VIII. Der Skandal

Als Miussoff, Iwan Fedorowitsch und Kalganoff beim Prior eintraten, ging in ersterem als aufrichtigem, anständigem und feinfühligem Menschen eine in ihrer Art sehr delikate Veränderung vor sich: Er schämte sich plötzlich, sich noch zu ärgern. Er sagte sich, daß er den elenden Fedor Pawlowitsch im Grunde viel zu gering schätzen müßte, um seinetwegen die Kaltblütigkeit zu verlieren, wie er es in der Zelle des Staretz leider getan hatte. „Wenigstens sind die Mönche hier an nichts schuld,“ entschied er bei sich, als er die Treppe hinaufstieg, „und wenn auch hie anständige Leute sind – dieser Pater Nikolai, dieser Prior, ist, glaube ich, gleichfalls von adliger Herkunft –, warum soll ich dann nicht liebenswürdig und höflich mit ihnen sein? ... Werde nicht streiten, kann ja sogar beistimmen, nehme sie mit Liebenswürdigkeit und ... und ... beweise ihnen zum Schluß, daß ich nicht zur Gesellschaft dieses Aesop, dieses Narren, dieses Pierrot gehöre, und ebenso hereingefallen bin, wie sie alle ...“

Das umstrittene Recht auf das Waldfällen und den Fischfang (wo sich dieser Wald und diese Flußstelle befanden, wußte er selbst nicht einmal), beschloß er, ihnen endgültig abzutreten, ein für allemal, und das sofort (um so mehr, als das Ganze nur sehr wenig kostete), und alle seine Klagen gegen das Kloster zurückzuziehen.

Diese guten und wohlgemeinten Vorsätze verstärkten sich noch mehr in ihm, als sie in das Speisezimmer des Priors eintraten. Übrigens war es nicht gerade ein Speisezimmer, da der Prior nur zwei Zimmer bewohnte, allerdings viel größere und bequemere als der Staretz. Doch die Einrichtung zeichnete sich ebensowenig durch Luxus aus: die Möbel waren aus rotem Holz mit Lederbezug, alt, Fasson der zwanziger Jahre; der Fußboden war sogar ungestrichen; dafür aber glänzte alles vor Sauberkeit, und vor den Fenstern standen viele teure Blumen. Das Schönste war in diesem Augenblick gewissermaßen der Tisch: das Tischtuch war blendend weiß, und alles, was darauf stand, glänzte gleichfalls vor Sauberkeit; drei Sorten prachtvoll gebackenes Brot, zwei Flaschen Wein, zwei Flaschen Met vom vorzüglichen Klosterhonig und eine große Glaskanne mit Kwas,[8] der im Kloster selbst gebraut wurde und in der ganzen Umgegend berühmt war. Schnaps gab es nicht. Rakitin wußte später zu erzählen, daß zu diesem Diner fünf Gänge bereitet worden waren: Es gab Sterletsuppe mit Fischpiroggen, dann einen ganz besonders zubereiteten Fisch, darauf in Scheiben gebratenen roten Fisch, Gefrorenes und Kompott, und zum Schluß noch eine süße Speise in der Art eines Blanc-manger. Das alles hatte Rakitin herausgeschnüffelt, war sogar zu diesem Zweck in die Küche des Priors gegangen, wo er noch von früher her seine Verbindungen hatte. Er hatte nämlich überall Verbindungen und verstand, alles zu erfahren, was er erfahren wollte. Er hatte ein unruhiges, neidisches Herz. Über seine ziemlich gute Begabung wußte er selbst vollkommen Bescheid, doch vergrößerte er sie noch in seinem Eigendünkel. Er wußte, daß er in seiner Art bestimmt ein Tatmensch sein werde; doch quälte Aljoscha, der ihm sonst sehr zugetan war, besonders das eine, daß sein Freund Rakitin unehrlich war und sich das entschieden nicht selbst eingestand, im Gegenteil, da er wußte, daß er niemals Geld vom Tisch stehlen würde, sich tatsächlich für einen über alles erhaben ehrlichen Menschen hielt. Daran konnte nicht nur Aljoscha, sondern überhaupt niemand etwas ändern.

