebt, daß wir ihn irgendwo gesehen hätten. Die Knaben brachten ihm ein lebendiges Häschen mit, er sah es aber nur einmal an, lächelte kaum und bat, es wieder aufs Feld zu bringen und freizulassen. Dies taten wir denn auch. Und soeben kehrte sein Vater zurück und brachte ihm einen ganz kleinen Bullenbeißer mit, er hatte ihn sich irgendwoher verschafft. Er hoffte, ihn damit zu trösten, aber es kam, glaube ich, umgekehrt heraus, denn Iljuscha wurde nur noch trauriger ...“

„Aber sagen Sie mir noch eines, Karamasoff: dieser Vater, was ist der eigentlich? Ich kenne ihn, aber was ist er im Grunde ... Ihrer Meinung nach – ein Narr, ein Bajazzo?“

„O nein. Es gibt Menschen, die das Leben in Tiefe empfinden, zu gleicher Zeit aber wie von der Welt unter die Füße getreten sind. Das Possentreiben ist bei ihnen wie eine boshafte Ironie denen gegenüber, welchen sie infolge ihrer eingefleischten Schüchternheit nicht die Wahrheit ins Gesicht zu sagen sich erdreisten können. Glauben Sie mir, Krassotkin, solches Narrenspielen ist zuweilen sehr tragisch. Für ihn gibt es jetzt außer Iljuscha nichts mehr auf der Welt. Iljuscha ist für ihn die ganze Welt. Wenn Iljuscha nun stirbt, wird er entweder geisteskrank werden oder sich das Leben nehmen. Davon bin ich so gut wie überzeugt, nachdem ich ihn jetzt wieder gesehen habe.“

„Ich verstehe Sie, Karamasoff, ich sehe, Sie kennen den Menschen gut,“ sagte Koljä ernst.

„Als ich aber vorhin den Hund bei Ihnen sah, dachte ich, daß es Shutschka sei, den Sie mitgebracht haben, und freute mich für Iljuscha.“

„Warten Sie, Karamasoff, vielleicht werden wir Shutschka noch finden ... Das hier ist mein Pereswonn. Ich werde ihn später ins Zimmer hineinlassen und mit ihm Iljuscha vielleicht mehr zerstreuen, als mit einem echten Bullenbeißer. Warten Sie, Karamasoff, Sie werden sofort etwas erfahren ... Ach, mein Gott, da halte ich Sie, ohne mir dabei etwas zu denken, hier im Freien solange auf!“ unterbrach sich Koljä plötzlich ganz erschrocken. „Sie stehen im leichten Rock bei dieser Kälte, und ich denke nicht einmal daran! Sehen Sie, sehen Sie, was für ein Egoist ich bin! Oh, wir sind alle riesige Egoisten, Karamasoff!“

„Beruhigen Sie sich, es ist allerdings kalt, aber ich erkälte mich nicht so leicht. Doch gehen wir jetzt. Bei der Gelegenheit: Wie heißen Sie? Ich weiß: Koljä, aber wie weiter?“

„Nikolai, Nikolai Iwanow Krassotkin, oder, wie man im Bureaustil sagt: Sohn des Iwan Krassotkin,“ sagte Koljä und lachte – weiß Gott, worüber. Doch plötzlich fügte er hinzu:

„Ich hasse natürlich meinen Namen Nikolai.“

„Warum denn das?“

„Er ist so trivial, so beamtenmäßig ...“

„Und Sie sind dreizehn Jahre alt?“ fragte Aljoscha.

„Das heißt, vierzehn, in zwei Wochen vierzehn, also sehr bald. Ich muß Ihnen im voraus meine größte Schwäche eingestehen, Karamasoff, dies mag das erste Bekenntnis nach der Bekanntschaft mit Ihnen sein. Ich will es nur Ihnen sagen, damit Sie sofort mein ganzes Wesen durchschauen können. Also: Ich hasse es, wenn man mich nach meinem Alter fragt, es ist sogar noch mehr als nur Haß, was ich dabei empfinde ... Und dann ... man verleumdet mich ... Da heißt es zum Beispiel, ich hätte mit den Schülern der Vorbereitungsklasse Räuber gespielt. Daß ich mit ihnen gespielt habe, ist allerdings Tatsache, daß ich es aber zu meinem Vergnügen getan hätte, ist eine entschiedene Verleumdung. Ich habe Grund anzunehmen, daß dieses Gerücht auch bis zu Ihnen gedrungen ist, aber ich versichere Ihnen: ich habe nicht zu meinem Vergnügen gespielt, sondern um den Kleinen ein Vergnügen zu bereiten, denn ohne mich verstanden sie sich nichts auszudenken. Und nun verbreiten die Klatschbasen solchen Unsinn über mich! Unsere holde Stadt sollte eigentlich ‚Klatschstadt‘ heißen, das sage ich Ihnen!“

