I. Der Anfang der Laufbahn des Beamten Perchotin

Pjotr Iljitsch Perchotin, den wir vor dem Hause der Kaufmannswitwe Morosoff verlassen hatten, klopfte unentwegt und mit jedem Schlage stärker an das fest verschlossene Hoftor, bis er schließlich den Hofknecht aus dem Bett geklopft hatte. Als Fenjä, die sich vor Erregung und „Gedanken“ noch nicht entschlossen hatte, zu Bett zu gehen, ein so unbändiges Klopfen am Hoftor hörte, verlor sie vor Schreck fast die Besinnung. Sie war sofort überzeugt, daß der Ruhestörer kein anderer sein konnte als Dmitrij Fedorowitsch (obgleich sie selbst gesehen hatte, wie er mit Andrei fortgefahren war), denn sie sagte sich, daß so „gebieterisch“ nur er allein klopfen könne. So stürzte sie denn unverzüglich zum Hofknecht, der sich bereits zum Hoftor begab, und bat ihn himmelhoch, nicht zu öffnen und niemanden hereinzulassen. Der Alte wurde nachdenklich, erkundigte sich aber doch nach dem Namen des Klopfenden, und als er hörte, wer es war, und daß man Fedossja Markowna (Fenjä) in einer sehr wichtigen Angelegenheit zu sprechen wünschte, entschloß er sich, das Fußpförtchen aufzuschließen. Als Perchotin mit dem Hofknecht, den Fenjä mit seiner Erlaubnis gebeten hatte, „von wegen des Bedenklichen“ mitzukommen, in die Küche eingetreten war, begann er unverzüglich sie auszufragen, und so erfuhr er denn alsbald das Wichtigste, nämlich: daß Dmitrij Fedorowitsch, als er fortgestürzt war, um Gruschenka zu suchen, die Mörserkeule ergriffen und in die Tasche gesteckt hatte, dann aber ohne dieselbe, doch mit blutigen Händen zurückgekehrt war. „Und das Blut triefte noch von ihm, triefte noch, triefte nur so von ihm!“ beteuerte Fenjä, die sich in der Aufregung dieses grauenhafte Bild wahrscheinlich ganz unwillkürlich schuf. Daß Mitjäs Hände mit Blut besudelt waren, hatte auch Perchotin gesehen, hatte ja selbst geholfen, sie reinzuwaschen, aber nicht darum handelte es sich jetzt, ob sie schnell oder langsam trocken geworden waren, sondern darum, wohin er, Dmitrij Fedorowitsch, mit der Mörserkeule gelaufen war, d. h., woraus man mit Bestimmtheit schließen konnte, daß es gerade zu seinem Vater gewesen sein mußte? Danach erkundigte sich Perchotin ausführlich, und obwohl er, genau genommen, nichts Bestimmtes erfuhr, so trug er doch die Überzeugung davon, daß Dmitrij Fedorowitsch einzig und allein zum Vater gelaufen sein konnte, und daß dort folglich „etwas“ geschehen sein mußte. „Als er aber zurückkam,“ unterbrach Fenjä erregt seinen Gedankengang, „und ich ihm alles gestanden hatte, da versuchte ich, ihn etwas auszufragen. ‚Täubchen Dmitrij Fedorowitsch,‘ sagte ich, ‚warum sind denn Ihre beiden Hände so blutig?‘ – Da antwortete er mir, daß es Menschenblut sei, und daß er einen Menschen erschlagen habe ...“ Sie sagte, er habe ihr ohne weiteres alles gestanden und habe ersichtlich bereut, doch plötzlich sei er wieder wie ein Irrsinniger hinausgelaufen. „Da setzte ich mich und fing an nachzudenken,“ fuhr Fenjä fort, „und ich fragte mich, wohin er wohl so gelaufen sein mag? Da sagte ich mir, er wird nach Mokroje fahren und dort Agrafena Alexandrowna totschlagen. So lief ich denn hinaus, um ihn vielleicht noch in seiner Wohnung anzutreffen und himmelhoch zu bitten, daß er sie nicht totschlägt, und da traf ich ihn unterwegs bei Plotnikoffs und sah, daß er gerade nach Mokroje abfahren wollte, seine Hände aber schon reingewaschen waren.“ (Die reinen Hände hatte Fenjä sofort bemerkt.) Die alte Köchin Matrjona bestätigte, so weit sie konnte, die Aussagen ihrer Enkelin. Perchotin stellte noch einige Fragen und verließ dann in noch größerer Erregung das Haus der Morosowa, als er das Gasthaus verlassen hatte.