Rakitin war als tieferstehende Persönlichkeit natürlich nicht zur Tafel eingeladen, dafür aber waren es Pater Jossiff und Pater Paissij und mit ihnen noch ein dritter Priestermönch. Sie erwarteten bereits im Speisezimmer den Prior, als Miussoff, Kalganoff und Iwan Karamasoff eintraten. Desgleichen wartete noch abseits stehend der Gutsbesitzer Maximoff. Der Prior trat zur Begrüßung der Gäste bis in die Mitte des Zimmers vor. Es war ein hochgewachsener, magerer, noch kräftiger, alter Mann mit stark ergrautem, dunklem Haar, das ein langes, einfaches, doch bedeutendes Gesicht umrahmte. Schweigend begrüßte er die Gäste, die aber traten diesmal alle auf ihn zu, um den Segen zu empfangen. Miussoff beabsichtigte sogar, seine Hand zu küssen, doch der Prior zog noch vorher ganz unauffällig seine Hand so fort, daß es nicht zum Kusse kam. Dafür aber küßten sie Kalganoff und Iwan Karamasoff in der offenherzigsten und einfachsten Weise.

„Wir müssen sehr um Entschuldigung bitten, Ew. Hochehrwürden,“ begann Miussoff lächelnd, doch immerhin in wichtigem und höflichem Ton, „daß wir allein kommen, ohne den gleichfalls von Ihnen eingeladenen Fedor Pawlowitsch; er war gezwungen, von Ihrer Aufforderung abzusehen, und nicht ohne Grund. In der Zelle beim ehrwürdigen Staretz Sossima ließ er sich, durch den unglücklichen Streit mit seinem Sohne aufgebracht, zu einigen durchaus unpassenden Worten hinreißen ... kurz, zu durchaus unanständigen Äußerungen ... was Ew. Hochehrwürden, wie es scheint“ (er warf einen Blick auf die beiden Priestermönche), „schon bekannt sein dürfte. Und darum, weil er selbst, wie gesagt, sich schuldig fühlt und aufrichtig bereut, schämte er sich, der freundlichen Aufforderung Folge zu leisten, und so bat er uns, mich wie seinen Sohn Iwan Fedorowitsch, Ihnen, Hochehrwürden, sein ganzes aufrichtiges Bedauern sowie seine Reue auszudrücken ... Kurz, er hofft, es später wieder gutmachen zu können, und läßt Sie jetzt nur um Ihren Segen und um gütiges Vergessenwollen des Vorgefallenen bitten ...“

Miussoff verstummte. Als er die letzten Worte seiner Tirade sprach, war er mit sich bereits vollkommen zufrieden, ja, er war es sogar dermaßen, daß von seinem ganzen Zorn in seiner Seele nicht einmal eine Spur nachblieb. Er liebte wieder aufrichtig die Menschheit. Der Prior, der ihm mit ernster Miene zugehört hatte, neigte ein wenig das Haupt und sagte zur Antwort:

„Es tut mir aufrichtig leid um den Abwesenden. Vielleicht hätte er uns beim Mahle liebgewonnen, wie auch wir ihn. Ich bitte, meine Herren.“