„Und wenn Sie auch zu Ihrem eigenen Vergnügen gespielt hätten, was wäre denn dabei?“

„Aber, ich bitte Sie, zum eigenen Vergnügen! ... Sie werden z. B. doch nicht anfangen mit kleinen Kindern Pferdchen zu spielen?“

„Sehen Sie doch die Sache von einem anderen Standpunkte aus an,“ sagte Aljoscha lächelnd: „Ins Theater zum Beispiel fahren Erwachsene, im Theater aber werden doch auch nur die Erlebnisse von Helden dargestellt, zuweilen gleichfalls mit Räubern und Krieg. Ist das nun nicht ganz dasselbe, frage ich Sie, nur in einer etwas anderen Art? Wenn aber Jungen in der Erholungspause Krieg spielen oder Räuber, wie Sie sagten, – das ist doch nichts anderes als entstehende Kunst, oder das in der jungen Seele entstehende Bedürfnis nach Kunst. Und gar manchesmal werden diese Spiele viel besser komponiert als die Vorstellungen im Theater. Der Unterschied besteht bloß darin, daß man ins Theater fährt, um dort Schauspieler zu sehen, hier aber die Jungen selbst Schauspieler sind. Aber das ist ja doch nur natürlich.“

„Ist das wirklich Ihre Ansicht? Ist das Ihre Überzeugung?“ Koljä sah ihn groß und aufmerksam an. „Wissen Sie, Karamasoff, Sie haben einen außerordentlich interessanten Gedanken ausgesprochen. Wenn ich nach Haus komme, werde ich meinen Hirnkasten wegen dieser Frage etwas in Bewegung setzen. Ich muß Ihnen aufrichtig gestehen, ich habe es eigentlich nicht anders erwartet, als daß man von Ihnen noch manches lernen könnte. Ja, ich bin gekommen, um von Ihnen zu lernen, Karamasoff,“ sagte Koljä zum Schluß mit männlich fester, doch nichtsdestoweniger begeisterter Stimme.

„Und ich werde von Ihnen lernen,“ sagte Aljoscha lächelnd, indem er ihm die Hand drückte.

Koljä war sehr zufrieden mit Aljoscha. Am angenehmsten berührte ihn, daß jener sich ihm gegenüber ganz wie zu einem gleichstehenden Kameraden verhielt, „wie zu dem erwachsensten Menschen“.

„Ich werde Ihnen dort in der Stube gleich ein famoses Kunststück zeigen, Karamasoff, das wird gleichfalls eine Theatervorstellung werden,“ sagte er mit etwas nervösem Lachen. „Zu dem Zweck bin ich ja eigentlich nur gekommen.“

„Gehen wir zuerst nach links zu den Hausleuten. Dort legen alle ihre Mäntel ab. Im Zimmer ist es eng und heiß.“

„Oh, das ist nicht nötig, ich bin doch nur auf einen Augenblick gekommen, ich werde so im Überzieher eintreten. Pereswonn muß hier im Flur bleiben und wie tot liegen. Ici, Pereswonn, couche-toi und stirb! – Sehen Sie, er stellt sich tot. Ich werde jetzt vorläufig allein eintreten und zuerst die Umgebung inspizieren, und dann im richtigen Moment pfeife ich: ‚ici, Pereswonn!‘ und Sie werden sehen, er wird sofort wie tollgeworden hereinsausen. Nur darf Ssmuroff nicht vergessen, rechtzeitig die Tür aufzumachen. Doch ich werde schon sehen, daß alles richtig klappt, lassen Sie mich nur machen ...“

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