II. Der alte Narr

Sie betraten das Zimmer fast zu gleicher Zeit mit dem Staretz, der bei ihrem Erscheinen sofort seinen kleinen Schlafraum verlassen hatte. Sein Erscheinen erwarteten in der Zelle schon seit längerer Zeit zwei Priestermönche der Einsiedelei, der Pater Bibliothekar und der Pater Paissij, ein kranker, noch nicht alter, jedenfalls aber sehr gelehrter Mann, wie es hieß. Außerdem erwartete ihn noch stehend in einem Winkel ein junger, etwa zweiundzwanzigjähriger Bursche in einem Zivilrock, ein Seminarist und zukünftiger Theologe, der, unbekannt warum, von der ganzen Klosterbrüderschaft gönnerhaft beschützt wurde. Er war ziemlich groß von Wuchs, hatte ein frisches Gesicht mit breiten Kinnbacken, kluge und aufmerksame, schmale, braune Augen. Auf seinem Gesicht drückte sich vollkommene Ehrerbietung aus, doch war es eine anständige Ehrerbietung, d. h. ohne sichtbares sich Einschmeichelnwollen. Die eingetretenen Gäste begrüßte er nicht einmal mit einer Verbeugung, wie eine ihnen nicht gleichstehende, sondern untergeordnete oder gar von ihnen abhängige Person.

Der Staretz Sossima erschien in Begleitung Aljoschas und eines Novizen. Die Priestermönche erhoben sich und verneigten sich tief vor ihm, wobei sie mit den Fingern den Boden berührten, und küßten ihm darauf, nachdem sie sich bekreuzt hatten, ehrfürchtig die Hand. Der Staretz erteilte ihnen seinen Segen, verneigte sich vor einem jeden von ihnen ebenso tief, wobei er gleichfalls den Fußboden mit den Fingern berührte und auch von ihnen ihren Segen erbat. Die ganze Zeremonie ging sehr ernst vor sich, durchaus nicht wie irgendein alltäglicher Brauch, sondern fast mit einem tiefen Gefühl. Miussoff aber argwöhnte plötzlich, daß alles ihretwegen absichtlich so ernst und feierlich gemacht werde. Er stand, da er als erster eingetreten war, vor den anderen. Nun hätte er, ganz abgesehen von seinen Ideen, einfach aus gewöhnlicher Höflichkeit (da hier nun einmal solche Bräuche waren), auf den Staretz zutreten, und, wenn ihm auch nicht gerade die Hand küssen, so ihn doch wenigstens um seinen Segen bitten müssen. Das hatte er sich am Abend vorher sogar schon vorgenommen. Als er aber jetzt alle diese Verbeugungen sah, änderte er im Augenblick seinen Entschluß: wichtig und ernst machte er eine tiefe, gesellschaftliche Verbeugung und trat darauf zurück. Genau dasselbe tat auch Fedor Pawlowitsch, der diesmal wie ein Affe Miussoff auf ein Haar kopierte. Iwan Fedorowitsch machte ernst und höflich seine Verbeugung, doch gleichfalls „Hände an den Nähten“, Kalganoff dagegen verwirrte sich dermaßen, daß er überhaupt nicht grüßte. Der Staretz ließ seine zum Segen erhobene Hand wieder sinken, und bat sie, indem er sich zum zweitenmal vor ihnen verneigte, Platz zu nehmen. Aljoscha stieg das Blut ins Gesicht; er schämte sich – seine schlechten Ahnungen hatten ihn also nicht getäuscht!