Da geschah es aber, daß Fedor Pawlowitsch seinen letzten Streich spielte. Ich muß bemerken, daß er tatsächlich schon fortfahren wollte und wirklich die Unmöglichkeit empfand, nach seinem schmachvollen Betragen in der Zelle des Staretz zum Prior zur Tafel zu gehen, als ob nichts geschehen wäre. Es ist zwar nicht anzunehmen, daß er sich gar so sehr schämte oder selbst beschuldigte; vielleicht war sogar ganz das Gegenteil der Fall; doch wie dem auch war, jedenfalls fühlte er, daß es nicht anging, zur Tafel zu erscheinen. Als aber sein alter Wagen bei der Herberge vorfuhr und er sich anschickte, einzusteigen, fiel ihm plötzlich etwas ein: Es waren seine eigenen Worte, die er beim Staretz gesprochen hatte: „Es scheint mir immer so, wenn ich irgendwo eintrete, daß ich gemeiner als alle bin, und daß mich alle für einen Narren halten, und so denke ich denn: wart, werde jetzt absichtlich den Narren spielen, denn ihr seid doch alle bis auf den letzten, ohne Ausnahme, dümmer und gemeiner als ich.“ Er wollte sich an allen für seine eigenen Schändlichkeiten rächen. Und da fiel ihm auch noch ein, wie man ihn früher einmal gefragt hatte: „Warum hassen Sie denn diesen Menschen so sehr?“ und wie er darauf in einem Anfall seiner Narrenschamlosigkeit geantwortet hatte: „Warum? Sehen Sie: Er hat mir nichts getan, das ist wahr, dafür aber habe ich ihm eine gewissenlose Gemeinheit angetan, und kaum war es geschehen, da haßte ich ihn auch schon gerade deswegen.“ Als ihm jetzt diese Worte einfielen, lachte er in minutenlangem Nachdenken leise und boshaft vor sich hin. Seine Augen blitzten, und sogar die Lippen zitterten. „Wenn du angefangen hast, mußt du auch beenden,“ sagte er plötzlich entschlossen. Sein geheimstes Gefühl in diesem Augenblick hätte man in folgenden Worten ausdrücken können: „Jetzt kannst du dich ja doch nicht mehr rehabilitieren, geh einfach und spuck sie bis zur letzten Schamlosigkeit an: Seht, schäme mich nicht vor euch, und weiter nichts!“ Dem Kutscher befahl er, zu warten, er selbst aber kehrte mit schnellen Schritten ins Kloster zurück und begab sich geradeswegs zum Prior. Er wußte zwar noch nicht genau, was er machen würde, doch wußte er, daß er seiner nicht mehr mächtig war und sich – nach dem geringsten Anstoß – sofort bis zur letzten Grenze der Gemeinheit hinreißen lassen werde, – übrigens, nur bis zur letzten Grenze der Gemeinheit, keineswegs aber bis zu einem Verbrechen oder bis zu einem Ausfall, für den ihn das Gericht verurteilen könnte. In der Beziehung verstand er sich immer zu beherrschen, worüber er sich sogar selbst bei manchen Gelegenheiten nicht wenig wunderte.

Er erschien also im Speisezimmer des Priors gerade in dem Augenblick, als das Gebet beendet war und alle zum Tisch traten. Er blieb auf der Schwelle stehen, betrachtete die Anwesenden und lachte ein langes, schamloses, boshaftes Gelächter, wobei er allen verwegen in die Augen blickte.

„Und die glauben, ich sei fortgefahren!“ rief er laut durch den ganzen saalartigen Raum.

Einen Moment blickten ihn alle unverwandt an, und plötzlich fühlten sie alle, daß sofort etwas Widerliches, Ungereimtes geschehen und zweifellos einen Skandal nach sich ziehen werde. Miussoff verfiel denn auch in einer Sekunde aus der edelsten Stimmung in die grimmigste Wut. Alles, was sich in seinem Herzen schon besänftigt hatte, erhob sich mit einem Schlage und brauste auf:

„Nein, das ist zu viel!“ schrie er auf, „nein, das ertrage ich nicht ... auf keinen Fall!“

Das Blut schoß ihm in den Kopf. Er verwirrte sich sogar im Satz, doch war es ihm jetzt nicht mehr um die Ausdrucksformen zu tun. Er griff nach seinem Hut.

„Was kann er auf keine Weise?“ fragte Fedor Pawlowitsch. „‚Erträgt es nicht und kann es nicht!‘ – was ist denn das, was er nicht kann? Ew. Hochehrwürden, soll ich eintreten oder nicht? Empfangen Sie den Gast?“

„Bitte, von ganzem Herzen,“ entgegnete der Prior. „Meine Herren! Darf ich mir erlauben,“ fügte er plötzlich hinzu, „Sie von ganzem Herzen zu bitten, ihren zufälligen Streit zu vergessen und sich in Liebe und verwandtschaftlicher Eintracht nach einem Gebet zu Gott an unserer bescheidenen und friedlichen Tafel zu vereinigen ...“

„Nein, nein, unmöglich,“ rief Miussoff ganz außer sich.

