VII. Der Seminarist und Streber

Aljoscha führte seinen Staretz in das kleine Schlafgemach und ließ ihn sich auf das Bett niedersetzen. Es war ein kleines Zimmer, in dem nur die notwendigsten Möbel standen. Das eiserne Bett war klein und schmal, und auf ihm lag anstatt einer Matratze nur eine Filzdecke. In der Ecke unter den Heiligenbildern stand sein Lesepult, und auf ihm lagen ein Kreuz und die Bibel. Der Staretz sank erschöpft auf das Bett; seine Augen glänzten, und er atmete nur schwer. Nachdem er sich gesetzt hatte, richtete er seinen Blick auf Aljoscha und betrachtete ihn aufmerksam, als ob er über etwas nachdächte.

„Geh, mein Liebling, geh, Porfirij wird hier bei mir bleiben, du aber mußt dich beeilen. Du bist dort nötig, geh zum Prior, bediene beim Essen.“

„Bitte, erlauben Sie mir, hier zu bleiben,“ bat Aljoscha leise.

„Du bist dort nötiger. Dort herrscht kein Friede. Du wirst dich nützlich machen können. Wenn die Dämonen sich erheben, so sprich ein Gebet. Und wisse, mein Sohn“ (der Staretz liebte es, ihn so zu nennen), „daß auch hinfort nicht hier dein Platz ist. Denk daran, Jüngling. Wenn es Gott gefallen wird, mich in die Ewigkeit abzurufen – so gehe fort aus dem Kloster. Verlaß es ganz.“

Aljoscha fuhr zusammen.

„Was hast du? Nicht hier ist jetzt dein Platz. Ich segne dich zu deiner großen Aufgabe in der Welt. Lang ist noch deine Wanderschaft, mein Sohn. Und auch heiraten wirst du müssen, Jüngling, du mußt es. Alles wirst du ertragen müssen, bis du wieder da anlangst, von wo du ausgegangen bist. Und du wirst viel zu tun haben. Doch an dir zweifle ich nicht und darum schicke ich dich. Christus ist mit dir. Bewahre du ihn, so wird auch er dich bewahren. Großes Leid wirst du erfahren, und in diesem Leid wirst du glücklich sein. Und hier hast du mein Vermächtnis: Suche im Leid das Glück. Arbeite, arbeite unermüdlich. Behalte hinfort meine Worte, denn wenn ich auch noch mit dir sprechen werde, so sind doch nicht nur meine Tage, sondern selbst meine Stunden gezählt.“

Im Antlitz Aljoschas drückte sich wieder eine mächtige Bewegung aus. Seine Mundwinkel zitterten.

„Was hast du nur wieder?“ fragte sanft lächelnd der Staretz. „Mögen weltliche Tränen ihre Sterbenden begleiten, hier aber freuen wir uns des in die Ewigkeit Eingehenden. Wir freuen uns und beten für ihn. Geh jetzt. Ich muß beten. Gehe und beeile dich. Sei bei deinen Brüdern. Nicht nur bei einem, sondern bei beiden, mein Sohn.“

Der Staretz erhob die Hand zum Segen. Aljoscha wagte nicht, zu widersprechen, obwohl er so gern bei ihm geblieben wäre. Auch wollte er noch fragen, und schon schwebte ihm die Frage auf der Zunge, was diese Verbeugung bis zur Erde vor seinem Bruder Dmitrij bedeuten sollte? – Aber er wagte es nicht. Er wußte, daß der Staretz es ihm auch ungefragt gesagt haben würde, wenn es möglich gewesen wäre. Also hatte er es selbst nicht gewollt. Diese Verbeugung aber hatte auf Aljoscha einen furchtbaren Eindruck gemacht; er glaubte blind, daß in ihr ein geheimnisvoller Sinn lag – eine geheimnisvolle und vielleicht entsetzliche Bedeutung. Als er aus der Einfriedung der Einsiedelei trat, um noch zur rechten Zeit ins Kloster zum Mittagsmahl des Priors zu gelangen, natürlich, nur um bei Tisch zu bedienen, zog sich ihm plötzlich schmerzhaft das Herz zusammen, und er blieb stehen: In seinen Ohren erklangen von neuem die Worte des Staretz, die seinen nahen Tod verkündet hatten. Was aber der Staretz vorhersagte und noch dazu mit solch einer Bestimmtheit, das mußte auch in Erfüllung gehen – dieser Glaube war für Aljoscha heilig. Wie aber sollte er dann ohne ihn bleiben, wie ihn nicht mehr sehen, wie ihn nicht mehr hören? Und wohin sollte er dann gehen? Nicht weinen und das Kloster verlassen, o Gott! Lange schon hatte Aljoscha nicht mehr so großes Leid empfunden. Er schritt schneller durch den Wald, der die Einsiedelei vom Kloster trennte, und da ihn seine Gedanken fast erdrückten, blickte er hinauf in die Wipfel der hundertjährigen Kiefern zu beiden Seiten des schmalen Waldwegs. Es war nicht weit bis zum Kloster: fünfhundert Schritt, nicht mehr. Zu dieser Tageszeit hätte er eigentlich niemanden treffen können, doch plötzlich erblickte er bei einer Wegbiegung Rakitin, den Seminaristen, der jemanden zu erwarten schien.