Der Staretz setzte sich auf ein kleines, altmodisches Ledersofa aus rotem Holz, den Gästen aber wies er an der entgegengesetzten Wand vier Stühle an, die alle in einer Reihe standen, gleichfalls aus rotem Holz waren und einen stark abgenutzten Lederbezug hatten. Die Priestermönche setzten sich etwas abseits, der eine bei der Tür, der andere am Fenster. Der Seminarist, Aljoscha und der Novize blieben stehen. Die Zelle war nicht gerade groß und hatte so ein, fast möchte man sagen, welkes Aussehen. Die Sachen und die Möbel, nur die notwendigsten, waren von ganz einfacher Arbeit, fast ärmlich. Zwei Blumentöpfe auf dem Fensterbrett und in der Ecke viele Heiligenbilder – darunter ein sehr großes der Muttergottes, das wahrscheinlich schon lange vor der Kirchenspaltung[6] gemalt worden war. Vor ihm brannte ein Lämpchen. Daneben hingen zwei andere Heiligenbilder mit reicher Verzierung, etwas weiter zwei kleine Cherubim, Ostereier aus Porzellan, ein katholisches Kreuz aus Elfenbein mit einer es umarmenden Mater dolorosa, und dann hingen an den Wänden noch einige ausländische Gravüren großer italienischer Meister der vergangenen Jahrhunderte. Neben diesen schönen und teuren Gravüren hingen aber die allereinfachsten russischen Buntdrucke verschiedener Heiliger, Märtyrer, Erzbischöfe usw., kurz, Bilder, wie sie zu einer Kopeke das Stück auf allen Jahrmärkten verkauft werden. Ebenso hingen an den anderen Wänden noch mehrere Bilder lebender wie verstorbener Geistlicher. Miussoff streifte mit seinem Blick nur flüchtig diesen ganzen „Heiligenkram“ und richtete ihn dann fest auf das Gesicht des Staretz. Er schätzte seinen Blick sehr hoch: er hatte diese an ihm jedenfalls verzeihliche Schwäche, verzeihlich, wenn man bedenkt, daß er ein Mann von fünfzig Jahren war, also schon ein Alter erreicht hatte, in dem ein kluger, wohlsituierter Weltmann zu seiner eigenen Person immer ehrerbietiger wird – und wäre es unwillkürlich.

Im ersten Augenblick gefiel ihm der Staretz nicht. Allerdings war in dessen Gesicht etwas, das vielen, auch außer Miussoff, nicht gefallen hätte. Er war ein mittelgroßer, gebeugter Mann mit sehr schwachen Füßen, erst fünfundsechzig Jahre alt, doch erschien er infolge seiner Krankheit wenigstens um zehn Jahre älter. Sein mageres Gesicht war von kleinen, feinen Runzeln übersät, besonders um die Augen herum. Diese Augen waren nicht groß, wohl aber hell und glänzend wie zwei leuchtende Punkte. Nur an den Schläfen hatte er noch ein wenig graues Haar, das Bärtchen war spitz und klein und spärlich, die Lippen aber, die häufig lächelten, waren so schmal wie zwei dünne Schnürchen. Die Nase war nicht gerade lang, dafür aber fast so spitz wie ein Vogelschnabel.

„Allem Anschein nach ein boshaftes und kleinlich-anmaßendes Männchen,“ zuckte es Miussoff durch den Kopf. Er war sehr unzufrieden mit sich.

Da schlug die Uhr und half somit, ein Gespräch zu beginnen. Es schlug von einer billigen Wanduhr mit Gewichten in schnellen Schlägen gerade zwölf.

„Genau die festgesetzte Stunde!“ rief Fedor Pawlowitsch, „mein Sohn Dmitrij Fedorowitsch ist aber noch immer nicht erschienen. Ich bitte für ihn um Entschuldigung, heiliger Staretz!“ (Aljoscha fuhr zusammen, als er das „heiliger Staretz“ hörte.) „Ich selbst dagegen bin immer pünktlich auf die Minute, da ich weiß, daß Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige ist.“

„Soviel ich weiß, sind Sie nichts weniger als ein König,“ brummte Miussoff, der sich schon nicht mehr recht in der Gewalt hatte.