„Wenn es Pjotr Alexandrowitsch unmöglich ist, so ist es auch mir unmöglich, auch ich will dann nicht bleiben. Mit diesem Vorsatz bin ich hergekommen. Von jetzt ab werde ich überall mit Pjotr Alexandrowitsch zusammen sein: Wenn Sie fortgehen, Pjotr Alexandrowitsch, so gehe auch ich, bleiben Sie – bleibe auch ich. – Mit der verwandtschaftlichen Eintracht haben Sie ihn am meisten verletzt, Hochehrwürden: Er will mich doch nicht als seinen Anverwandten anerkennen. Nicht wahr, von Sohn? Da ist ja auch von Sohn. Guten Tag, von Sohn.“

„Sie ... sagen das zu mir?“ fragte stotternd der verwunderte Gutsbesitzer Maximoff.

„Versteht sich, zu dir!“ schrie Fedor Pawlowitsch, „zu wem denn sonst? Hochehrwürden kann doch nicht Herr von Sohn sein!“

„Aber auch ich bin doch nicht von Sohn, ich bin Maximoff.“

„Nein, du bist von Sohn. Ew. Hochehrwürden wissen wahrscheinlich nicht, wer von Sohn ist? Es gab mal solch ’nen Kriminalprozeß: Er wurde in einem unzüchtigen Hause –, so, glaube ich, benennt ihr hier die Bordelle – ermordet und beraubt und trotz seines ehrwürdigen Alters in einen Kasten eingepackt, letzterer vernagelt, und aus Petersburg per Eisenbahn als Frachtgut nach Moskau expediert. Während der Verpackung aber sangen die ausgelassenen Tänzerinnen entsprechende Lieder und schlugen die Harfen wundervoll dazu, äh, wollte sagen: sie spielten, spielten auf dem Klavier dazu. Und dieser selbe von Sohn ist er, er! Er ist einfach von den Toten auferstanden, nicht wahr, von Sohn?“

„Wie? Was? Was soll das bedeuten?“ ertönten Stimmen aus der Gruppe der Priestermönche.

„Gehen wir!“ rief Miussoff Kalganoff zu.

„Nein, nein, erlauben Sie!“ hielt Fedor Pawlowitsch sie auf und trat noch einen Schritt vor. „Erlauben Sie mir, daß ich mich ausspreche. Dort in der Zelle hat man mich verleumdet, soll mich unehrerbietig aufgeführt haben, und die Unehrerbietigkeit soll gerade darin bestanden haben, daß ich ihnen die paar Worte von den Gründlingen gesagt habe. Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, mein Anverwandter, liebt es, daß in der Rede plus de noblesse que de sincérité sei, ich aber liebe es umgekehrt, daß in meiner Rede plus de sincérité que de noblesse ist, und – überhaupt, der Teufel hole die noblesse! Nicht wahr, von Sohn? Erlauben Sie, ehrwürdiger Prior, wenn ich auch ein Narr bin und selbst freiwillig den Narren spiele, so bin ich doch ein Ritter von Ehre und will es rund heraussagen. Ja, ich bin ein Ritter von Ehre, in Pjotr Alexandrowitsch steckt aber nur – kondensierte Eigenliebe und weiter nichts. Vielleicht bin ich nur deswegen hierhergefahren, um das hier zu besehen und mich auszusprechen. Ich habe einen Sohn, der hier sein Seelenheil finden will: Ich bin sein Vater, sorge mich um ihn und muß mich auch sorgen. Bis jetzt hörte ich nur zu und verstellte mich und beobachtete im geheimen, jetzt aber will ich den letzten Akt der Vorstellung spielen. Wie ist’s denn bei euch? Was bei euch einmal fällt, das liegt auch schon. Was einmal gefallen ist, das hat ewig zu liegen. Was denn sonst? Ich aber will mich erheben. Heilige Väter, die Beichte ist ein großes Sakrament, für das auch ich andächtige Ehrfurcht empfinde, und ich bin bereit, mich ihm in Demut zu unterwerfen. Und da muß ich plötzlich in der Zelle sehen, wie hier alle auf den Knien liegen und laut beichten. Ist es denn erlaubt, laut zu beichten? Von den heiligen Kirchenvätern ist die Ohrenbeichte eingeführt, und nur so wird eure Beichte ein Sakrament sein, und so ist es von alters her gebräuchlich. Denn sonst, wie soll ich ihm in Gegenwart aller so einfach erklären, daß ich zum Beispiel dieses und jenes ... nun, eben dieses und jenes, Sie verstehen doch? ... Mitunter ist es schon unanständig, es auch nur zu sagen. Das ist doch ein Skandal! Nein, Pater Prior, mit Euch kann man ja noch Sektierer werden ... Bei der ersten Gelegenheit schreibe ich an den Synod, meinen Sohn Alexei nehme ich aber fort von hier.“