„Wartest du etwa auf mich?“ fragte Aljoscha, als er ihn erreicht hatte.

„Hast’s erraten,“ antwortete Rakitin. „Du begibst dich zum Prior. Ich weiß; bei ihm gibt es heute wieder ein Essen. Seitdem er damals den Bischof und den General Pachatoff aufgenommen, weißt du noch, hat es bei ihm solch ein Mahl nicht mehr gegeben. Ich werde nicht dabei sein, du aber geh mal hin, um die Saucen zu reichen. Sage mir aber vorher eines, Alexei: Was hat diese Vision des Staretz zu bedeuten? Das ist es, was ich dich fragen will.“

„Welch eine Vision?“

„Nun, diese Verbeugung vor deinem Brüderlein Dmitrij Fedorowitsch. Und wie er noch mit der Stirn auf den Boden knallte!“

„Du sprichst vom Staretz Sossima?“

„Von wem denn sonst?“

„Knallte? ...“

„Ach so, hab mich unehrerbietig ausgedrückt. Nun, meinetwegen. Aber was hat denn diese Vision zu bedeuten?“

„Ich weiß es nicht, Mischa, was sie zu bedeuten hat.“

„Das konnte ich mir ja denken, daß er’s dir nicht erklären würde. Gescheites steckt dabei natürlich nichts dahinter; wie’s scheint, wieder nur die ewigen Heilsdummheiten. Aber das Kunststück wurde absichtlich gemacht. Jetzt werden alle Kirchenschwalben in der Stadt losschnattern, und dann wird’s vom einen zum anderen durch das ganze Gouvernement gehen: ‚Was hat wohl diese Vision zu bedeuten?‘ Der Alte ist ja wirklich mit Seherkraft begabt: hat ein Kriminalverbrechen gewittert. Es stinkt bei euch.“

„Was für ein Kriminalverbrechen?“

Augenscheinlich wollte Rakitin etwas sagen.

„Dasselbe, das in eurer Familie begangen werden wird. Und zwar wird es zwischen deinen Brüdern und deinem reichen Papachen unbedingt dazu kommen. Und so hat denn Sossima auf alle zukünftigen Fälle mit der Stirn den Fußboden berührt. Was dann später auch geschehen mag, jedenfalls wird’s heißen: ‚Ach, das hat doch der heilige Staretz prophezeit,‘ – obgleich, sage doch selbst, was soll denn das für eine Prophezeiung sein? Nein, das war sozusagen eine sinnbildliche, eine allegorische Handlung, und weiß der Teufel, was noch! Man wird’s ausposaunen und behalten: Hat das Verbrechen vorausgesehen, den Verbrecher erkannt. Alle sich blödsinnig stellenden Stadtverrückten tun dasselbe: Bekreuzen sich vor der Schenke, auf die Kirche aber werfen sie Steine. So tut’s auch dein Staretz: Den Gerechten mit dem Knüppel raus, dem Mörder aber eine Verbeugung bis zur Erde.“

„Was für ein Verbrechen? Welch einem Mörder? Was sagst du?“ Aljoscha stand wie erstarrt, da blieb auch Rakitin stehen.

