II. Der Alarm

Unser Kreispolizeichef Michail Makarowitsch Makaroff, ein verabschiedeter Oberstleutnant, war Witwer und ein guter Mensch. Er war vor kaum drei Jahren in unser Städtchen versetzt worden, doch hatte er bereits fertig gebracht, sich die allgemeine Sympathie zu erwerben, und zwar vor allen Dingen dadurch, daß er verstand, die Gesellschaft zu vereinigen. Er hatte immer Gäste im Hause, und es schien, daß er ohne sie überhaupt nicht leben konnte. Irgend jemand mußte unbedingt mit ihm speisen, wenn es auch nur ein einziger Gast war – ohne Gäste setzte man sich bei ihm nie zu Tisch. Er gab natürlich auch große Diners aus sehr verschiedenen, häufig etwas wunderlichen Anlässen. Wurden auch keine ausgesuchten Delikatessen geboten, so war doch die Tafel immer reich besetzt, und die Fischpasteten und alle Nationalpirogen großartig gebacken, und die Weine bestachen, wenn nicht durch die Qualität, so doch durch die Quantität. Das Billardzimmer war sogar sehr anständig ausgestattet, d. h. an den Wänden hingen in schwarzen Rahmen Bilder von englischen Rennpferden, was bekanntlich die obligatorische Billardzimmerdekoration in der Wohnung jedes unverheirateten Herrn ist. Jeden Abend wurde Karten gespielt, wenn auch nur an einem einzigen Tisch. Sehr oft jedoch versammelte sich bei ihm die ganze höhere Gesellschaft unserer Stadt mit Müttern und Töchtern zu Tanzabenden. Michail Makarowitsch war, wie gesagt, Witwer. Gleichwohl lebte er als „Familienvater“ in seinem Hause, da er seine verwitwete Tochter mit deren beiden Töchtern, also seinen Enkelinnen, zu sich genommen hatte. Diese Enkelinnen waren erwachsene junge Damen, die ihre Erziehung schon überstanden hatten. Sie waren beide von angenehmem Äußeren, waren beide heiter und unterhaltend, und so zogen sie – obwohl alle wußten, daß sie keine „Partien“ waren, da sie nichts mitbekommen sollten – doch unsere männliche Jugend der besseren Gesellschaft in das Haus ihres Großpapas.

Was nun Michail Makarowitschs Beruf anbetraf, so war es in der Beziehung nicht sonderlich gut mit seinen Kenntnissen bestellt, doch erfüllte er schließlich seine Pflicht nicht schlechter als viele andere. Wenn man aufrichtig sein soll, so war er als Mensch ziemlich ungebildet und als Beamter um die Erwerbung einer klaren Vorstellung von den Grenzen seiner administrativen Macht wenig besorgt. Gewisse Reformen der gegenwärtigen Regierung konnte er immer noch nicht recht begreifen, oder er begriff sie unter auffallenden Irrtümern. Doch geschah das weniger aus Unbegabtheit als infolge einer recht ausgeprägten Sorglosigkeit, und da er sich versicherte, nie die Zeit zu haben, hinter die Dinge zu kommen. „Ich bin, meine Herren, mit Leib und Seele Soldat, und daher ist mir alles Zivile etwas gegen den Strich,“ äußerte er über sein Beamtentum. Selbst von den Prinzipien der letzten großen Reform, der Aufhebung der Leibeigenschaft, hatte er sich noch immer keine feste und genaue Vorstellung zu machen vermocht; doch vergrößerte er von Jahr zu Jahr, und zwar unwillkürlich, und durch praktische Erfahrungen, sein diesbezügliches Wissen, da er nämlich selbst Gutsbesitzer war. Perchotin wußte, daß er bei ihm bestimmt wenigstens einen Gast antreffen werde – nur wußte er natürlich nicht, wen. Währenddessen saßen bei Michail Makarowitsch der Staatsanwalt und unser Kreisarzt Warwinskij, ein junger Mann, der erst vor kurzem aus Petersburg zu uns gekommen war, und der seine Studien an der Petersburger Universität glänzend beendet hatte. Der Staatsanwalt jedoch, oder vielmehr der Stellvertreter des Staatsanwalts, der aber bei uns allgemein nur der Staatsanwalt genannt wurde, Hippolyt Kirillowitsch, war ein bemerkenswerter Mann, noch nicht alt, etwa fünfunddreißig, neigte leider stark zur Schwindsucht, und war sehr mager, wofür dann seine kinderlose Gattin um so korpulenter war. Es hieß, daß er sehr eigensüchtig und ehrgeizig sei, doch war er, bei einem tüchtigen Verstande, in der Seele ein guter Mensch. Ich glaube, das ganze Unglück seines Charakters bestand darin, daß er von sich eine etwas höhere Meinung hatte, als seine Begabung erlaubte. Das war wohl auch der Grund, warum er immer irgendwie unruhig zu sein schien. Und dazu hatte er noch einige höhere und sogar künstlerische Ansprüche, zum Beispiel ein guter Psychologe zu sein, die menschliche Seele ganz besonders gut zu kennen und die Gabe zu besitzen, den Verbrecher und sein Verbrechen richtig zu erkennen und zu beurteilen. In bezug auf diese Fähigkeiten war er reizbar und leicht beleidigt, hielt sich sofort für im Dienst umgangen oder gar zurückgesetzt, und war immer überzeugt, daß man ihn in den „höheren Sphären“ nicht zu schätzen wisse, und daß er daselbst viele Feinde habe. In trüben Stunden versicherte er sogar, daß er zur Advokatur übertreten werde. Da kam plötzlich der Kriminalprozeß der Karamasoffs wegen des Vatermordes und rüttelte Hippolyt Kirillowitsch auf. „Das ist ein Prozeß, der in ganz Rußland bekannt werden wird,“ sagte er. Doch ich greife vor.