Eine Anmerkung. Fedor Pawlowitsch hatte irgendwo die Glocken läuten gehört. Es hatten sich nämlich boshafte Klatschereien verbreitet, die schließlich selbst zum Erzbischof gedrungen waren (nicht nur in unserem Kloster, sondern auch in anderen, wo sich das Startzentum festgesetzt hatte): daß die Startzen viel zu sehr geachtet würden, sogar zum Nachteil des Ansehens der Äbte, und unter anderem, daß die Startzen die Beichte mißbrauchten usw. usw. Kurz, es waren ganz unsinnige Beschuldigungen, die denn auch alsbald bei uns, wie überall, von selbst vergessen wurden. Aber der dumme Teufel, der Fedor Pawlowitsch ergriffen hatte und ihn jetzt an den Nerven irgend wohin, immer weiter und tiefer in einen schmachvollen Abgrund zog, flüsterte ihm plötzlich diese verjährte Anschuldigung zu, und Fedor Pawlowitsch sprach sie sofort aus, obgleich er selbst nicht wußte, noch sich überhaupt denken konnte, um was es sich dabei eigentlich handelte. Auch verstand er nicht einmal, die Sache richtig auszudrücken, und zudem hatte diesmal niemand in der Zelle des Staretz gekniet oder gar laut gebeichtet, so daß Fedor Pawlowitsch selbst nichts von dem gesehen haben konnte und nur die alten Gerüchte und Klatschereien, deren er sich dunkel erinnerte, nachsprach. Kaum jedoch hatte er seine dumme Bemerkung gemacht, als er auch schon fühlte, daß er ganz gehörigen Unsinn gesagt hatte, und so wollte er plötzlich allen Anwesenden, am meisten aber sich selbst, beweisen, daß er durchaus keinen Unsinn gesagt habe. Und obgleich er selbst vorzüglich wußte, daß er mit jedem weiteren Wort zu dem Gesagten noch mehr und noch dümmeren Unsinn hinzufügen werde, konnte er sich doch nicht bezwingen und flog hinab, wie auf einer Rutschbahn.

„Welch eine Niedertracht!“ rief Miussoff empört aus.

„Verzeihen Sie,“ sagte plötzlich der Prior. „Es ist gesagt: ‚Und viele redeten wider mich und brachten sogar unsaubere Sachen wider mich vor; als ich aber alles gehört, sprach ich bei mir selbst: Diese Arznei ist von Christus gesandt, um meine eitle Seele zu heilen.‘ Und darum danken auch wir Ihnen demütig, unser werter Gast.“

Und er verneigte sich tief vor ihm.

„Ta–ta–ta! Scheinheiligkeit und alte Phrasen! Alte Phrasen und alte Heuchelei! Alte Lüge und die alten Faxen der Verbeugungen bis zur Erde! Wir kennen diese Verbeugungen! ‚Einen Kuß auf die Lippen und einen Dolch ins Herz,‘ wie in Schillers Räubern. Ich will keine Falschheit, Väter, ich liebe die Wahrheit! Die aber liegt nicht in den Gründlingen, und das habe ich verkündet! Sie, meine Heiligen, warum fasten Sie denn eigentlich? Warum erwarten Sie dafür Belohnungen im Himmelreich? Für so eine Belohnung würde ja auch ich fasten! Nein, mein heiliger Mönch, sei lieber im Leben wohltätig, bringe lieber, anstatt daß du dich hier zu fertig gebackenen Broten zurückziehst, der Menschheit Nutzen, und ohne dafür noch eine Belohnung dort oben zu erwarten, – das dürfte wohl etwas schwieriger sein. Ew. Hochehrwürden, ich verstehe gleichfalls, schön zu reden. Aber was haben Sie denn hier aufgetischt?“ fragte er, sich plötzlich unterbrechend, und trat näher. „Hm! Portwein, keine üble Nummer, Honig, wahrscheinlich von den Gebrüdern Jelissejeff,[9] ach, ihr heiligen Väter! Das sieht anders aus als Gründlinge! Und auch die Flaschen haben sie nicht vergessen, he–he–he! Wer aber hat das alles hergebracht? Das ist ja der russische Bauer, der Arbeitssklave, der die wenigen Kopeken, die er mit seinen schwieligen Händen verdient, von seinem Munde und seiner Familie abspart, um sie herzubringen trotz der schreienden Not unseres Staates! Nein, ihr, meine heiligen Väter, ihr saugt ja das Volk aus!“

