I. Die Ankunft im Kloster

Es war ein schöner, warmer und klarer Augusttag. Der September stand schon vor der Tür. Man hatte verabredet, daß sich alle gleich nach dem zweiten Hochamt, also ungefähr um halb zwölf Uhr, beim Staretz versammeln sollten. Unsere Klostergäste geruhten aber nicht, zum Gottesdienst zu kommen, sondern erschienen erst, als er gerade beendet war. Sie kamen in zwei Wagen angefahren: im ersten, einem eleganten kleineren Gefährt, das mit zwei teuren Pferden bespannt war, Pjotr Alexandrowitsch Miussoff mit seinem entfernten Verwandten Pjotr Fomitsch Kalganoff. Das war ein junger Mann von zwanzig Jahren, der sich vorbereitete, eine russische Universität zu besuchen, doch wußte er noch immer nicht, welche; Miussoff dagegen, bei dem er augenblicklich wohnte, beredete seinen jungen Verwandten, mit ihm nach Zürich oder Jena zu fahren, um dort die Universität zu besuchen und sein Studium zu beenden. Der junge Mann aber konnte sich noch immer nicht recht entscheiden. Er war nachdenklich und schien meist zerstreut zu sein. Er hatte ein angenehmes Gesicht, war stark gebaut und ziemlich hoch von Wuchs. Sein Blick konnte mitunter ganz auffallend unbeweglich sein: wie alle zerstreuten Menschen blickte er einen dann lange und starr an, ohne aber dabei etwas zu sehen. Er war schweigsam und ein wenig ungeschickt, doch kam es vor – übrigens nur, wenn er mit jemandem unter vier Augen war –, daß er plötzlich äußerst gesprächig, scherzhaft, heftig oder heiter sein, und herzlich, doch Gott weiß, über was eigentlich, lachen konnte. Aber seine Lebhaftigkeit verging gewöhnlich ebenso schnell, wie sie kam. Gekleidet war er immer gut, wenn nicht gar gesucht. Er besaß schon ein gewisses Vermögen und hatte die besten Aussichten, noch viel mehr zu erben. Mit Aljoscha war er befreundet.

Im zweiten Wagen, in einer äußerst alten, stöhnenden, doch recht umfangreichen Kutsche, vor der zwei alte Schimmel trabten, die aber hinter Miussoffs leichtem Gefährt beträchtlich zurückblieben, kam Fedor Pawlowitsch Karamasoff mit seinem zweiten Sohn Iwan Fedorowitsch angefahren. Dmitrij Fedorowitsch hatte man schon am vorhergehenden Tage die Stunde angesagt, doch trotzdem war er nicht zu sehen. Man ließ die Wagen außerhalb der Klostermauer bei der Herberge halten, stieg aus und trat zu Fuß durch das Klostertor ein. Außer dem alten Karamasoff hatte von den übrigen drei, wie es schien, kein einziger je ein Kloster von innen gesehen; Miussoff aber war vielleicht schon seit dreißig Jahren nicht mehr in einer Kirche gewesen. Er blickte mit einer Neugier um sich, die nicht ganz ohne eine gewisse gemachte Ungezwungenheit war. Doch leider gab es für seinen ausschauenden Verstand im Innern der Klostermauern außer den übrigens sehr einfachen Kirchen- und Wirtschaftsgebäuden nichts Besonderes zu entdecken. Aus der Kirche strömte sich bekreuzend das Volk, die Mützen in der Hand. Unter dem einfachen Volk fielen zwei oder drei Damen der höheren Gesellschaft sowie ein alter General auf: alle standen sie im großen Zimmer der Herberge. Bettler umringten alsbald die Neuangekommenen, doch keiner von ihnen gab etwas. Nur Petruscha Kalganoff nahm aus seiner Börse ein Zehnkopekenstück, das er verlegen einem Weibe zusteckte, wobei er hastig hervorstieß: „Richtig verteilen.“ Die anderen sagten ihm nichts darauf, so daß er ganz grundlos verwirrt wurde; trotzdem wurde er, als er bemerkte, daß die anderen dies schweigend übersahen, noch verlegener.