„Stimmt! Nichts weniger als ’n König. Und denken Sie nur, Pjotr Alexandrowitsch, das wußte ich ja selbst, bei Gott! Und sehen Sie, immer muß ich alles so mal à propos sagen! Ehrwürden!“ rief er darauf mit einem ganz plötzlichen, unerwarteten Pathos aus: „Sie sehen vor sich einen leibhaftigen Narren! Habe die Ehre, mich Ihnen als solchen vorzustellen. Alte Angewohnheit – leider! Daß ich aber am unrechten Ort und zur unrechten Zeit zuweilen etwas lüge, o, das geschieht sogar mit Absicht von mir, um andere zu erheitern und ihnen angenehm zu sein. Denn das muß man doch, nicht wahr? Wissen Sie, einmal, so vor etwa sieben Jahren, kam ich in ein Städtchen, es gab Geschäftchen abzuwickeln, wollte dort mit ein paar Kaufleuten eine Kompanie gründen. Kurz, wir gehen zum Kreispolizeichef – man mußte ihn doch um dies und jenes bitten –, um ihn zu einem Schmaus einzuladen. Er kommt heraus, groß, dick, blond und mürrisch, – eines der gefährlichsten Subjekte in solchen Fällen: ‚Herr Isprawnik,‘[7] sage ich zu ihm, ‚seien Sie unser Naprawnik!‘ – ‚Was soll ich sein?‘ fragte er. Ich sehe schon in der ersten Viertelsekunde, daß die Sache schief gegangen ist, er steht steif, fixiert mich: ‚Ich erlaubte mir, nur zu scherzen,‘ sage ich, ‚bloß so zur allgemeinen Heiterkeit, da Herr Naprawnik unser bekannter russischer Dirigent und Kapellmeister der kaiserlichen Oper ist, wir aber zur Harmonie unseres Unternehmens gleichfalls so etwas wie einen Kapellmeister brauchen‘ ... Kurz und gut, ich erkläre ihm vernünftig den ganzen Vergleich, nicht wahr, er aber sagt: ‚Ich bin der Isprawnik und verbitte mir unpassende Witzchen mit meinem Titel,‘ – kehrt sich um und geht! Ich ihm nach, rufe: ‚Ah, selbstverständlich sind Sie nur Isprawnik und kein Naprawnik!‘ – Er aber sagt nichts darauf und geht, geht wahrhaftig! Und was glauben Sie wohl: unsere ganze Geschichte ging aus dem Leim! Und immer bin ich so, immer verpfusche ich mir alles selbst mit meiner Liebenswürdigkeit! – Einmal, das ist jetzt schon viele Jahre her, sagte ich zu einer angesehenen, sogar einflußreichen Persönlichkeit: ‚Ihre Frau Gemahlin ist etwas sehr kitzlich,‘ – in dem Sinne, meine ich, was die Ehre anbetrifft, ich meine – in moralischer Hinsicht; er aber fragt mich: ‚Haben Sie sie denn gekitzelt?‘ Wart, denke ich, werde mir ein Witzchen erlauben: ‚Versteht sich,‘ sage ich. Nun, darauf hat er mich aber etwas anders gekitzelt ... Doch das ist schon so lange her, daß man sich weiter nicht mehr schämt, es zu erzählen. Und immer schade ich mir selbst auf diese Weise.“

„Das tun Sie ja auch jetzt wieder,“ brummte Miussoff mit Verachtung.

Der Staretz betrachtete sie beide stumm.