„Welch einem? Als ob du’s nicht wüßtest? Ich könnte wetten, daß du schon selbst daran gedacht hast. Aber wart mal, das ist ja ganz interessant: Hör, Aljoscha, du sagst doch immer die Wahrheit, wenn du dich auch immer zwischen die Stühle setzt: hast du daran gedacht, oder hast du nicht daran gedacht, antworte?“

„Ich habe daran gedacht,“ antwortete Aljoscha leise. Selbst Rakitin wurde etwas verlegen.

„Was du sagst? Also auch du hast schon daran gedacht?“ rief er erstaunt.

„Ich ... ich ... nicht gerade, daß ich gedacht habe,“ murmelte Aljoscha, „als du aber jetzt anfingst, so sonderbar darüber zu sprechen, da schien es mir, daß ich selbst daran gedacht habe.“

„Siehst du, und wie deutlich du das ausdrückst! Also heute hast du beim Anblick deines Papachen und deines Brüderleins Mitjenka an ein Verbrechen gedacht? Also täusche ich mich doch nicht?“

„Aber wart, wart doch,“ unterbrach ihn erregt Aljoscha, „woraus schließt du das alles? ... Und vor allen Dingen: Warum beschäftigt dich das so?“

„Zwei verschiedene Fragen auf einmal, doch sind sie beide verständlich. Ich werde jede einzeln beantworten. Woraus ich das schließe? Nichts würde ich hieraus schließen, wenn ich deinen Bruder Dmitrij Fedorowitsch heute nicht ganz erkannt hätte, ganz plötzlich, und ganz und gar durchschaut hätte. An so einem einzigen Zuge begriff ich mit einem Schlage den ganzen Menschen. Bei diesem allerehrlichsten, doch wollüstigen Menschen gibt es eine Grenze, die man nicht überschreiten darf, oder er spießt mit seinem Messer selbst das Papachen auf. Papachen aber ist ein stets besoffener und zügelloser Wüstling, niemals und in nichts wird er maßzuhalten verstehen, wie er es nie verstanden hat – sie werden sich beide nicht beherrschen und plumps, beide in den Graben purzeln ...“

„Nein, Mischa, nein, wenn es nur das ist, so ... so hast du mich beruhigt. Dazu wird es nicht kommen.“

„Warum aber zitterst du am ganzen Körper? Weißt du was? Mag er auch ein ehrlicher Mensch sein, der Mitjenka – er ist dumm, aber ehrlich; aber, aber er ist ein Wollüstling. Das ist die richtige Bezeichnung für sein ganzes inneres Wesen. Und das hat er vom Vater, der hat ihm seine gemeine Lüsternheit vermacht. Ich muß mich immer nur über dich wundern, Aljoscha: Wie bist du noch so ganz Knabe? Du bist doch auch ein Karamasoff! Ist doch in eurer Familie die Sinnlichkeit bis zur chronischen Entzündung gesteigert. Nun, und diese drei Wollüstlinge beobachten jetzt einer den anderen ... mit Messern in den Stiefelschäften. Drei sind mit den Köpfen aneinandergestoßen, du aber bist vielleicht der vierte.“

„Aber in ihr täuschst du dich. Dmitrij ... verachtet sie,“ sagte Aljoscha fast zusammenzuckend.

„Wen, Gruschenka etwa? Nein, mein Lieber, die verachtet er nicht! Wenn er sogar seine Braut gegen sie eingetauscht hat, so verachtet er sie nicht. Hier ... hier, weißt du, ist etwas, was du noch nicht verstehen kannst. Wenn sich der Mensch in irgendeine Schönheit, in den weiblichen Körper oder selbst nur in einen Teil des weiblichen Körpers verliebt – ein Wollüstling kann das wohl verstehen –, so gibt er für ihn seine eigenen Kinder hin, verkauft Vater und Mutter, Rußland und das Vaterland. Ist er ehrlich, so wird er stehlen gehen; ist er sanftmütig, so wird er morden; ist er treu – verraten. Puschkin, der Sänger der Weiberfüßchen, hat diese Füßchen in Gedichten besungen, andere besingen sie nicht, können aber auf diese Füßchen nicht ohne Erregung blicken. Und nicht nur auf die Füßchen ... Hier, mein Lieber, hilft keine Verachtung – selbst wenn er Gruschenka verachtete. Oder gut, er verachtet sie, kann sich aber doch nicht losreißen.“

„Das verstehe ich,“ platzte ganz unvermutet Aljoscha heraus.