Man sollte meinen, daß es für ihn das Nächstliegende gewesen wäre, zu Fedor Pawlowitsch Karamasoff zu gehen und sich dort zu erkundigen, ob nicht etwas Besonderes geschehen war, und dann erst, wenn sich sein Verdacht bestätigt hatte, zum Polizeichef zu gehen, wie er es sich fest vorgenommen. Aber das war so eine Sache. – Die Nacht war dunkel, das Hoftor des Karamasoffschen Hauses groß und schwer, das Klopfen nicht hörbar, und er hätte lange klopfen müssen – mit Fedor Pawlowitsch aber war er nur ganz oberflächlich bekannt. Und da würde er denn das ganze Haus aufwecken: man machte ihm auf, und es zeigte sich, daß nichts geschehen war, – und der spottlustige Fedor Pawlowitsch erzählt morgen in der ganzen Stadt die Geschichte, wie Pjotr Iljitsch Perchotin, der ihm völlig unbekannt ist, um Mitternacht zu ihm gelaufen kommt und wie ein Verrückter am Hoftor klopft, um zu erfahren, ob ihn nicht jemand totgeschlagen habe. Das aber wäre ein Skandal, und so etwas fürchtete Perchotin am meisten. Nichtsdestoweniger war die Unruhe, die ihn mit sich fortriß, so stark, daß er sich – allerdings fluchend, mit dem Fuß aufstampfend und mit einem Schimpfwort an die eigene Adresse – unverzüglich auf den Weg machte, doch diesmal nicht zu Fedor Pawlowitsch, sondern zu Frau Chochlakoff. Er beschloß, sie ohne alle Umschweife zu fragen, ob sie heute zu der und der Stunde Dmitrij Karamasoff dreitausend Rubel gegeben habe, und wenn sie dies verneinte, sofort zum Polizeichef zu gehen; falls sie es aber bejahte, alles bis auf den nächsten Tag aufzuschieben und zu sich nach Haus zurückzukehren. Nun sollte man mit Recht meinen, daß der Entschluß des jungen Mannes, in der Nacht, fast um elf Uhr, in das Haus einer ihm ganz unbekannten Dame zu gehen und sie womöglich aus dem Schlaf zu wecken, um an sie eine in ihrer Art gewiß etwas verfängliche Frage zu stellen, vielleicht noch vielmehr Aussichten bot, einen Skandal hervorzurufen, als wenn er zu Fedor Pawlowitsch gegangen wäre. Aber das geschieht bekanntlich – besonders in solchen oder ähnlichen Fallen – nicht selten mit den Entschlüssen der korrektesten und phlegmatischsten Leute. Übrigens war Perchotin in dieser Nacht nichts weniger als phlegmatisch. Sein ganzes Leben lang erinnerte er sich später, wie seine unbezwingbare Unruhe schließlich so groß geworden war, daß sie ihm Qual verursacht und ihn eigentlich gegen seinen Willen immer weiter getrieben hatte. Es versteht sich daher von selbst, daß er sich auf dem ganzen Wege zu ihr über seine Handlung ärgerte, aber: „Ich setze es durch, was es auch koste, ich setze es doch durch,“ wiederholte er mindestens zehnmal zähneknirschend vor sich hin. Und richtig – er führte auch durch, was er sich vorgenommen hatte.