„Und ob! Stellen Sie es sich nur vor, Pjotr Alexandrowitsch, ich wußte das ja selbst, ich ahnte es bereits, als ich den Mund auftat und, wissen Sie, ich wußte sogar, daß Sie zu mir als erster diese Bemerkung machen würden. In diesen Sekunden, Ehrwürden, wenn ich sehe, daß der Spaß mir nicht gelingt, trocknen mir allmählich beide Wangen an das Zahnfleisch der unteren Kinnbacken an, und es kommt so etwas wie ein Krampf über mich: Das habe ich von Jugend auf, als ich noch bei den Edelleuten aus Gnade und Barmherzigkeit aufgenommen wurde und mir auf diese Weise, also dafür, daß ich bei ihnen lustiger Gast war, mein Brot verdiente. Ich bin ein eingefleischter Narr, bin’s von Kindesbeinen an, bin so geboren, Ehrwürden, ’s ist angeborene Blödsinnigkeit, wie gesagt! Oder möglich, daß sich ein unreiner Geist in mir verbirgt, will’s nicht verreden, übrigens, keines großen Kalibers, denn ein bedeutenderer würde sich ein anderes Quartier mieten, nur ist damit nicht gesagt, daß er dabei das Ihrige, Pjotr Alexandrowitsch, wählen würde, denn, nicht wahr, auch Sie sind ja kein bedeutendes Quartier. Dafür aber bin ich gläubig, glaube an Gott! Nur in der letzten Zeit habe ich so einige Bedenken gekriegt, dafür aber sitze ich jetzt hier in Erwartung heiliger Worte. Ich, Ehrwürden, bin wie Diderot. Kennen Sie die Geschichte, wie der Philosoph Diderot zum Metropoliten Platon kam? – zur Zeit der Kaiserin Katharina? Er kommt herein und sagt direkt, ganz ohne jegliche Einleitung: ‚Es gibt keinen Gott.‘ Worauf der große Kirchenvater seine Hand erhebt und sagt: ‚Rede nur, Sinnloser, in deinem Herzen trägst du Gott!‘ Diderot ihm sofort zu Füßen: ‚Ich glaube,‘ ruft er aus, ‚und empfange die Taufe.‘ Und so wurde er denn auch sofort getauft. Fürstin Daschkowa hob ihn aus der Taufe, und Potemkin war sein Pate ...“

„Fedor Pawlowitsch, das ist unerträglich! Sie wissen es ja selbst, daß Sie lügen, daß diese dumme Anekdote nichts weniger als wahr ist, wozu machen Sie denn diese Faxen?“ unterbrach ihn mit zitternder Stimme Miussoff, der sich nicht länger beherrschen konnte.

„Mein ganzes Leben lang habe ich’s ja geahnt, daß sie nicht wahr ist!“ bestätigte sofort und gleichsam in heller Begeisterung Fedor Pawlowitsch. „Meine Herren, ich werde Ihnen dafür die ganze Wahrheit sagen! Großer Staretz! Verzeihen Sie mir: das letzte, dieses von der Taufe Diderots, habe ich mir selbst soeben ausgedacht, erst jetzt, genau, als ich es erzählte, früher ist es mir nie in den Kopf gekommen. Hab’s mir nur so zur Pikanterie ausgedacht. Darum mache ich ja nur diese Faxen, Pjotr Alexandrowitsch, um sympathischer zu sein. Zuweilen weiß ich übrigens selbst nicht, warum. Und was den Diderot betrifft, so habe ich dieses: ‚rede nur, Sinnloser,‘ etwa zwanzigmal von den hiesigen Gutsbesitzern erzählen gehört, hab’s bereits als halbes Kind gehört, als ich bei ihnen lebte; auch von Ihrer lieben Tante, Pjotr Alexandrowitsch, von Mawra Fominitschna, habe ich’s gehört. Alle sind sie durch die Bank, bis auf den heutigen Tag, noch überzeugt, daß der gottlose Diderot zum Metropoliten Platon über Gott disputieren gegangen ist ...“

