Als das Protokoll unterzeichnet war, wandte sich Nikolai Parfenowitsch mit feierlicher Miene an den Angeklagten und verlas die „Verfügung“, – daß in dem und dem Jahre, an dem und dem Tage, an dem und dem Ort der Untersuchungsrichter des und des Kreisgerichtshofs nach dem Verhör des und des (d. h. Mitjäs), der angeklagt war, das und das verübt zu haben (alle Anklagen waren peinlich genau aufgezählt), und in Anbetracht dessen, daß der Angeklagte, der sich der Verbrechen, die ihm zur Last gelegt werden, nicht für schuldig bekenne, anderseits nichts zu seiner Rechtfertigung vorzubringen habe, während die Zeugen (die und die) und die Umstände (die und die) ihn vollständig überführen, er, der Untersuchungsrichter usw. auf Grund der und der Paragraphen des Strafgesetzbuches usw. verfüge: um dem und dem (Mitjä) die Möglichkeit zu nehmen, sich der Untersuchung und dem Gericht zu entziehen, ihn in das und das Gefängnis einzuschließen, wovon dem Angeklagten Mitteilung zu machen, die Kopie dieser Verfügung dem Vertreter des Staatsanwalts einzuhändigen sei usw. usw. Kurz, es wurde Mitjä mitgeteilt, daß er von diesem Augenblicke an ein Gefangener war, und daß man ihn unverzüglich in die Stadt führen werde, um ihn dort im Gefängnis unterzubringen. Mitjä der alles aufmerksam angehört hatte, zuckte nur mit den Schultern.
„Nun was, meine Herren, ich kann Ihnen keinen Vorwurf machen, ich bin bereit ... Ich sehe es ja ein, daß Ihnen weiter nichts zu tun übrig bleibt.“
Nikolai Parfenowitsch erklärte ihm darauf in möglichst sanfter Weise, daß ihn Mawrikij Mawrikjewitsch, der Polizeioffizier unseres Städtchens, der kurz vorher in Mokroje angekommen war, sofort in die Stadt bringen werde ...
„Einen Augenblick,“ unterbrach ihn plötzlich Mitjä und sich an alle Anwesenden wendend, sagte er mit überströmendem Gefühl: „Meine Herren, alle sind wir grausam, alle sind wir Unmenschen, alle Menschen machen wir weinen, alle Menschen, Mütter und Kinder, doch von allen – mag das jetzt so entschieden sein – von allen bin ich der allerniedrigste Unmensch. Mag das jetzt einmal gesagt sein! An jedem Tage meines Lebens habe ich mich vor die Brust geschlagen und mir vorgenommen, mich zu bessern, und doch habe ich jeden Tag wieder dieselben Scheußlichkeiten begangen. Jetzt begreife ich, daß für solche Menschen, wie mich, ein Schlag nötig ist, ein Schicksalsschlag, damit sie wie mit einer Wurfschlinge gefangen und von einer äußeren Kraft bezwungen werden. Niemals, niemals hätte ich mich aus eigener Kraft erhoben! Nun aber hat der Donner gegrollt und der Blitz hat mich getroffen. Ich nehme die Qual der Anklage und meiner öffentlichen Schmach auf mich, ich will leiden, und ich will mich durch das Leid läutern! Und das wird mir jetzt vielleicht auch gelingen – was meinen Sie, meine Herren, wird es mir gelingen? Doch nun hören Sie es noch einmal, ich sage es Ihnen zum letzten Male: Am Blut meines Vaters bin ich unschuldig! Ich nehme die Strafe nicht deshalb auf mich, weil ich ihn etwa erschlagen habe, sondern dafür, daß ich ihn hab erschlagen wollen und vielleicht auch tatsächlich erschlagen hätte ... Doch immerhin, ich will mit Ihnen kämpfen, um mein Leben kämpfen, und das kündige ich Ihnen jetzt im voraus an. Ich werde mit Ihnen bis zum letzten Blutstropfen kämpfen, und dann wird Gott entscheiden! Leben Sie wohl, meine Herren, und tragen Sie es mir nicht nach, daß ich Sie während des Verhörs angeschrien habe, oh, es war mir ja noch alles so unklar ... Nach einer Minute bin ich Arrestant, doch jetzt streckt Ihnen Dmitrij Karamasoff zum letztenmal noch als freier Mensch seine Hand entgegen, zum letzten Abschiedshändedruck. Ich will mich von Ihnen verabschieden, von den Menschen will ich Abschied nehmen ...“
Seine Stimme wurde unsicher, und er streckte in der Tat seine Hand aus, doch Nikolai Parfenowitsch Neljudoff, der von allen am nächsten bei ihm stand, zog plötzlich, als ob er zusammengezuckt wäre, seine Hände zurück und kreuzte sie auf dem Rücken. Mitjä hatte es sofort bemerkt, und fuhr zusammen. Seine hingehaltene Hand ließ er im Augenblick herabsinken.
„Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen,“ stotterte Neljudoff etwas verwirrt, „wir werden sie in der Stadt fortsetzen, und ich bin natürlich meinerseits gern bereit, Ihnen jeden Erfolg zu wünschen ... zu Ihrer Rechtfertigung ... Und was Sie als Persönlichkeit betrifft, Dmitrij Fedorowitsch, so bin ich immer geneigt gewesen, Sie für einen sozusagen mehr unglücklichen als schuldigen Menschen zu halten ... Wir sind hier alle bereit, wenn ich wagen darf, im Namen aller zu reden, wir alle sind bereit, Sie für einen im Grunde edlen Menschen zu halten, der sich nur leider von einigen Leidenschaften in etwas gar zu starker Weise beherrschen läßt ...“
Die zarte kleine Gestalt Nikolai Parfenowitschs drückte zum Schluß der Rede die ganze Höhe seiner Würde als Untersuchungsrichter aus. Mitjä zuckte plötzlich der Gedanke durch den Kopf, daß dieser „dumme Junge“ ihn gleich unter den Arm fassen werde, um ihn scherzend in eine Ecke zu führen und dort ihr Gespräch über die „Mädels“, das sie vor ein paar Tagen gehabt hatten, wieder aufzunehmen. Doch – fliegen denn nicht selbst einem Verbrecher, der zum Tode geführt wird, nicht zur Sache gehörende und vielleicht gar alberne Gedanken durch den Kopf?
„Meine Herren, ich weiß, Sie sind gut, – kann ich sie noch einmal sehen, mich zum letztenmal von ihr verabschieden?“ fragte Mitjä.
„Oh, natürlich ... nur ... in Anbetracht ... mit einem Wort: Es geht nicht, daß ... unter vier Augen geht es nicht, aber in Gegenwart ...“
„Schön, meinetwegen in Ihrer Gegenwart!“
Gruschenka wurde hinaufgebeten, doch es kam nur zu einer ganz kurzen, wortkargen Abschiedsszene, die Nikolai Parfenowitsch eigentlich wenig befriedigte. Gruschenka verneigte sich tief vor Mitjä.
„Ich habe dir gesagt, daß ich dein bin und ewig dein bleiben werde. Mit dir gehe ich bis in die Ewigkeit, wohin man dich auch verschicken sollte. Leb wohl, du, der du dich unschuldig zugrunde gerichtet hast!“
Ihre Lippen bebten, Tränen blitzten an ihren Wimpern und rollten plötzlich herab.
„Gruscha, vergib mir meine Liebe, vergib mir, daß ich durch meine Liebe auch dich ins Unglück stürze.“
Mitjä wollte noch etwas sagen, doch jäh brach er ab und ging hinaus. Er wurde im Augenblick von Männern umringt, die ihn nicht aus den Augen ließen. Unten vor der Treppe, wo er noch gestern mit Andreis Troika dröhnend vorgefahren war, standen zwei Wagen bereit. Mawrikij Mawrikjewitsch, ein stämmiger, kleiner Mann mit einem aufgedunsenen Gesicht, schien durch etwas sehr gereizt zu sein, wahrscheinlich durch irgendeinen Zwischenfall oder eine unvorhergesehene Unordnung; jedenfalls schrie er wütend, und man sah ihm an, daß er sich ärgerte. So forderte er denn auch Mitjä etwas gar zu barsch auf, in den Wagen einzusteigen. „Früher, als ich ihm im Gasthause ‚zur Hauptstadt‘ Wein und alles mögliche vorsetzte, hatte der Mensch ein ganz anderes Gesicht,“ dachte Mitjä, als er einstieg. Auch Trifon Borissytsch stieg die Treppe hinab. An der Hofpforte drängten sich Leute: Bauern, Weiber, Fuhrknechte, Kutscher, und alle starrten sie Mitjä an.
„Lebt wohl, Ihr Gottesmenschen!“ rief ihnen Mitjä vom Wagen zu.
„Vergib auch du uns, Väterchen,“ hörte man zwei, drei Stimmen den Gruß erwidern.