Im Nebenzimmer saß bei den jungen Damen auch unser junger Untersuchungsrichter Nikolai Parfenowitsch Neljudoff, der erst vor zwei Monaten aus Petersburg zu uns gekommen war. Später wunderte man sich nicht wenig darüber, daß alle diese Amtspersonen sich „gerade am Abend des Verbrechens im Hause der exekutiven Macht“ versammelt hatten. Indessen hatte sich das in ganz natürlicher Weise so getroffen: Die Frau Hippolyt Kirillowitschs, also des Staatsanwalts, litt schon den zweiten Tag an Zahnschmerzen, und so mußte der Herr Staatsanwalt doch irgendwohin vor ihrem Gestöhn flüchten. Der Kreisarzt jedoch konnte allein schon seinem Wesen nach den Abend nicht anders verbringen als am Kartentisch. Und Nikolai Parfenowitsch Neljudoff hatte es sich schon vor drei Tagen vorgenommen, an diesem Abend zu Michail Makarowitsch zu gehen, und zwar ganz zufällig, um hinterlistig die älteste Enkelin, Olga Michailowna, zu erschrecken, ihr nämlich plötzlich zu sagen, daß er um ihr „Geheimnis“ wisse: daß heute ihr Geburtstag sei, und daß sie dies absichtlich verheimlicht habe, um nicht wieder die ganze Gesellschaft zu einem Ball einladen zu müssen. Es war zu erwarten, daß man den Abend lustig verbringen werde, da Scherze über ihr Alter, über das „Geheimnis“, das er jetzt allen erzählen konnte, ihre vermutliche Angst deswegen usw. usw. genügend Stoff zum Lachen abgeben konnten. Der liebenswürdige junge Mann war in solchen Dingen ein großer Schlingel, wie ihn unsere Damen lachend nannten, und was ihm sehr zu gefallen schien. Übrigens war er gut erzogen, aus, guter Familie, hatte ein gutes Auftreten und gute Manieren, und wenn er auch ein Lebemann war, so blieb er doch ein innerlich unschuldiger und immer wohlerzogener, anständiger junger Mann. Was sein Äußeres anbelangt, so war er ziemlich klein von Wuchs und von schwächlichem, zartem Körperbau. An seinen schmalen und bleichen Fingern glänzten stets ein paar große teure Ringe. Wenn er seine Amtspflicht erfüllte, kam immer eine gewisse selbstbewußte Würde über ihn, als hielte er seine Bedeutung und seine Pflicht für etwas Heiliges. Besonders gut verstand er es, bei Verhören von Mördern und anderen Verbrechern aus dem Volke, dieselben durch seine Fragen zu verblüffen, und in ihnen, wenn auch nicht gerade Hochachtung für sich, so doch etwas wie bewunderndes Erstaunen zu erwecken.