Es schlug gerade elf, als er sich dem Hause Frau Chochlakoffs näherte. In den Hof wurde er ziemlich bald eingelassen, doch auf die Frage, ob die gnädige Frau schon schlafe oder noch auf sei, konnte der Hofknecht nichts Bestimmtes sagen, außer daß sie sich um diese Zeit gewöhnlich schon zurückzuziehen pflege. „Aber der Herr kann es doch versuchen; will man empfangen, so empfängt man, will man nicht, dann nicht. Nur muß der Herr sich oben anmelden.“ Perchotin stieg die Paradetreppe hinauf, doch hatte er hier einen schweren Stand. Der Diener weigerte sich, ihn anzumelden, rief aber schließlich wenigstens die Zofe heraus. Perchotin bat höflich, aber in sehr bestimmtem Tone, ihn bei der gnädigen Frau anzumelden, und unbedingt noch hinzuzufügen, daß er in einer äußerst wichtigen Angelegenheit die gnädige Frau unverzüglich sprechen müsse, sich anderenfalls nie erdreistet hätte usw. Die Kammerzofe ging. Er blieb im Vorzimmer zurück und wartete. Frau Chochlakoff schlief allerdings noch nicht, hatte sich aber schon in ihr Schlafgemach zurückgezogen. Sie war seit dem Besuch Mitjäs sehr angegriffen und fühlte schon im voraus, daß sie in dieser Nacht der Migräne, die in solchen Fällen stets einzutreten pflegte, nicht entgehen werde. Sie hörte verwundert den Bericht ihrer Zofe an, befahl aber doch gereizt, den Herrn abzuweisen, wenn auch der unerwartete Besuch eines „hiesigen Beamten“, wie die Zofe sagte, „zu dieser Stunde!“ nicht wenig ihre Neugier reizte. Doch Perchotin war diesmal hartnäckig wie ein Maulesel (mit dieser Bezeichnung bedachte er sich selbst während des Wartens). Als er die Absage vernommen hatte, bat er sehr bestimmt und nachdrücklich, ihn nochmals anzumelden, und zwar gerade mit den Worten: daß es eine „äußerst wichtige Angelegenheit sei, und die gnädige Frau es vielleicht später bedauern werde, wenn sie ihn jetzt nicht empfinge.“ „Es war mir damals geradezu, als wenn ich einen Berg unaufhaltsam hinabglitt,“ sagte er später bei der Wiedergabe jener Erlebnisse und der Schilderung seiner Empfindungen in jenen Stunden. Die Zofe betrachtete ihn nicht wenig erstaunt, ging aber doch, um ihn noch einmal anzumelden. Frau Chochlakoff war sehr betroffen durch das sonderbare Auftreten des nächtlichen Besuchers. Sie dachte nach und erkundigte sich, wie denn „dieser Mensch“ aussähe, und erfuhr, daß er „sehr anständig gekleidet, jung und sehr höflich“ sei. Ich muß hier noch bemerken, daß Perchotin als junger Mann tatsächlich gut aussah und das auch selbst von sich wußte. Frau Chochlakoff entschloß sich endlich, den Herrn zu empfangen. Sie war bereits in ihrem Hausrock und in Pantöffelchen, und so nahm sie noch einen Schal um. Perchotin wurde in den Empfangssalon gebeten, in dem sie vor kurzem auch Mitjä empfangen hatte. Er trat ein. Gleich darauf erschien auch die Hausfrau. Sie blickte ihn streng und mit etwas erstaunt fragendem Blick an. Ohne ihn aufzufordern, Platz zu nehmen, fragte sie:

„Sie wünschen?“

„Verzeihen Sie, gnädige Frau, daß ich es gewagt habe, Sie zu so später Stunde zu belästigen. Es handelt sich um unseren gemeinsamen Bekannten Dmitrij Fedorowitsch Karamasoff,“ begann Perchotin, doch kaum hatte er diesen Namen ausgesprochen, als im Gesichte der Dame eine ungewöhnliche Veränderung vor sich ging und sie ihn heftig unterbrach:

„Wie lange, wie lange wird man mich noch mit diesem furchtbaren Menschen peinigen!“ rief sie empört. „Wie wagen Sie es, mein Herr, eine Ihnen ganz unbekannte Dame in ihrem Hause zu dieser Stunde zu beunruhigen ... bei ihr zu erscheinen, um von einem Menschen zu sprechen, der sie hier, in diesem selben Empfangssalon vor drei Stunden beinahe erschlagen wollte, wenigstens hier mit den Füßen gestampft hat und schließlich in einer Art und Weise hinausgelaufen ist, wie sonst niemand ein anständiges Haus verläßt. Wissen Sie auch, mein Herr, daß ich mich über Sie bei Ihren Vorgesetzten beklagen werde ... Ich bitte Sie, mich sofort zu verlassen ... Ich ... ich bin Mutter, ich werde sofort ... ich ... ich ...“

„Erschlagen!? So wollte er auch Sie erschlagen?“

„Ja, hat er denn sonst jemanden schon umgebracht?“ erkundigte sich Frau Chochlakoff ungestüm.

„Haben Sie die Güte, mich anzuhören, gnädige Frau, nur eine halbe Minute lang, und ich werde Ihnen in zwei Worten alles erklären,“ sagte Perchotin entschlossen. „Heute um fünf Uhr nachmittags borgte Herr Karamasoff, als Kamerad, zehn Rubel von mir, und ich weiß daher bestimmt, daß er kein Geld besaß. Und heute um neun Uhr abends kam er wieder zu mir und hielt ein Geldpaket in der Hand: es waren lauter Hundertrubelscheine, im ganzen ungefähr zwei-, wenn nicht dreitausend Rubel. Seine Hände jedoch und das Gesicht waren mit Blut befleckt, und er sprach und blickte einen an, als hätte er den Verstand verloren. Auf meine Frage, woher er so viel Geld bekommen habe, antwortete er, daß er es kurz vorher von Ihnen erhalten habe, daß Sie ihm dreitausend Rubel vorgestreckt hätten, damit er nach Sibirien in die Goldgruben fahre ...“

Eine nervöse, krankhafte Erregung drückte sich im Gesichte Frau Chochlakoffs aus.

„Mein Gott! Er hat seinen alten Vater erschlagen!“ rief sie erschrocken, die Hände zusammenschlagend. „Ich habe ihm nichts gegeben, nichts, nichts! Oh, laufen Sie, eilen Sie! ... Sprechen Sie kein Wort mehr! Retten Sie den alten Herrn, laufen Sie zu seinem Vater, oh, laufen Sie! ...“

„Erlauben Sie, gnädige Frau, so haben Sie ihm also kein Geld gegeben? Wissen Sie genau, daß Sie ihm nichts gegeben haben?“

„Nichts, nichts habe ich ihm gegeben! Ich habe es ihm abgeschlagen, denn er versteht ja mit Geld gar nicht umzugehen. Er verließ mich wutschnaubend, und hier im Salon stampfte er sogar mit den Füßen. Er wollte sich auf mich stürzen, aber ich rettete mich noch rechtzeitig, indem ich dorthin in die Ecke lief ... Und ich werde Ihnen noch sagen, wie einem Menschen, dem ich nichts mehr verheimlichen will, daß er mich sogar beinahe angespien hat, können Sie sich so etwas vorstellen? Aber warum stehen wir denn? Ach, setzen Sie sich, bitte. Verzeihen Sie, ich ... Oder laufen Sie lieber, laufen Sie, Sie müssen eilen, um den unglücklichen alten Herrn vor diesem schrecklichen Tode zu bewahren!“

„Wenn er ihn aber schon erschlagen hat?“

„Ach, mein Gott, das ist ja wahr! Aber was sollen wir denn jetzt tun? Was meinen Sie, was wir tun müssen?“

Inzwischen hatten sie beide Platz genommen. Perchotin setzte ihr in kurzen Worten, doch ziemlich deutlich den ganzen Tatbestand auseinander, oder wenigstens das, was er miterlebt hatte, erzählte ihr auch noch von seinem Gespräch mit Fenjä, und daß Mitjä die Mörserkeule mitgenommen hatte. Alle diese Einzelheiten regten die nervöse Dame in einer Weise auf, wie es stärker nicht gut möglich gewesen wäre. Sie zitterte und hielt die Hände an die Schläfen ...