„Nun, auch du leb wohl, Trifon Borissytsch!“
Doch Trifon Borissytsch wandte sich nicht einmal nach ihm um, vielleicht weil er gar zu beschäftigt war. Er schrie gleichfalls und gab verschiedene Befehle, denn der zweite Wagen, in dem zwei Gerichtsdiener Mawrikij Mawrikjewitsch und Mitjä begleiten sollten, war noch nicht ganz zur Abfahrt bereit. Der Fuhrknecht, der sie fahren sollte, zog vorläufig noch langsam seinen Kittel an und redete wortreich darüber, daß nicht er, sondern Akim an der Reihe sei, zu fahren. Akim aber war nicht zur Stelle; da lief man denn, um den Akim zu suchen; der Bauer bestand aber auf dem Seinen und bat, daß man warten solle.
„Ach, Mawrikij Mawrikjewitsch, dieses Bauernpack ist doch bei uns ganz ohne jedes Schamgefühl!“ rief Trifon Borissytsch kummervoll. Und zu dem Fuhrknecht: „Dir hat Akim noch vorgestern einen Fünfundzwanziger gegeben, und du hast ihn versoffen, jetzt aber reißt du wieder das Maul bis an die Ohren. Ich wundere mich nur tagaus, tagein über Ihre Güte, Mawrikij Mawrikjewitsch, hat doch dieses Lumpenpack so was nicht mal von weitem verdient. Ich weiß, was ich sage!“
„Aber wozu brauchen wir denn noch eine zweite Troika?“ mischte sich da Mitjä in die Angelegenheit ein. „Fahren wir nur ruhig in einer, Mawrikij Mawrikjewitsch, ich werde ja nicht rebellieren, nicht von dir fortlaufen, wozu also die Bedeckung?“
„Bitte, gefälligst zu begreifen, mein Herr, daß Sie nicht so zu mir zu reden haben, falls Sie es noch nicht wissen sollten. Ich verbitte mir Ihr Du und desgleichen Ihre Ratschläge, die Sie für bessere Gelegenheiten aufsparen können ...“ schrie plötzlich, wild aus sich herausfahrend, Mawrikij Mawrikjewitsch Mitjä an, – als hätte er sich über die Gelegenheit gefreut, seine Galle an ihm auslassen zu können.
Mitjä schwieg. Das Blut war ihm heiß ins Gesicht gestiegen. Nach einem Augenblick fror ihn plötzlich sehr. Der Regen hatte aufgehört, doch der trübe Himmel war ganz von Wolken bedeckt, und ein scharfer Wind blies ihm gerade ins Gesicht. „Sollte das etwa ein Fieberschauer sein?“ dachte Mitjä, der sich in den Schultern schüttelte. Endlich stieg auch Mawrikij Mawrikjewitsch ein, setzte sich gewichtig und breit hin, wobei er – als bemerke er es überhaupt nicht – Mitjä gehörig an die andere Seitenlehne preßte. Freilich war er nicht bei guter Laune, und der ihm zuteil gewordene Auftrag behagte ihm sehr wenig.
„Leb wohl, Trifon Borissytsch!“ rief Mitjä nochmals zurück, und er fühlte selbst, daß er es nicht aus Gutmütigkeit, sondern aus Bosheit, gegen seinen Willen gerufen hatte.
Doch Trifon Borissytsch stand stolz auf seiner Treppe, hielt die Hände auf dem Rücken und sah Mitjä ohne mit der Wimper zu zucken an; er blickte streng und geärgert und antwortete auf Mitjäs Gruß kein Wort.
„Leben Sie wohl, Dmitrij Fedorowitsch, leben Sie wohl!“ ertönte plötzlich die Stimme Kalganoffs, der ganz unerwartet von irgendwoher aufgetaucht war.
Er eilte zum Wagen und streckte Mitjä die Hand entgegen. Er war ohne Mütze herausgelaufen. Mitjä gelang es noch, seine Hand zu erfassen und einmal zu drücken.
„Leb wohl, du lieber Mensch, werde dich und deine Großmut nie vergessen!“ rief er ihm heiß zu.
Da zogen aber die Pferde an, und ihre Hände wurden auseinander gerissen. Die Glocken tönten ... – so wurde Mitjä fortgeführt.
Kalganoff aber lief in den Flur, setzte sich dort in eine dunkle Ecke, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte bitterlich. Lange saß er so und weinte, – er weinte, als wäre er noch ein kleiner Knabe und nicht ein zwanzigjähriger junger Mann. Oh, er war fast ganz von Mitjäs Schuld überzeugt! „Was sind denn das für Menschen, wie können denn, danach zu urteilen, die Menschen überhaupt sein!“ rief er innerlich in bitterer Schwermut, wenn nicht gar Verzweiflung. Er verlor allen Lebensmut: „Ich will überhaupt nicht mehr leben,“ sagte er grollend, und „ist denn das Leben das wert, ist es das wert?“ rief der betrübte Jüngling immer wieder aus.