„Das ist von Ihnen wirklich schon mehr als unwürdig,“ sagte Pater Jossiff. Pater Paissij schwieg hartnäckig. Miussoff stürzte hinaus, und ihm folgte Kalganoff.

„Nun, meine Heiligen, nach Pjotr Alexandrowitsch gehe auch ich! Werde nie mehr herkommen, und wenn ihr mich auch auf den Knien darum bätet, komme nicht! Habe euch tausend Rubel geschenkt, da habt ihr jetzt wieder die Ohren gespitzt, he–he–he! Nein, mehr gibt’s nicht! Ich räche mich für meine vergangene Jugend, für meine ganze Erniedrigung!“ rief er in einem Anfall gespielter Empfindsamkeit aus und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Viel hat dieses liebe Kloster in meinem Leben bedeutet! Viel bittere Tränen habe ich seinetwegen vergossen! Ihr habt meine Frau, die Klikuscha, gegen mich aufgehetzt! Ihr habt mich in sieben Kirchen verflucht, habt’s in der ganzen Umgegend verbreitet! Jetzt Strich drunter, meine Väter, heutzutage ist man liberal, jetzt haben wir das Jahrhundert der Dampfschiffe und Eisenbahnen! Nicht tausend, nicht hundert Rubel, nicht hundert Kopeken bekommt ihr mehr von uns zu sehen!“

Noch eine Anmerkung: Niemals hatte unser Kloster etwas Besonderes in seinem Leben bedeutet, und niemals hatte er seinetwegen irgendwelche Tränen vergossen. Er aber ließ sich dermaßen hinreißen, daß er einen Augenblick fast selbst daran glaubte; ihm traten vor Rührung Tränen in die Augen, doch in derselben Sekunde fühlte er, daß es für ihn Zeit war, kehrtzumachen. Der Prior senkte ein wenig den Kopf und sagte auf seine boshafte Lüge wieder mit eindringlicher Stimme:

„Es ist wiederum gesagt: ‚Ertrage freudig das dir zugefügte Unrecht, lasse dich dadurch weder verwirren, noch nähre deswegen Haß gegen deinen Widersacher‘. Also werden auch wir tun.“

„Weiß schon, ‚und halte noch die andere Backe hin!‘ und so weiter, der ganze Gallimatthias! Man kennt doch den Rummel! Aber jetzt gehe ich. Meinen Sohn Alexei nehme ich mit väterlicher Vollmacht ein für allemal von hier fort. Iwan Fedorowitsch, mein gehorsamster Sohn, erlauben Sie, Ihnen zu befehlen, mir zu folgen! Und, von Sohn, was hast du noch hier zu suchen? Komm mit mir in die Stadt! Bei mir ist es lustiger. Im ganzen nur ’ne lumpige Werst, und dafür gibt’s anstatt Fastenbutter Ferkelbraten mit Kartoffelbrei; werden nicht übel schmausen; verspreche dir guten Kognak und nachher noch Likörchen; habe auch Mamurowka[10] ... Ei, von Sohn, versäume doch dein Glück nicht!“

Schreiend und gestikulierend ging er hinaus. Und da erblickte ihn denn Rakitin und machte Aljoscha auf ihn aufmerksam.