„Stellen Sie sich vor, ich habe das vorausgefühlt! Ich besitze diese Fähigkeit – alles, was ich mir vorstelle, geht in Erfüllung. Und wieviel, wievielmal habe ich diesen schrecklichen Menschen angesehen und jedesmal dabei gedacht: Dieser Mensch wird mich erschlagen. Und so ist es jetzt auch gekommen ... Das heißt, wenn er jetzt auch nicht mich erschlagen hat, sondern seinen Vater, so ist das doch bestimmt nur deswegen geschehen, weil Gottes sichtbarer Finger ihn von mir abgelenkt hat. Und außerdem wird er sich geschämt haben, das zu tun, denn ich habe ihm mit diesen Händen ein kleines Heiligenbild umgehängt, hier, auf dieser Stelle, ein kleines Medaillon mit Reliquien von der heiligen Warwara ... Mein Gott, wie nah ich dem Tode in diesem Augenblick war, ohne es zu ahnen! Ich trat ganz dicht an ihn heran, und er neigte den Kopf, damit ich es ihm bequemer um den Hals legen konnte! Wissen Sie, Pjotr Iljitsch ... verzeihen Sie, ich glaube, Sie sagten, daß Sie so hießen – wissen Sie, ich glaube nicht an Wunder, aber dieses Heiligenbild und diese auf der Hand liegende wunderbare Rettung – das erschüttert mich dermaßen, daß ich wieder an alles mögliche zu glauben anfange. Haben Sie vom Staretz Sossima gehört? ... Ach, ich weiß nicht, wovon ich wieder rede ... Aber stellen Sie sich vor, dann hat er mich trotz dieses Heiligenbildes am Halse beinahe angespien ... Natürlich ist das kein Totschlag, aber immerhin ... und jetzt ist er ins Dorf gefahren! Aber wohin sollen wir jetzt, was sollen wir tun, was meinen Sie?“

Perchotin erhob sich und erklärte, daß er geradeswegs zum Polizeichef gehen und ihm alles erzählen werde, der könne dann tun, was er für gut befinde.

„Ach, das ist ein prächtiger, ein ganz prächtiger Mensch, ich kenne Michail Makarowitsch persönlich. Ja, gehen Sie unbedingt zu ihm. Wie findig Sie sind, wie gut Sie sich das ausgedacht haben. Wissen Sie, ich wäre an Ihrer Stelle bestimmt nicht darauf verfallen!“

„Aber ich bitte Sie, es ist doch ganz natürlich ... Ich bin selbst ein guter Bekannter Michail Makarowitschs,“ bemerkte Perchotin, der immer noch stand, und nicht wußte, wie er sich von der liebenswürdigen Dame schneller verabschieden sollte.

„Und wissen Sie, wissen Sie,“ unterbrach sie ihn, „Sie müssen mich unbedingt benachrichtigen von allem, was Sie dort sehen und erfahren ... und was schließlich an den Tag kommt ... und wie man ihn verurteilt, und wohin man ihn verschickt ... Sagen Sie, bei uns gibt es doch keine Todesstrafe? Aber kommen Sie, unbedingt, um mich von dem Ergebnis Ihres Gesprächs zu benachrichtigen, wenn auch um drei Uhr nachts, wenn nicht anders, auch um vier, oder gar um halb fünf ... Befehlen Sie, mich aufzuwecken, unbedingt, was es auch koste ... O mein Gott, ich werde ja überhaupt nicht einschlafen können. Oder sollte ich nicht selbst mit Ihnen fahren? ...“

„N – nein, gnädige Frau, doch wenn Sie vielleicht so freundlich wären, ein paar Zeilen zu schreiben, auf alle Fälle, daß Sie Herrn Karamasoff kein Geld gegeben haben, so wäre das vielleicht nicht überflüssig ... ich meine, auf alle Fälle ...“

„Unbedingt!“ Frau Chochlakoff eilte zu ihrem Schreibtisch. „Sie erschüttern mich einfach durch Ihre Umsicht in solchen Dingen, vraiment! ... Sie sind ein hiesiger Beamter? Das freut mich, daß Sie hier angestellt sind ...“

Und noch während sie das sprach, schrieb sie mit ihrer großen Handschrift auf einen Bogen Postpapier diese Zeilen:

„Nie in meinem Leben habe ich dem unglücklichen Dmitrij Fedorowitsch Karamasoff (ich sage unglücklich, denn das ist er jetzt) dreitausend Rubel geliehen, weder heute, noch sonst wann, niemals! Das beschwöre ich bei allem, was es Heiliges auf unserer Welt gibt.