Miussoff erhob sich, nicht nur, weil er die Geduld verloren hatte, sondern er tat es offenbar, weil er im Augenblick in seiner Erregung nichts anderes zu tun wußte. Er war empört und sagte sich, daß er dadurch selbst lächerlich werde. Ja, in der Zelle ging wirklich etwas ganz Unmögliches vor sich. Diese Zelle, in der vielleicht schon seit vierzig oder fünfzig Jahren, noch bei den früheren Startzen, die Fremden empfangen wurden, hatte nur tiefste Ehrfurcht gesehen. Alle, die in ihr empfangen worden waren, hatten gewußt, daß man ihnen damit eine große Gnade erwies. Viele sanken auf die Knie und erhoben sich erst, wenn sie fortgehen mußten. Viele sogar von den „höheren“ Persönlichkeiten, sogar viele Gelehrte, ja, selbst viele Freigeister, die entweder aus Neugierde oder aus sonst einem Grunde gekommen waren, machten es sich alle, bis auf den letzten, beim Eintritt in die Zelle zur ersten Pflicht, sich während des Besuchs tief ehrerbietig, tadellos zu benehmen, um so mehr, als man nicht für Geld empfangen wurde, sondern aus Liebe und Mitleid. Und die hinkamen, waren entweder Reuige, die Trost suchten, oder Menschen, die einer schweren Frage ihrer Seele eine Antwort suchen wollten, oder einen schweren Augenblick im Leben des eigenen Herzens zu überwinden hatten, und die dann um Beistand, Rat und Hilfe baten. So riefen denn solche Possen, wie sie plötzlich Fedor Pawlowitsch an diesem Ort trieb, bei den übrigen Anwesenden oder wenigstens bei einigen von ihnen stumme Verwunderung und erstauntes Nichtverstehenkönnen hervor. Die Priestermönche, die übrigens ihren Gesichtsausdruck nicht im geringsten veränderten, warteten ernst und aufmerksam, was der Staretz sagen werde, doch bereiteten auch sie sich schon vor, wie Miussoff, aufzustehen. Aljoscha war dem Weinen nahe und stand stumm mit gesenktem Kopf. Am sonderbarsten schien ihm, daß sein Bruder Iwan Fedorowitsch, der einzige, auf den er gehofft hatte, und der allein solch einen Einfluß auf seinen Vater besaß, daß er ihn hätte zügeln können, jetzt vollkommen unbeweglich auf seinem Stuhl saß, den Blick zu Boden gesenkt hielt, und, wie es schien, mit einer geradezu wißbegierigen Neugier abwartete, womit das enden werde, ganz als ob er selbst nur eine fremde Nebenperson wäre. Auf Rakitin, den Seminaristen, wagte Aljoscha nicht einmal einen Blick zu werfen, obgleich er ihn gut kannte, und ihm fast nahe stand: oh, er kannte dessen Gedanken nur zu gut (vielleicht er allein im ganzen Kloster).

„Entschuldigen Sie mich ...,“ begann Miussoff zum Staretz gewandt, „wenn ich Ihnen vielleicht gleichfalls als Teilnehmer an diesem unwürdigen Scherz erscheine. Meine Schuld besteht bloß darin, daß ich geglaubt habe, selbst so einer, wie Fedor Pawlowitsch, würde, wenn er an solch einem Ort ist, seine Pflichten begreifen ... Ich hätte es nicht gedacht, daß man dafür noch um Verzeihung werde bitten müssen, daß man mit ihm zusammen eintritt ...“

Miussoff sprach seinen Satz nicht zu Ende und wollte schon ganz verwirrt hinausgehen.

„Beunruhigen Sie sich nicht, ich bitte Sie darum,“ sagte der Staretz und erhob sich plötzlich, trotz seiner kranken Füße, von seinem Platz, ergriff Miussoff an beiden Händen und nötigte ihn, sich wieder auf den Stuhl zu setzen. „Beruhigen Sie sich, ich bitte Sie darum, und besonders bitte ich Sie, mein Gast zu sein;“ und nachdem er sich nochmals verbeugt hatte, setzte er sich wieder auf sein kleines Sofa.

„Großer Staretz, sprechen Sie es aus: beleidige ich Sie durch meine Lebhaftigkeit oder nicht?“ rief plötzlich Fedor Pawlowitsch, wobei er auf dem Stuhl nach vorn rückte und mit den Händen schon die Armlehnen seines Stuhles ergriff, als ob er mit der Antwort zugleich aufspringen wollte.