„Was du sagst? Mußt es ja wirklich verstehen, wenn es so plötzlich und so unverhofft aus dir herausfährt!“ rief schadenfroh Rakitin. „Es kam ja fast ganz aus Versehen aus dir heraus. Um so wertvoller das Geständnis: Also bereits bekanntes Thema für dich, hast schon darüber nachgedacht, über die Wollust! Ach, du unberührtes Mädchen! Du, Aljoscha, bist ein Duckmäuser, still und verschwiegen, schön, du bist ein Heiliger, gebe es zu, aber du bist verschlossen, und der Teufel mag wissen, woran du schon gedacht hast, was dir alles schon bekannt ist! Bist ’ne Jungfer und bist schon in solche Tiefen hinabgestiegen! Ich beobachte dich schon lange. Auch du bist ein Karamasoff, ein echter Karamasoff – also haben doch die Herkunft und der Stamm etwas zu bedeuten! Nach dem Vater Wollüstling, nach der Mutter geistesschwacher Heiliger. Warum zitterst du? Oder sage ich die Wahrheit? Weißt du was: Gruschenka hat mich gebeten, ‚bring ihn – das heißt also, dich – bring ihn her, ich werde ihm die Kutte abziehen.‘ Und wie sie noch gebeten hat: Bring ihn und bring ihn! Ich frage mich nur, wodurch du für sie so interessant bist? Weißt du, auch sie ist ein ungewöhnliches Weib!“

„Grüße sie und sage ihr, daß ich nicht kommen werde,“ sagte Aljoscha mit einem verzogenen Lächeln. „Du, Michail, sprich aus, was du vorhin sagen wolltest, ich werde dir dann auch meine Gedanken sagen.“