Etwas war aber sehr sonderbar: man sollte meinen, daß Gäste, wie sie, ganz anders empfangen werden müßten; Karamasoff hatte vor noch nicht langer Zeit tausend Rubel geschenkt, und Miussoff war der reichste Gutsbesitzer und der sozusagen gebildetste Mensch, von dem man hier im Kloster teilweise geradezu abhing, da der Prozeß, den man mit ihm wegen des Fischrechts im Fluß führte, noch nicht beendet war. Und siehe da: keine einzige der offiziellen Persönlichkeiten des Klosters war zu ihrem Empfang erschienen. Miussoff blickte zerstreut auf die Grabsteine an der Kirche und wollte schon bemerken, daß das Recht, an einem so „heiligen“ Ort begraben zu liegen, den Leidtragenden nicht wenig aus der Tasche gezogen haben müsse, schwieg aber und sagte nichts: die gewöhnliche liberale Ironie verwandelte sich in ihm fast in Zorn.

„Teufel, wo gibt es denn hier bei dieser blödsinnigen Einrichtung so etwas, wo man sich erkundigen kann ... Das muß man doch endlich feststellen, sonst verlieren wir hier bloß unsere kostbare Zeit,“ brummte er leise, als wollte er es nur so vor sich hinsagen.

Da trat ein älterer, kahlköpfiger Herr dienstbereit auf sie zu, ein Herr mit ungemein freundlich blickenden und etwas hervorstehenden Augen, der einen weiten Sommermantel trug. Er zog den Hut und stellte sich mit wahrhaft honigsüßer Stimme als Tulascher Gutsbesitzer Maximoff vor.

„Der Staretz Sossima lebt in der Einsiedelei, hermetisch verschlossen, hermetisch, vierhundert Schritt vom Kloster, durch das Wäldchen, durch das Wäldchen ...“

„Das weiß ich selbst, daß man durch das Wäldchen zu ihm gehen muß,“ unterbrach ihn Fedor Pawlowitsch Karamasoff, „aber den Weg dorthin hab ich total vergessen, bin lange nicht mehr hier gewesen.“

„Hier, hier, gleich durch diese Pforte und dann gerade durch das Wäldchen ... durch das Wäldchen. Wenn gefällig ... ich muß selbst ... ich werde selbst ... Hier, sehen Sie, hier ...“

Sie traten aus dem Torgang und schritten auf den Wald zu. Der Gutsbesitzer Maximoff, ein Mann von sechzig Jahren, ging nicht eigentlich, sondern lief geradezu neben ihnen her, während er sie dabei mit einer krampfhaften, schier unglaublichen Neugier betrachtete, wobei seine Glotzäugigkeit noch unangenehmer auffiel.

„Wir sind in einer besonderen Angelegenheit zum Staretz gekommen,“ bemerkte mit strenger Miene Miussoff. „Diese ‚Persönlichkeit‘ hat uns sozusagen eine Audienz gewährt, und daher müssen wir Sie bitten, obgleich wir Ihnen für das Wegweisen sehr dankbar sind, doch nicht mit uns zusammen einzutreten.“

„Ich war ja schon, ich war ja schon ... Un chevalier parfait!“ versicherte sofort der Gutsbesitzer und knipste mit den Fingern vor Begeisterung.

„Wer ist ein Chevalier?“ fragte Miussoff.

„Der Staretz, der prachtvolle Staretz, der Staretz! ... Die Ehre und der Ruhm des ganzen Klosters! Sossima! Das ist solch ein Staretz ...“

Seine krause Rede wurde unterbrochen: Ein kleiner, bleicher, magerer Mönch in einer Kutte kam ihnen nachgelaufen. Karamasoff und Miussoff blieben stehen. Der Mönch verbeugte sich tief und sagte höflich:

„Seine Hochehrwürden, der Prior, läßt Sie alle, meine Herren, bitten, nach Ihrem Besuch in der Einsiedelei zu ihm zum Mittagsmahl zu kommen. Und Sie gleichfalls,“ fügte er, sich an Maximoff wendend, hinzu.