„Und auch Sie bitte ich aufrichtig, sich nicht zu beunruhigen und sich keinen Zwang anzutun,“ sagte ihm eindringlich der Staretz. „Seien Sie ganz wie zu Haus. Und vor allem, schämen Sie sich nicht so sehr Ihrer selbst, denn nur daher kommt bei Ihnen alles.“

„Ganz wie zu Haus? Das heißt wohl so recht natürlich? O, das ist viel, viel zu viel, doch – nehme es in Rührung an! Wissen Sie, gesegneter Vater, beschwören Sie mich nicht auf das Natürliche, riskieren Sie es lieber nicht ... Bis zur Natürlichkeit komme ich ja noch nicht einmal bei mir selbst. Ich warne Sie nur, um Sie vor Schlimmem zu bewahren. Na ja, und was das übrige anbetrifft, so liegt das noch in der Finsternis der Unbekanntheit, obgleich mich gewisse Leute gern anschwärzen wollen. Das ist an Ihre Adresse gesagt, Pjotr Alexandrowitsch. Ihnen aber, heiligstes Wesen, Ihnen sage ich folgendes: ‚Ich spreche meine Begeisterung aus!‘“ Er erhob sich, erhob die Hände und rief: „‚Selig der Schoß, der dich getragen, und die Brüste, die dich genährt,‘ besonders die Brüste! Sie haben mich soeben mit Ihrer Bemerkung: ‚Schämen Sie sich nicht so sehr Ihrer selbst, denn nur daher kommt alles,‘ mit dieser Bemerkung haben Sie mich einfach durchbohrt und mir gezeigt, daß Sie in meinem Innersten lesen. Das ist es ja, daß es mir immer scheint, wenn ich zu Leuten hineingehe, daß ich gemeiner als alle bin, und daß mich alle für einen Narren halten, und darum denke ich: ‚wart, werde meinetwegen den Narren spielen, fürchte eure Meinung nicht, denn ihr seid doch alle, bis auf den letzten, gemeiner als ich!‘ Sehen Sie, und darum bin ich denn Narr, bin vor Scham Narr, großer Staretz, nur vor Scham! Nur aus Argwohn bin ich frech, mache ich sofort Skandal. Denn wäre ich überzeugt, wenn ich eintrete, daß mich alle sofort für den liebenswürdigsten und klügsten Menschen halten, – Herrgott, was würde ich dann für ein guter Mensch sein! Mein Lehrer!“ rief er aus und sank ganz plötzlich auf die Knie nieder, „was soll ich tun, um das ewige Leben zu erwerben?“

Selbst jetzt war es schwer, zu sagen, ob er scherzte, oder ob er tatsächlich so begeistert war?

Der Staretz blickte ihn an und sagte lächelnd:

„Das wissen Sie selbst schon längst, was man dazu tun muß, Verstand haben Sie genug: Ergeben Sie sich nicht dem Trunk, mäßigen Sie sich in Ihren Worten, ergeben Sie sich nicht der Sinnenlust und vor allem nicht der Vergötterung des Geldes, und schließen Sie Ihre Trinkstuben, wenn nicht alle, falls Ihnen das unmöglich ist, so doch wenigstens zwei oder drei. Und die Hauptsache, das allerwichtigste – lügen Sie nicht.“