„Was ist hier auszusprechen, es ist doch klar. Das Ganze, mein Lieber, ist eine alte Geschichte. Wenn auch du schon in dir den Wollüstling fühlst, was ist dann dein Bruder Iwan, dein leiblicher Bruder? Auch er ist doch ein Karamasoff, darin besteht ja euer ganzes Karamasoffsches Problem: Wollüstlinge, Besitzgierige und Heilige! Dein Bruder Iwan schreibt jetzt vorläufig scherzweise aus irgendeiner theologischen, allerdümmsten, unbekannten Berechnung Zeitungsartikel, ist aber dabei Atheist, und diese Gemeinheit gesteht er zum Überfluß noch selbst ein, dieser dein Bruder Iwan. Außerdem will er seinem älteren Bruder die Braut abspenstig machen und wird, wie’s scheint, auch dieses Ziel erreichen. Und wie noch: mit Mitjenkas eigener Erlaubnis – denn Mitjenka tritt ihm ja selbst seine Braut ab, um sie vom Halse zu haben und von ihr schneller ganz zu Gruschenka übergehen zu können. Und das alles bei seiner edlen Denkweise und Uneigennützigkeit, vergiß das nicht! Der Teufel soll aus euch klug werden: Mitjä sieht seine Gemeinheit selbst ein und rennt doch mit dem Kopf voran in sie hinein! Höre weiter. Nun aber kommt der Alte und kreuzt Mitjenkas Weg – der Vater! Der ist doch jetzt plötzlich wie besessen hinter Gruschenka her; bei ihm fließt ja schon der Geifer aus den Mundwinkeln, wenn er sie bloß von weitem sieht; hat er doch nur ihretwegen in der Zelle diesen Skandal gemacht, weil Miussoff sich erdreistete, sie ein gemeines Geschöpf zu nennen; ist wie ein Kater in sie verliebt. Früher diente sie ihm bloß für Geld zu gewissen dunklen Trinkstubengeschäftchen, jetzt aber hat er sie entdeckt und ist wie rasend geworden, drängt sich täglich mit Anträgen, natürlich mit unanständigen, an sie heran. Nun und auf diesem Wege werden sie dann aneinanderprallen, das Papachen mit dem Söhnchen. Gruschenka aber entscheidet sich noch für keinen von beiden, macht vorläufig noch Winkelzüge und führt sie beide an der Nase herum, überlegt sich, welcher vorteilhafter wäre; denn wenn man dem Papachen auch viel Geld abzapfen könnte, so heiratet er dafür doch nicht, und womöglich wird er zum Schluß noch knickerig und hängt den Beutel höher oder schließt ihn ganz. In diesem Falle hat auch Mitjenka seinen Wert: Geld hat er zwar nicht, dafür aber ist er fähig, zu heiraten. Ja, dazu ist er fähig! Die Braut zu verlassen, Katerina Iwanowna, die schön, wunderschön, reich, adlig und die Tochter eines Obersten ist, und Gruschenka zu heiraten, die gewesene Maitresse eines alten, ausschweifenden Krämers, des Stadthaupts Ssamssonoff. Aus alledem kann wirklich ein Kriminalverbrechen zustande kommen, und darauf wartet nur dein Bruder Iwan, dann würde er in der Wolle sitzen: würde Katerina Iwanowna, nach der er vor Sehnsucht vergeht, erwerben und dazu noch die Sechzigtausend ihrer Mitgift schnappen. Für einen Habenichts, wie er, ist das für den Anfang sehr verlockend. Und vergiß dabei nicht: nicht nur, daß er Mitjä damit nicht beleidigt, er verpflichtet ihn sich noch bis zum Grabe. Ich weiß doch, daß Mitjä selbst noch in der vergangenen Woche im Gasthaus geschrien hat, nachdem er sich in Gesellschaft von Zigeunerinnen angetrunken, daß er seiner Braut, der Katjenka, nicht wert sei, sein Bruder Iwan aber, der sei es! Und was Katerina Iwanowna anbetrifft, so wird sie solch einen Bezauberer, wie Iwan Fedorowitsch, schließlich doch nicht verschmähen; sie schwankt ja schon jetzt zwischen beiden. Wodurch hat nur dieser Iwan euch alle dermaßen bestrickt, daß ihr ihn ausnahmslos so ehrfurchtsvoll verehrt? Er lacht doch einfach über euch: sitze in der Wolle, denkt er, und wärme mich auf eure Rechnung!“

„Woher weißt du das? Warum sprichst du so überzeugt?“ fragte plötzlich Aljoscha schroff und runzelte die Stirn.

„Warum fragst du das jetzt, und warum fürchtest du meine Antwort schon im voraus? Gibst damit doch selbst zu, daß ich die Wahrheit gesagt habe.“

„Du magst ihn nicht; Iwan läßt sich nicht durch Geld verlocken.“

„Was du sagst? Und die Schönheit Katerina Iwanownas? Da handelt es sich nicht um Geld allein, obgleich sechzigtausend Rubel ein verlockendes Sümmchen sind.“

„Iwan denkt höher; ihn werden auch Tausende nicht anlocken. Iwan sucht nicht Geld, nicht Wohlleben. Vielleicht sind es Qualen, die er sucht.“

„Was soll denn das bedeuten? Ach, ihr Edelleute!“

„Ja, Mischa, seine Seele ist stürmisch, sein Verstand liegt in Fesseln; er trägt große, noch unentschiedene Gedanken mit sich. Er ist einer von denen, die nicht Millionen brauchen, sondern Probleme lösen müssen.“