Als Perchotin beim Kreispolizeichef eintrat, blieb er ganz verdutzt stehen: er sah sofort, daß man schon alles wissen mußte. Man hatte die Karten im Stich gelassen, alle standen und berieten sich, und auch Nikolai Parfenowitsch war von den Damen herbeigeeilt und sah ungemein kampfbereit und entschlossen aus. Perchotin wurde mit der überraschenden Mitteilung empfangen, daß der alte Fedor Pawlowitsch Karamasoff am selben Abend in seinem Hause erschlagen worden war, erschlagen und beraubt. Erfahren hatte man es vor ein paar Minuten auf folgende Weise:

Marfa Ignatjewna, die Frau des am Zaun von Mitjä verletzten Grigorij, schlief nach der eingenommenen Medizin ungewöhnlich fest in ihrem Bett und hätte wahrscheinlich bis zum Morgen so geschlafen – plötzlich aber wachte sie auf: der epileptische Schrei Ssmerdjäkoffs, der bewußtlos im Nebenzimmer gelegen hatte, war ihr durch Mark und Bein gefahren. Dieser Schrei, mit dem gewöhnlich die epileptischen Anfälle begannen, machte auf Marfa Ignatjewna stets einen so schrecklichen Eindruck, daß sie davon fast krank wurde. Sie hatte sich noch immer nicht an ihn gewöhnt, obgleich sie ihn doch oft genug gehört hatte. Halb besinnungslos sprang sie auf und stürzte in das Nebenzimmer zu Ssmerdjäkoff. Doch dort war es stockdunkel, und sie hörte nur, wie der Kranke unheimlich schnarchte und um sich schlug. Da schrie auch Marfa Ignatjewna auf, und rief ihren Mann, doch plötzlich fiel ihr ein, daß Grigorij, als sie aufgesprungen war, nicht neben ihr gelegen hatte. Sie lief zurück zum Bett und betastete es, doch das Bett war leer. „So ist er fortgegangen, – wohin?“ Sie lief hinaus auf die Treppe und rief einmal ängstlich seinen Namen. Sie erhielt natürlich keine Antwort, aber es schien ihr, als hörte sie durch die windstille Nacht irgendwoher, gleichsam fern aus dem Garten, Gestöhn zu sich dringen. Sie horchte auf: da kam es wieder durch die Nacht, und sie hörte deutlich, daß es aus dem Garten kam. „Heilige Marie, das ist ja ganz wie damals die Lisaweta im Badehäuschen!“ dachte sie erschrocken. Ängstlich stieg sie die Stufen hinab, und da erst gewahrte sie, daß das Gartenpförtchen offen war. „Sicher ist er dort, mein Lieber,“ dachte sie, und ging zum Pförtchen. Doch dort vernahm sie plötzlich ganz deutlich, daß Grigorij sie rief: „Marfa, Marfa!“ mit schwacher, angstvoller Stimme, die wie ein Gestöhn klang. „Großer Gott, beschütz uns vor Unheil,“ flüsterte sie zitternd und eilte dann hin, woher der Ruf kam, und fand ihren Grigorij. Nur fand sie ihn nicht am Zaun, wo er niedergefallen war, sondern ungefähr zwanzig Schritt vom Zaun entfernt. Später stellte sich heraus, daß er, zu sich gekommen, zu kriechen begonnen hatte, und so aus eigener Kraft, natürlich mit Unterbrechungen und unter erneuter Besinnungslosigkeit, sich so weit geschleppt hatte. Marfa Ignatjewna bemerkte sofort, daß sein Gesicht blutüberströmt war, und sie begann laut zu schreien. Grigorij konnte nur leise und zusammenhanglos stammeln: „Erschlagen ... hat den Vater erschlagen ... was schreist du, dummes Weib ... lauf, ruf ...“ Doch Marfa Ignatjewna schrie unentwegt, so laut sie konnte. Da bemerkte sie aber, daß beim Herrn das Fenster offen und das Zimmer hell erleuchtet war, und sie lief, Fedor Pawlowitsch laut zu Hilfe rufend, hin zum Fenster. Als sie aber rufend in das Zimmer sah, erblickte sie etwas Grauenvolles: der Herr lag lang ausgestreckt auf dem Fußboden, regungslos. Sein heller Schlafrock und das weiße Hemd auf der Brust waren von Blut überströmt. Das Licht auf dem Tisch beleuchtete grell die roten Blutlachen und das starre Totengesicht der Leiche Fedor Pawlowitschs. Im größten Entsetzen taumelte Marfa Ignatjewna vom Fenster zurück und stürzte, so schnell sie konnte, aus dem Garten, riß den Riegel der Pforte auf und lief in die Nebengasse zur Nachbarin, zu Marja Kondratjewna. Dort klopfte sie wie wahnsinnig an die Fensterläden, bis sie schließlich beide Frauen, die natürlich schon fest schliefen, aufweckte und diese erschrocken ans Fenster gelaufen kamen. Marfa Ignatjewna erzählte, so gut sie konnte, d. h. schreiend und heulend, das Hauptsächliche und rief sie zu Hilfe. Es traf sich, daß auch Foma gerade bei ihnen übernachtete. Er wurde im Augenblick aus dem Bett gezogen, und so liefen denn alle drei zurück an den Ort des Verbrechens. Unterwegs erinnerte sich Marja Kondratjewna, am Abend, ungefähr um neun Uhr, einen lauten, durchdringenden Schrei gehört zu haben, und wie es ihr geschienen hatte, war er aus dem Karamasoffschen Garten gekommen. Das war derselbe Schrei gewesen, den Grigorij am Zaun ausgestoßen hatte, bevor er von Dmitrij Fedorowitschs Schlage zu Boden gestürzt war – sein Schrei: „Vatermörder!“