„Das geht wohl auf das von dem Diderot?“

„Nein, nicht nur auf die Geschichte vom Diderot. Die Hauptsache ist, belügen Sie sich nicht selbst. Wer sich selbst belügt und auf seine eigene Lüge hört, kommt schließlich dazu, daß er keine einzige Wahrheit mehr, weder in sich noch um sich, unterscheidet, das aber führt zu Nichtachtung sowohl seiner selbst als der anderen. Wer aber niemanden achtet, der hört auch auf zu lieben; um sich aber ohne Liebe zu beschäftigen und zu zerstreuen, ergibt er sich den Leidenschaften und rohen Ausschweifungen und steigt in seinen Lastern hinab bis zum Viehischen; und also geschieht das nur durch seine fortwährende Lüge, den Menschen wie sich selbst gegenüber. Wer sich selbst belügt, kann sich auch am ehesten beleidigt fühlen. Ist es doch mitunter sogar sehr angenehm, sich gekränkt zu fühlen, ist’s nicht so? Und der Mensch weiß es doch selbst, daß ihn niemand gekränkt hat, daß er sich selbst die Kränkung ausgedacht und vorgelogen hat zur vermeintlichen Zierde, daß er es selbst vergrößert hat, daß er aus einer Erbse einen Berg macht, – er weiß es selbst nur zu gut, und doch fühlt er sich gekränkt, fühlt er sich bis zum Wohlbehagen gekränkt, bis zur Empfindung eines Genusses, und das bringt ihn dann bis zur wahren Feindschaft gegen die Menschen ... Aber so stehen Sie doch auf, setzen Sie sich doch, ich bitte Sie darum; das sind doch gleichfalls nur erlogene Gebärden.“

„Heiligster Mensch! Lassen Sie mich Ihre Hand küssen,“ rief aufspringend Fedor Pawlowitsch begeistert aus, beugte sich geschwind und drückte schmatzend einen Kuß auf die magere Hand des Staretz. „Das ist es ja, das ist’s: jawohl, geradezu angenehm ist es, sich gekränkt zu fühlen! Das haben Sie so schön gesagt, wie ich es überhaupt noch nicht gehört habe. Das ist es ja, mein Lebelang habe ich mich bis zum Genuß gekränkt gefühlt, habe mich nur um der Ästhetik willen gekränkt gefühlt, denn es ist nicht nur angenehm, sondern zuweilen sogar hübsch, gekränkt zu sein; – das haben Sie vergessen, hinzuzufügen, großer Staretz: wirklich hübsch. Das werde ich mir ins Notizbuch schreiben! Aber gelogen habe ich entschieden mein ganzes Leben, an jedem Herrgottstag, in jeder Stunde und Minute; bin die leibhaftige Lüge, bin der Vater der Lüge! Übrigens verhaue ich mich wahrscheinlich wieder im Text, sagen wir lieber, der Sohn der Lüge, das dürfte ja auch schon genügen. Nur ... hören Sie, mein Engel ... so etwas wie das vom Diderot kann man zuweilen doch erfinden! Diderot schadet weiter nicht, aber so gewisse Wörtchen können mitunter schaden. Ach, bei der Gelegenheit, großer Staretz, hätt’s beinahe total vergessen, und hab’s mir doch schon seit drei Jahren fest vorgenommen, mich hier danach zu erkundigen, gerade hier anzufragen und es positiv zu erfahren – wollten Sie aber nicht vorher Pjotr Alexandrowitsch sagen, daß er mich nicht unterbricht! – also, ich wollte sagen: ist es wahr, großer Mann, was in der Vita Sanctorum irgendwo geschrieben steht, von irgendeinem heiligen Wundertäter, den man um seines Glaubens willen gemartert hat? Es heißt dort nämlich, daß er, nachdem man ihn schließlich enthauptet hatte, aufgestanden sei, seinen Kopf aufgehoben und ihn ‚liebevoll geküßt‘ habe, und lange so mit ihm in den Armen herumgegangen sei, das Haupt immer ‚liebevoll küssend‘. Ist das nun wahr oder nicht, meine ehrenwerten Väter?“

„Nein, das ist nicht wahr,“ sagte der Staretz.

„So etwas steht überhaupt nicht in der Vita Sanctorum. Von welch einem Heiligen soll denn das geschrieben stehen?“ fragte der eine Priestermönch, der Pater Bibliothekar.