„Literarischer Diebstahl, Aljoscha! Du kopierst deinen Staretz in schönen Phrasen. Und was für ein Rätsel euch dieser Iwan aufgegeben hat!“ sagte Rakitin mit unverhohlener Bosheit. Sein Gesicht veränderte sich sogar, und seine Lippen verzogen sich. „Und das Rätsel ist dazu noch dumm, ’s ist dabei nichts zu erraten! Streng dein Gehirn etwas an und denk mal nach, dann wirst du’s einsehen. Sein Artikel ist lächerlich und absurd. Und hörtest du vorhin seine dumme Theorie: ‚Gibt es keine Unsterblichkeit der Seele, so gibt es auch keine Tugend, folglich ist alles erlaubt.‘ – Und Mitjenka, weißt du noch, wie der ausrief: ‚Das werde ich mir merken!‘ – Wahrlich – eine verlockende Theorie für Spitzbuben ... Ich schimpfe wieder, das ist dumm ... nicht für Spitzbuben, sondern für schuljungenhafte Aufschneider – mit ‚unergründlicher Gedankentiefe‘. Ein Prahlhänschen, und der ganze Kern: ‚Einerseits ist es unmöglich, zuzugeben, und andererseits – ist es unmöglich, nicht anzuerkennen!‘ Seine ganze Theorie ist eine Gemeinheit. Die Menschheit wird in sich selbst die Kraft finden, für die Tugend zu leben, sogar ohne dabei an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben! In der Liebe zur Freiheit, zur Gleichheit, Brüderlichkeit wird sie sie finden ...“

Rakitin ereiferte sich dermaßen, daß er sich kaum noch beherrschen konnte. Doch plötzlich brach er ab, als ob ihm etwas eingefallen wäre.

„Nun genug,“ meinte er mit schiefem Lächeln. „Warum lachst du? Denkst wohl, daß ich ein Hundsfott bin?“

„Nein, ich dachte nicht einmal daran, das zu denken. Du bist klug, aber ... laß gut sein, ich lächelte nur so aus Dummheit; ich verstehe, daß du dich ereiferst, Mischa. Aus deiner Erregung habe ich erraten, daß du selbst nicht gleichgültig bist gegen Katerina Iwanowna, und das, Freund, habe ich schon längst vermutet; darum aber liebst du auch meinen Bruder Iwan nicht. Bist du eifersüchtig auf ihn?“

„Und auf ihr Geld? Sag nur, was du denkst.“

„Nein, das werde ich nicht sagen; ich will dich nicht beleidigen.“

„Glaub’s, weil du es sagst. Aber der Teufel hole euch alle mitsamt eurem lieben Iwan! Kein einziger von euch will’s begreifen, daß man ihn auch ohne Katerina Iwanowna nichts weniger als lieben kann. Und warum soll ich ihn denn lieben, Teufel noch eins! Würdigt er mich doch dessen, sogar persönlich über mich zu schimpfen. Warum soll ich dann kein Recht haben, auch über ihn zu schimpfen?“

„Ich habe noch nie gehört, daß er etwas über dich gesagt hat, weder Gutes noch Schlechtes; er spricht überhaupt nicht von dir.“

„Ich aber habe gehört, daß er mich vor drei Tagen bei Katerina Iwanowna, was das Zeug hält, heruntergerissen hat – dermaßen also interessiert er sich für meine Wenigkeit. Und wer auf wen eifersüchtig ist – das weiß ich nicht! Er hat geruht, den Gedanken auszudrücken, daß ich, wenn ich mich nicht bald für die Karriere des Erzbischofs entscheide und mich nicht als Mönch einkleiden lasse, unbedingt nach Petersburg fahren würde, um dort an einer großen Zeitung anzukommen, unbedingt in die kritische Abteilung, um etwa zehn Jahre zu schreiben und dann das Blatt auf meinen Namen zu überführen. Darauf würde ich’s weiter herausgeben, und zwar unbedingt mit einer liberalen und atheistischen Tendenz, mit sozialistischer Färbung, doch dabei wohl auf der Hut sein, das heißt also, im Grunde weder auf dieser noch auf jener Seite stehen und den Eseln Sand in die Augen streuen. Das Ende meiner Karriere wäre nach der Weissagung deines lieben Brüderchens: daß die sozialistische Färbung mich nicht hindern würde, die Abonnementsgelder zurückzulegen und mit ihnen bei passender Gelegenheit unter Anleitung irgendeines Juden zu spekulieren, bis ich mir ein kapitales Haus in Petersburg aufgebaut habe, um in dasselbe die ganze Redaktion überzuführen und in die übrigen Etagen Mieter aufzunehmen. Er hat sogar den Platz fürs Haus schon bestimmt: an der neuen Steinbrücke, die jetzt, wie es heißt, in Petersburg vom Liteinyj auf die Wyborger Seite projektiert wird ...“

„Ach, Mischa, das wird doch auch genau so sein, aufs Wort genau!“ rief plötzlich Aljoscha aus und lachte fröhlich auf.