„Das werde ich unbedingt!“ rief der alte Karamasoff, ungemein erfreut über die Einladung, „unbedingt! Und wissen Sie, wir haben uns alle das Wort gegeben, uns hier anständig aufzuführen ... Und Sie, Miussoff, werden Sie auch kommen?“

„Warum sollte ich denn nicht? Wozu bin ich denn sonst hergekommen, wenn nicht, um hier alle diese Bräuche kennen zu lernen. Nur eines macht mir Bedenken, und das ist gerade, was ich jetzt mit Ihnen, Fedor Pawlowitsch ...“

„Ja, meinen Sohn Dmitrij Fedorowitsch gibt’s aber vorläufig noch nicht.“

„Und er täte gut, überhaupt nicht zu kommen; ist mir denn diese Ihre ganze schmutzige Geschichte etwa angenehm, und zudem noch mit Ihnen als Zugabe! – Wir werden gern der freundlichen Einladung Folge leisten, überbringen Sie Seiner Hochehrwürden unseren besten Dank,“ sagte er darauf zum Mönch.

„Ich soll Sie zum Staretz führen,“ antwortete der Mönch.

„Dann werde ich jetzt solange zum Prior gehen!“ sagte eilig der Gutsbesitzer Maximoff.

„Der Prior ist augenblicklich in Anspruch genommen ... aber ... wie Sie wollen ...“ meinte etwas unentschlossen der Mönch.

„Ein äußerst zudringlicher Kauz,“ bemerkte Miussoff laut, als Maximoff zum Kloster zurückeilte.

„Gleicht ungemein dem berühmten Herrn von Sohn,“ sagte plötzlich der alte Karamasoff.

„Das scheint das einzige zu sein, was Sie sagen können ... Warum soll er denn Herrn von Sohn gleichen? Haben Sie überhaupt jemals Herrn von Sohn gesehen?“

„Selbstverständlich: auf der Photographie. Er gleicht ihm fabelhaft, sag ich Ihnen, wenn auch nicht in den Gesichtszügen, sondern in etwas ganz Unerklärlichem. Von Sohns Doppelgänger, mit einem Wort. Das sehe ich ihm sofort an der Physiognomie an.“

„Nun, meinetwegen,“ bemerkte Miussoff gereizt, „Sie sind ja Kenner in solchen Sachen. Nur noch eines, Fedor Pawlowitsch: Sie geruhten soeben selbst daran zu erinnern, daß wir uns das Wort gegeben haben, uns anständig aufzuführen, wie Sie sich wohl noch entsinnen werden. Ich sage Ihnen: Vergessen Sie das nicht! Sollten Sie aber wieder anfangen, den Narren zu spielen, so werde ich es, glauben Sie mir, nicht dulden, daß man mich hier mit Ihnen auf eine Stufe stellt! ... Sehen Sie, was das für ein Mensch ist,“ fügte er darauf, zum Mönch gewandt, hinzu, „ich fürchte mich geradezu, mit ihm bei anständigen Menschen einzutreten.“

Auf den blassen, blutleeren Lippen des kleinen Mönches erschien ein feines, verschwiegenes Lächeln, das in seiner Art doch eine gewisse Geriebenheit verriet, aber er antwortete nicht, und es war nur zu augenscheinlich, daß er aus dem Gefühl der eigenen Würde heraus schwieg. Miussoff runzelte die Stirn.

„Ach, der Teufel hole sie allesamt; das ist ja doch bloß eine in Jahrhunderten ausgearbeitete Äußerlichkeit; in Wirklichkeit ist es nur Scharlatanerie und Blödsinn.“

„Ah, da sind wir also glücklich angelangt: da ist die Einsiedelei!“ rief Fedor Pawlowitsch. „Die Mauer und die Pforte sind aber geschlossen, wie ich sehe.“

Und er begann, sich eifrig vor den Heiligenbildern zu bekreuzen, die über und zu beiden Seiten der Pforte gemalt waren.

„In ein fremdes Kloster soll man nicht mit seinem Reglement eintreten,“ bemerkte er. „Im ganzen suchen hier in dieser Einsiedelei fünfundzwanzig Heilige ihr Seelenheil, beobachten einander und vertilgen Sauerkohl. Und kein einziges Frauenzimmerchen darf hier durch diese Pforte treten, das ist das Bemerkenswerteste dabei, und das ist wirklich so. Aber, mein Lieber, wie kommt es – ich habe nämlich trotzdem gehört, daß der Staretz auch Damen empfängt?“ damit wandte er sich plötzlich an den Mönch.