„Das weiß ich selbst nicht, von welch einem. Weiß es nicht und ahne es nicht einmal. Hab’s nur so reden hören, bin aber betrogen worden. Und wissen Sie, wer es erzählt hat? Nun, dieser selbe Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, der sich soeben dermaßen über den Diderot zu entrüsten geruhte; er selbst ist es, der es erzählt hat!“

„Niemals habe ich Ihnen das erzählt! Mit Ihnen spreche ich überhaupt nicht!“

„Stimmt, Sie haben es nicht mir erzählt; aber Sie haben es in einer Gesellschaft erzählt, in der auch ich mich befand, und das war so vor ungefähr vier Jahren. Ich erwähne es ja nur aus dem einen Grunde, weil Sie, Pjotr Alexandrowitsch, durch diese spaßige Geschichte meinen Glauben erschütterten. Sie wußten es nicht und ahnten es nicht; ich aber kehrte mit erschüttertem Glauben heim, und seit der Zeit wird er immer noch mehr erschüttert. Ja, Pjotr Alexandrowitsch, Sie waren die Ursache eines großen Falles! Das ist nicht bloß so ein Geschichtchen von Diderot!“

Der alte Karamasoff geriet bereits in Pathos, doch war allen vollkommen klar, daß er sich wieder nur verstellte. Miussoff aber war doch tief verletzt.

„Welch ein Unsinn,“ sagte er gekränkt. „Ich habe es vielleicht wirklich einmal gesagt ... nur nicht Ihnen. Ich habe es selbst von anderen gehört. Man hat es mir in Paris erzählt; es war ein sehr gelehrter Franzose, der sich speziell mit russischer Theologie beschäftigte ... hatte lange in Rußland gelebt ... er sagte, es werde bei uns nach der Frühmesse in der Vita Sanctorum gelesen ... Ich habe es zwar selbst nicht gelesen ... und werde es auch nicht ... als ob man wenig bei Tisch spricht? ... Wir tafelten damals gerade ...“

„Ja, Sie tafelten damals gerade; ich aber verlor dabei meinen Glauben!“ neckte der alte Karamasoff geflissentlich weiter.

„Was geht mich Ihr Glaube an!“ fuhr Miussoff auf, bezwang sich aber plötzlich und fügte nur mit Verachtung hinzu: „Sie machen wirklich alles gemein, womit Sie in Berührung kommen.“

Der Staretz erhob sich von seinem Platz.

„Entschuldigen Sie mich, meine Herren, ich muß Sie auf wenige Minuten verlassen,“ sagte er, sich an alle wendend, „ich werde von Leuten erwartet, die noch vor Ihnen gekommen sind. Sie aber, lügen Sie ein für allemal nicht mehr,“ fügte er mit heiterem Gesicht zu Fedor Pawlowitsch gewendet hinzu.

Er verließ die Zelle. Aljoscha und der Novize gingen ihm sofort nach, um ihn die Treppe hinunterzugeleiten. Aljoscha war fast atemlos, war froh, fortgehen zu können, doch freute es ihn besonders, daß der Staretz nicht gekränkt, sondern heiter zu sein schien. Der Staretz wollte zur kleinen Galerie gehen, um die ihn Erwartenden zu segnen. Aber Fedor Pawlowitsch hielt ihn noch an der Zellentür auf:

„Gesegneter Mensch!“ rief er gefühlvoll, „erlauben Sie mir, noch einmal Ihre Hände zu küssen! Nein, mit Ihnen kann man doch reden! Sie glauben, daß ich immer so dumm bin und so den Narren spiele? So sage ich Ihnen denn, daß ich es die ganze Zeit mit Absicht getan habe, um Sie zu erproben. Die ganze Zeit befühle ich Sie ja doch nur, ob man mit Ihnen auch leben kann? Hat denn meine Wenigkeit Platz neben Eurer Hoheit!? Stelle Ihnen einen Belobigungsschein aus: man kann wahrhaftig mit Ihnen leben! Jetzt aber verstumme ich, verstumme für die ganze Zeit. Werde mich auf meinen Lehnstuhl setzen und verstummen! Jetzt ist die Reihe an Ihnen, Pjotr Alexandrowitsch, zu sprechen; jetzt sind Sie als Hauptperson zurückgeblieben ... auf zehn Minuten.“

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