„Alexei!“ rief ihm der Vater von weitem zu, als er ihn erblickte, „heute noch ziehe ganz zu mir über, auch das Kissen und das Federbett schlepp mit – daß von dir hier keine Spur mehr nachbleibt, hörst du!“

Aljoscha blieb ganz erstarrt stehen und verfolgte nur schweigend und aufmerksam, was vor seinen Augen geschah. Fedor Pawlowitsch kletterte inzwischen in seinen Wagen, und nach ihm schickte sich schweigend und sichtlich geärgert auch Iwan Fedorowitsch an, einzusteigen, ohne sich vorher von Aljoscha zu verabschieden, oder sich auch nur nach ihm umzuwenden. Da aber kam es noch zu einer lächerlichen und fast unglaublichen Szene, die den ganzen unerhörten Skandal gleichsam abschloß. Plötzlich erschien am Wagentritt der Gutsbesitzer Maximoff. Er war atemlos herangelaufen, um sich nicht zu verspäten. Rakitin und Aljoscha sahen, wie er lief. Er beeilte sich dermaßen, daß er in der Angst, zurückzubleiben, den einen Fuß schon auf den Wagentritt setzte, obgleich auf ihm noch der linke Fuß Iwan Fedorowitschs stand, und, mit der einen Hand sich an den Bockrand klammernd, mehrmals hopste, um schneller einzusteigen.

„Ich auch, ich auch, auch ich komme mit!“ rief er, immer hopsend, unter dünnem, fröhlichem Gelächter mit einem seligen Gesicht, und natürlich zu allem bereit. „Nehmen Sie auch mich mit!“

„Na, habe ich’s nicht gesagt, daß das von Sohn ist!“ rief triumphierend Fedor Pawlowitsch. „Der echte, von den Toten auferstandene von Sohn! Wie hast du dich denn von dort losgerissen? Was hast du denn dort vorvonsohniert? Und wie hast du nur dem schönen Mahle den Rücken gekehrt? Dazu muß man doch eine eherne Stirn haben! Ich habe sie, über deine aber, Bruder, wundere ich mich! Nun, spring herein, hop! Laß ihn, Wanjä,[11] es wird lustiger sein! Er kann sich hier irgendwie vor den Füßen hinlegen. Wirst du vor den Füßen liegen, von Sohn? Oder soll man ihn neben dem Kutscher unterbringen? ... Spring mal auf den Bock, von Sohn.“

Doch Iwan Fedorowitsch, der sich inzwischen schon gesetzt hatte, stieß plötzlich Maximoff mit aller Kraft vor die Brust, so daß der weit zurückflog. Es war nur ein Zufall, daß er nicht hinfiel.

„Fahr zu!“ rief Iwan Fedorowitsch wütend den Kutscher an.

„Aber, was fällt dir ein? Was sollte denn das bedeuten? Warum hast du ihn so fortgestoßen?“ fuhr zwar Fedor Pawlowitsch sofort auf, doch der Wagen rollte schon davon. Iwan Fedorowitsch antwortete nicht.

„Sieh mal einer an, wie du bist!“ brummte Fedor Pawlowitsch nach zwei Minuten Schweigen und schielte nur vorsichtig auf seinen Sohn. „Hast selbst diesen ganzen Klosterbesuch ausgedacht, selbst alles angestiftet, selbst gutgeheißen, warum ärgerst du dich denn jetzt?“

„Sie haben wirklich genug Blödsinn geschwatzt, erholen Sie sich doch etwas,“ schnitt ihm Iwan Fedorowitsch grob das Wort ab.

Fedor Pawlowitsch schwieg wieder etwa zwei Minuten lang.

„Ein Gläschen Kognak wäre jetzt nicht übel,“ bemerkte er bedeutsam. Doch Iwan Fedorowitsch antwortete wieder nicht.

„Nun, wenn wir ankommen, wirst auch du eins trinken.“

Iwan Fedorowitsch schwieg immer noch.

„Aber Aljoscha werde ich doch aus dem Kloster nehmen, obgleich das Ihnen, mein ehrerbietigster Karl von Moor, sehr unangenehm sein wird.“

Iwan Fedorowitsch zuckte verächtlich mit den Achseln, wandte sich von ihm ab, und blickte auf die Landstraße. Darauf wurde während der ganzen Fahrt kein Wort mehr gesprochen.

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