„Ich hörte nur einen Schrei, es muß ein Mensch geschrien haben, und dann war wieder alles still,“ erzählte Marja Kondratjewna, während sie hinliefen. Im Garten hoben sie alle drei Grigorij auf und trugen ihn mit vereinten Kräften in die Leutewohnung. Sie machten sofort Licht, und da sahen sie, daß Ssmerdjäkoff noch immer um sich schlug: von den Augen im Krampf war nur das Weiße zu sehen, und Schaum stand ihm vor dem Munde. Grigorijs Kopf wurde mit Wasser und Essig gewaschen. Er kam alsbald zu sich, und seine erste Frage war: „Lebt der Herr noch, oder ist er tot?“ Da liefen denn die beiden Frauen und Foma zum Herrenhause, und erst jetzt bemerkten sie, daß nicht nur das Fenster, sondern auch die Tür, die aus dem Hause in den Garten führte, weit offen war, während der Herr sich doch schon seit einer Woche an jedem Abend fest und sorgfältig einzuschließen pflegte und sogar Grigorij strengstens verboten hatte, was auch geschehen sollte, an die Tür oder das Fenster zu klopfen. Als sie nun diese offene Tür sahen, wollte niemand zum Herrn hineingehen, „damit man nicht am Ende noch uns für die Mörder hält.“ Als sie darauf noch unentschlossen zu Grigorij zurückkehrten, befahl der sofort, unverzüglich zum Polizeichef zu laufen. So machte sich denn Marja Kondratjewna auf und lief zu Michail Makarowitsch, bei dem sie alle in nicht geringe Aufregung versetzte. Perchotin erschien vielleicht nur fünf Minuten später, so daß seine Aussagen nicht mehr vage Vermutungen waren, sondern durch das Beweismaterial, das er vorbrachte, nur noch den allgemeinen Verdacht, wer der Mörder sein konnte, verstärkten. Perchotin selbst hatte sich bis zum letzten Augenblick noch immer geweigert, daran zu glauben.