„Aus dem Volk sind auch jetzt Weiber hier; sehen Sie dort, sie warten an der Galerie. Für die höheren Damen aber sind hier bei der Galerie, außerhalb der Einfriedung, zwei Zimmerchen angebaut, diese Fenster dort, und der Staretz kommt dann zu ihnen durch den inneren Gang, wenn er gesund ist, also immer außerhalb der Einfriedung. Auch jetzt ist dort eine vornehme Dame, eine Gutsbesitzerin aus dem Charkoffschen, Frau Chochlakoff; sie erwartet ihn mit ihrer gelähmten Tochter. Wahrscheinlich hat er versprochen, zu ihnen hinauszukommen, obgleich er in letzter Zeit so schwach geworden ist, daß er sich kaum noch dem Volk zeigen kann.“

„Also gibt es immerhin doch noch ein Schlupfloch, das aus der Einsiedelei zu den Weibern führt? Das heißt, heiliger Vater, glauben Sie um Gottes willen nicht, daß ich irgend etwas! – ich meinte ja nur so. Wissen Sie, auf dem Athos, Sie haben es vielleicht schon gehört, ist nicht nur der Besuch von Frauen verboten, sondern überhaupt jede Gotteskreatur weiblichen Geschlechts; weder werden dort Hühnchen geduldet, noch Putchen, noch Kälbchen ...“

„Fedor Pawlowitsch, ich werde sofort zurückgehen und Sie allein eintreten lassen! Man wird Sie hier sowieso hinausschmeißen, das prophezeie ich Ihnen!“

„Aber was tue ich Ihnen denn, Pjotr Alexandrowitsch? Sehen Sie doch mal,“ rief er plötzlich, da er durch die Pforte trat, „sehen Sie doch, in welch einem Rosental sie hier leben!“

Tatsächlich waren dort, wenn auch keine Rosen, so doch überall, wo man sie nur hatte pflanzen können, eine Menge seltener und schöner Herbstblumen. Augenscheinlich pflegte sie eine geübte Hand. Blumenbeete lagen zwischen Gräbern, und Blumen wuchsen als Spalier an der Mauer. Das einstöckige Holzhäuschen, in dem sich die Zelle des Staretz befand, war mit seiner Galerie vor dem Eingang gleichfalls von Blumen umgeben.

„War denn das auch beim früheren Staretz Warssonofij so? Der soll ja, wie man sagt, Schönheit überhaupt nicht geliebt haben, soll sogar das schöne Geschlecht mit dem Stock geschlagen haben,“ bemerkte Fedor Pawlowitsch, als er die Stufen hinanstieg.

„Der Staretz Warssonofij war zuweilen allerdings etwas wunderlich, aber auch viel Unwahres wird von ihm erzählt. Mit dem Stock hat er niemanden geschlagen,“ antwortete der Mönch. „Bitte sich hier einen Augenblick zu gedulden, ich werde Sie anmelden.“

„Fedor Pawlowitsch, zum letztenmal die Bedingung, hören Sie! Führen Sie sich gut auf, sonst haben Sie es mit mir zu tun,“ gelang es Miussoff, ihm noch schnell zuzuflüstern.

„’s ist wirklich unbegreiflich, warum Sie dermaßen erregt sind,“ bemerkte spöttisch Fedor Pawlowitsch, „oder fürchten Sie sich wegen Ihrer Sünden? Man sagt ja, daß er es an den Augen erkenne, womit man zu ihm kommt. Und wie hoch Sie plötzlich seine Meinung schätzen, Sie, solch ein Pariser und Fortschrittler! Sie setzen mich ja heute wahrhaftig in Erstaunen.“

Doch Miussoff konnte nichts mehr auf diesen Sarkasmus entgegnen: man bat sie einzutreten.

„Wie ich mich kenne, werde ich jetzt zu streiten anfangen, wie immer, wenn ich gereizt bin, ... werde heftig werden – und mich und die Idee erniedrigen, das weiß ich schon im voraus,“ fuhr es Miussoff noch durch den Kopf, als er ins andere Zimmer trat.

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