„Ah – auch Sie ergehen sich in Sarkasmen, Alexei Fedorowitsch?“

„Nein, nein, ich scherzte nur, verzeih! Ich habe ganz anderes im Sinne. Aber erlaube: Wer hat dir das so bis in alle Einzelheiten erzählen können, von wem hättest du das hören können? Persönlich konntest du doch nicht bei Katerina Iwanowna sein, als er von dir sprach?“

„Ich war allerdings nicht bei ihr, dafür aber war Dmitrij Fedorowitsch dort, und so hörte ich es denn später mit eigenen Ohren von ihm, das heißt, wenn du willst, er sagte es nicht mir, sondern ich hörte es, unfreiwillig natürlich, denn ich saß in Gruschenkas Schlafzimmer und konnte nicht hinausgehen, solange er sich im vorderen Zimmer befand.“

„Ach richtig, ich hatte es fast vergessen, sie ist ja mit dir verwandt.“

„Verwandt? Gruschenka, diese Gruschenka mit mir verwandt?“ schrie Rakitin, ganz rot im Gesicht. „Du hast wohl den Verstand verloren! Deinem Gehirnkasten scheint ja die Vernunft völlig abhanden gekommen zu sein!“

„Wie, ist sie denn wirklich nicht mit dir verwandt? Ich habe es so gehört ...“

„Wo hast du das hören können? Nein, ihr, meine Herren Karamasoff, ihr spielt euch ja wahrlich als große, erhabene, alte Edelleute auf, während doch dein Vater als Narr von einem fremden Tisch zum anderen lief und Gnadenbrot aß! Gut, ich bin bloß ein Popensohn und vor euch Adligen nur eine Blattlaus, aber beleidigt mich deshalb nicht so sorglos auf Schritt und Tritt! Auch ich habe eine Ehre, Alexei Fedorowitsch. Ich kann nicht mit Gruschenka verwandt sein, mit einer öffentlichen Dirne, das bitte ich zu begreifen!“

Rakitin war ungewöhnlich gereizt.

„Verzeih mir, um Gottes willen, ich konnte das doch nicht ahnen, und zudem – wieso ist sie denn eine öffentliche? Ist sie etwa ... so eine?“ fragte plötzlich errötend Aljoscha. „Ich versichere dir, ich habe es so gehört, daß du mit ihr verwandt sein sollst. Du gehst so oft zu ihr und hast mir dabei selbst gesagt, daß du mit ihr kein ... Liebesverhältnis hast ... Ich hätte daher nie gedacht, daß du sie so verachtest! Und hat sie das denn wirklich verdient?“

„Wenn ich sie besuche, so kann ich dazu meine Gründe haben; das mag dir genügen. Was aber die Verwandtschaft anbetrifft, so wird dein Brüderchen oder vielleicht sogar das Papachen eher dich mit dieser Verwandtschaft beglücken, als daß ich mit ihr verwandt wäre. So, da sind wir ja. Schieb mal jetzt in die Küche ab. O! was ist denn das, was hat das zu bedeuten? Etwa zu spät gekommen? Aber so schnell konnten sie doch nicht abspeisen? Oder haben hier wieder die Karamasoffs etwas Schönes angerichtet? Bestimmt wird’s so sein! Da kommt ja auch schon dein Papachen und hinter ihm Iwan Fedorowitsch. Kommen beide vom Prior heraus. Da ruft ihnen ja noch Pater Issidor etwas von der Treppe nach. Ah, und auch dein Vater schreit jetzt und fuchtelt mit den Armen, schimpft natürlich. Ah, und da fährt ja schon Miussoff in seinem Wagen fort, siehst du, dort fährt er. Und da läuft ja auch noch Maximoff – aber dort gibt’s unbedingt einen Skandal! Haben wohl überhaupt nicht gespeist! Oder sollten sie womöglich den Prior verprügelt haben? Oder selbst verprügelt worden sein? Das wäre was! ...“

Rakitin hatte es erraten. Es war tatsächlich zu einem Skandal gekommen, zu einem unerhörten und ganz unerwarteten Skandal. Und alles war „aus Begeisterung“ geschehen.

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