Man beschloß, energisch zu handeln. Der Gehilfe des Polizeimeisters wurde sofort beauftragt, vier Zeugen für die Haussuchung und zur Hilfeleistung aufzutreiben, und dann begab man sich zum Karamasoffschen Hause, wo man nach allen vorschriftsmäßigen Regeln, die ich hier nicht weiter erörtern will, den Tatbestand aufnahm. Der Kreisarzt, der als junger Praktikant noch für Ausnahmefälle interessiert war, hatte natürlich sofort gebeten, die Herren begleiten zu dürfen. Ich will hier nur noch kurz bemerken, daß sie Fedor Pawlowitsch tot vorfanden, mit eingeschlagenem Schädel. Womit aber war der Schädel eingeschlagen worden? Am wahrscheinlichsten wohl mit derselben Waffe, mit der der Mörder später auch Grigorij zu Boden gestreckt hatte. Man verhörte Grigorij, dem inzwischen die nötige ärztliche Hilfe zuteil geworden war, und erfuhr von ihm, in ziemlich zusammenhängender Rede, obwohl er nur leise und mit Unterbrechungen sprechen konnte, was er gesehen hatte. Daran begab man sich mit einer Laterne zum Zaun, begann dort zu suchen und fand sogleich die Mörserkeule, die auf dem Gartenwege, auf der sichtbarsten Stelle lag. Im Zimmer Fedor Pawlowitschs war keinerlei verdächtige Unordnung zu bemerken, doch hinter dem „chinesischen“ Schirm fand man vor dem Bett ein großes Kuvert von dickem Papier in Kanzleiformat, mit der Aufschrift: „Ein kleines Geschenk für meinen Engel Gruschenka, wenn sie zu mir kommen will,“ und darunter war gleichfalls von Fedor Pawlowitsch, wahrscheinlich etwas später, noch hinzugefügt, „und Küchelchen“. Auf der anderen Seite des Kuverts waren drei große Siegel von rotem Siegellack, doch das Kuvert war bereits aufgerissen und leer: das Geld war herausgenommen. Auch fand man dort noch auf dem Fußboden ein rosarotes Bändchen, mit dem das Kuvert kreuzweis umbunden gewesen war. Von den Aussagen Perchotins machte auf den Staatsanwalt und den Untersuchungsrichter besonders die eine Mitteilung großen Eindruck: daß Dmitrij Fedorowitsch sich bestimmt am Morgen erschießen werde, daß er es beschlossen, in seiner Gegenwart die Pistole geladen, den Zettel geschrieben und in die Tasche gesteckt habe usw., und daß Mitjä auf Perchotins Drohung, es jemandem anzuzeigen, lächelnd geantwortet hatte: „Kommst zu spät, mein Lieber.“ Daraus ging hervor, daß man sich so schnell als möglich nach Mokroje aufmachen mußte, um den Verbrecher, noch bevor er seine Absicht verwirklichen konnte, zu verhaften. „Das ist doch klar, das liegt doch auf der Hand!“ wiederholte der Staatsanwalt, der die ganze Zeit über sehr lebhaft war. „Das ist so echt ihre Art, ich meine, die Art der Verbrecher seines Schlages: morgen erschieße ich mich, vorher aber geh ich noch einmal durch.“ Die Schilderung, wie Mitjä bei Plotnikoff Wein und Eßwaren bestellt und mitgenommen hatte, brachte den Staatsanwalt nur noch mehr auf. „Erinnern Sie sich noch, meine Herren, jenes jungen Burschen, der den Kaufmann Oljssufjeff erschlagen hatte und für die geraubten tausendfünfhundert Rubel sich frisieren ließ und sich gleichfalls, ohne das Geld ordentlich zu verstecken, unverzüglich zu den Frauenzimmern begab.“ Einstweilen aber ging es nicht an, sich sofort nach Mokroje aufzumachen, da die Voruntersuchung im Hause Fedor Pawlowitschs, die Verhöre und Formalitäten noch nicht beendet waren. Das nahm noch viel Zeit in Anspruch, und so schickte man vorläufig Mawrikij Mawrikjewitsch Schmerzoff, der am Tage vorher in die Stadt gekommen war, um sein Monatsgehalt in Empfang zu nehmen, nach Mokroje voraus. Er wurde beauftragt, wenn er dort angekommen sei, den „Mörder“ ganz unauffällig, „damit er nicht den geringsten Verdacht schöpfe“, zu bewachen, bis die anderen nachgekommen wären, und inzwischen auch den Dorfschulzen, den Bauernamtmann und Zeugen aufzutreiben. Das tat denn auch Mawrikij Mawrikjewitsch. Er blieb inkognito und weihte nur Trifon Borissytsch, bei dem er schon oft abgestiegen war, und der ihn gut kannte, zum Teil in sein Geheimnis ein. Das war kurz vorher geschehen, als Mitjä dem Wirt in der Dunkelheit auf der kleinen Galerie begegnet war und in dessen Reden wie im ganzen Verhalten zu ihm eine Veränderung wahrgenommen hatte. So wußte weder Mitjä noch sonst jemand von den Gästen, daß er bewacht wurde. Der Pistolenkasten war von Trifon Borissytsch bereits an einem verschwiegenen Orte wohlweislich versteckt worden. Erst um fünf Uhr morgens, also noch vor Tagesanbruch, kam die Obrigkeit, der Kreispolizeichef, der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter in zwei Wagen, jeder mit einer Troika bespannt, in Mokroje an. Der Doktor war in der Stadt zurückgeblieben, da er am Morgen die Obduktion der Leiche des Erschlagenen vornehmen wollte und ihn außerdem der Zustand des kranken Dieners Ssmerdjäkoff außerordentlich interessierte.

„So heftigen und so lange andauernden Anfällen der Epilepsie, die sich im Verlaufe von ganzen achtundvierzig Stunden ununterbrochen wiederholen, begegnet man nur äußerst selten, das ist ein Fall, der der Wissenschaft gehört,“ hatte er, ganz Interesse, seinen abfahrenden Partnern gesagt, und die hatten ihn lachend beglückwünscht. Bei der Gelegenheit hatten sich auch noch der Staatsanwalt sowie der Untersuchungsrichter gemerkt, daß der Doktor in überzeugtem Tone noch hinzugefügt hatte, Ssmerdjäkoff werde den Morgen nicht mehr erleben.

Nach dieser langen, doch unvermeidlichen Erklärung kehre ich wieder zu dem Zeitpunkt meiner Erzählung zurück, wo ich sie im vorhergehenden Buche unterbrochen habe.

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