Katerina Chochlakowa.“

„Hier! Da haben Sie es!“ Und sie überreichte es Perchotin. „Aber jetzt gehen Sie, retten Sie. Das ist eine große Tat von Ihnen.“

Und sie machte dreimal das Zeichen des Kreuzes über ihm. Darauf begleitete sie ihn noch bis zum Vorzimmer.

„Ich bin Ihnen so dankbar! Sie werden es mir nicht glauben, wie dankbar ich Ihnen dafür bin, daß Sie ganz zuerst zu mir gekommen sind. Wie kommt es, daß wir uns früher noch nicht begegnet sind? Es wird mich sehr freuen, Sie auch fernerhin in meinem Hause zu empfangen. Wie angenehm es ist, daß Sie als Beamter gerade hier Ihre Anstellung haben ... und so geschickt sind Sie in solchen Dingen ... Seien Sie überzeugt, daß ich alles, was in meiner Macht steht, für Sie tun werde ... Eine so tüchtige Kraft muß man zu schätzen wissen, und man wird es auch, man wird es auch, seien Sie überzeugt! Oh, ich protegiere immer die Jugend, ich habe ein Faible für Jugend! Unsere Jugend ist doch das Fundament unseres ganzen, jetzt so schwer niedergedrückten Vaterlandes, sie ist doch die ganze Hoffnung unseres Rußland ... Oh, gehen Sie, gehen Sie ...“

Perchotin eilte bereits fort, sonst hätte sie ihn vielleicht noch nicht so bald entlassen. Übrigens hatte sie auf ihn einen ganz sympathischen Eindruck gemacht, sogar einen so sympathischen, daß dieser Eindruck teilweise selbst seinen Ärger über diese fremde Angelegenheit, in die er sich dummerweise hineingezogen sah, milderte. Der Geschmack der Menschen ist bekanntlich sehr verschieden. So dachte denn auch Perchotin, angenehm berührt, daß Frau Chochlakoff „keineswegs so bejahrt“ sein könne: „Im Gegenteil, ich hätte sie für ihre Tochter gehalten.“

Und was wiederum Frau Chochlakoff betrifft, so war sie geradezu bezaubert durch den jungen Mann. „Wieviel Verständnis für alles Ernste, wieviel Korrektheit, und das in einem so jungen Mann unserer Zeit, und noch dazu bei solchen Manieren und solchem Äußern! Da wird nun geredet von den heutigen jungen Leuten, sie verständen nichts! Da habt ihr ein Beispiel“ usw. So kam es, daß sie das „schreckliche“ Ereignis selbst ganz vergaß. Erst als sie zu Bett ging, fiel ihr wieder ein, wie nah sie dem Tode gewesen war! „Entsetzlich, entsetzlich, wenn man daran denkt!“ flüsterte sie. Das hinderte aber nicht, daß sie alsbald in festen süßen Schlaf sank. Ich hätte mich übrigens nie entschlossen, hier von so nebensächlichen Einzelheiten zu erzählen, wenn die soeben geschilderte Begegnung Perchotins mit der jugendlichen Witwe nicht das Sprungbrett zu der ganzen Laufbahn dieses umsichtigen und korrekten jungen Beamten geworden wäre. Noch jetzt erinnert man sich seiner kopfschüttelnd und bewunderungsvoll in unserem Städtchen, und auch ich werde vielleicht noch einiges über ihn zu sagen haben, bevor ich meine lange Erzählung von den Brüdern Karamasoff abschließe.

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