VIII. Die Aussagen der Zeugen. „Das Kindichen“

Es begann nun das Verhör der Zeugen. Ich werde jedoch meine Erzählung nicht mehr mit derselben Ausführlichkeit fortsetzen, wie ich bisher getan habe. So werde ich denn auch übergehen, wie Neljudoff, der Untersuchungsrichter, einem jeden vortretenden Zeugen zuerst einschärfte, daß er nach Wahrheit und Gewissen auszusagen habe und späterhin seine Aussage unter dem Eide werde bekräftigen müssen. Wie man schließlich von jedem Zeugen verlangte, daß er das Protokoll seiner Aussagen unterschrieb usw., usw. Ich will hier nur noch bemerken, daß der Hauptpunkt, auf den die ganze Aufmerksamkeit der Zeugen gelenkt wurde, immer diese Frage nach der Höhe der Geldsumme war: waren es zuerst dreitausend oder anderthalbtausend Rubel gewesen, die Dmitrij Fedorowitsch hier in Mokroje vor einem Monat ausgegeben hatte, und ob es abermals drei oder nur anderthalb Tausend gewesen waren, mit denen er jetzt gekommen war. Es zeigte sich leider, daß alle Aussagen gegen Mitjä waren, alle ohne Ausnahme, ja einige von den Zeugen brachten noch neue Tatsachen vor, die Mitjäs Aussage fast verblüffend widerlegten. Als erster wurde Trifon Borissytsch verhört. Er trat ohne die geringste Scheu an den Tisch, mit einer Miene, die strengen und ernsten Unwillen gegen den Angeklagten ausdrückte, was ihm zweifellos den Anschein eines wahrheitsliebenden, sich selbst achtenden Mannes verlieh. Er sprach wenig, zurückhaltend, wartete die Fragen ab, antwortete genau und wohlbedacht. In der bestimmtesten Weise und ohne zu zweifeln sagte er aus, daß Mitjä vor einem Monat unmöglich weniger als dreitausend Rubel verausgabt haben könne, „was hier gleichfalls alle Bauern bezeugen können“, da sie es außerdem noch mit eigenen Ohren von „Mitrij Fedorowitsch“ mehrmals gehört hätten. „Wieviel Geld hat er nicht den Zigeunern hingeworfen,“ sagte Trifon Borissytsch unwillig. „Die haben ja allein an die tausend gefressen, da sei einer unbesorgt!“

„Ich habe ihnen vielleicht nicht einmal fünfhundert gegeben,“ bemerkte Mitjä finster, „nur habe ich es damals nicht gezählt, da ich betrunken war, schade darum ...“

Mitjä saß, seitdem man die Zeugen verhörte, an der einen Seite des Tisches, mit dem Rücken zum Vorhang. Er hörte finster zu und sah traurig und müde aus, als wollte er sagen: „Ach, sagt aus, was ihr wollt, mir ist jetzt alles gleich!“

„Mehr als tausend haben diese Kanaillen geschluckt, Mitrij Fedorowitsch,“ behauptete Trifon Borissytsch überzeugt. „Ihr warft doch blindlings, und das Lumpenpack hatte man bloß aufzupflücken. Das ist doch kein Menschenvolk, das sind doch nur Spitzbuben und Pferdediebe; jetzt sind sie von hier fortgejagt, sonst würden sie vielleicht selber aussagen, wieviel sie von Euch bekommen haben. Und ich habe doch selber dazumal das Geld in Euren Händen gesehen, – gezählt hab ich es ja nicht, das stimmt, Ihr habt es mir ja nicht zu zählen gegeben, – aber so nach dem Augenmaß kann ich wohl sagen, daß es ein dicker Batzen war, viel mehr als tausendfünfhundert ... was, tausendfünfhundert! Auch wir haben Geld gesehen und wissen, was Geld ist, können daher auch beurteilen ...“

In bezug auf die gestrige Summe sagte Trifon Borissytsch sofort aus, daß Dmitrij Fedorowitsch „ihm selber“, gleich nachdem er aus dem Wagen gestiegen war, gesagt habe, daß er Dreitausend mitgebracht.

„Wirklich, Trifon Borissytsch?“ sagte Mitjä, „habe ich wirklich so rund herausgesagt, daß ich Dreitausend mitgebracht hätte?“

„Jawohl habt Ihr das gesagt, Mitrij Fedorowitsch. In Andreis Gegenwart habt Ihr es sogar gesagt. Andrei ist auch jetzt noch hier, ist noch nicht fortgefahren, laßt ihn doch reinrufen. Und dort in der großen Stube rieft Ihr, als Ihr dem Chor soviel gabt, daß Ihr jetzt auch noch das sechste Tausend hierlassen wolltet, – mit den übrigen, das heißt zusammengerechnet, muß das wohl so zu verstehen sein. Stepan und Ssemjon haben’s mit eigenen Ohren gehört und auch Herr Pjotr Fomitsch Kalganoff, der dazumal akkurat neben Euch stand, wird es vielleicht behalten haben ...“

Die Aussage von dem sechsten Tausend machte einen ganz besonderen Eindruck auf die Juristen. Die neue Redaktion gefiel: drei und drei macht zusammen sechs, das bedeutet also, daß es damals dreitausend waren und auch jetzt dreitausend, da wären denn die ganzen sechstausend, – das ist doch klar.

Man befragte unverzüglich alle, die Trifon Borissytsch als Ohrenzeugen angegeben hatte, den Stepan und den Ssemjon und Andrei, und dann auch Pjotr Fomitsch Kalganoff. Die beiden Bauern und der Kutscher Andrei bestätigten die Aussage Trifon Borissytschs, ohne zu schwanken. Außerdem wurde noch nach den Äußerungen Andreis sorgfältig alles niedergeschrieben, was der von seinem Gespräch mit Mitjä zu erzählen wußte: „Wohin also werde ich, Dmitrij Fedorowitsch, kommen; in den Himmel oder in die Hölle, und wird man mir dort in jener Welt verzeihen oder nicht?“ Der „Psychologe“ Hippolyt Kirillowitsch hörte das mit einem feinen Lächeln an und empfahl zum Schluß auch diese Aussage – darüber, wohin Dmitrij Fedorowitsch kommen werde – zu dem Tatsachenmaterial hinzuzufügen.

Kalganoff, den man hatte rufen lassen, trat mit einem mürrischen und eigensinnigen Ausdruck ein und sprach mit dem Staatsanwalt und dem Untersuchungsrichter in einer Weise, als sähe er sie zum erstenmal im Leben, während er doch mit ihnen täglich bei Bekannten zusammengetroffen war. Er begann damit, daß er „nichts davon wisse und auch nichts wissen wolle“. Doch das von dem sechsten Tausend hatte auch er gehört, und er bestätigte, daß er in dem Augenblick neben Mitjä gestanden. Auf die Frage, wieviel Geld Mitjä in der Hand gehabt hätte, sagte er mürrisch: „Ich weiß nicht wieviel.“ Daß die Polen beim Kartenspiel betrogen hatten, bestätigte er gleichfalls. Auch erklärte er auf die wiederholten Fragen, daß nach der Einsperrung der beiden Polen Mitjä in der Gunst Agrafena Alexandrownas gestiegen sei, und daß sie gesagt habe, sie liebe ihn. Über Agrafena Alexandrowna äußerte er sich nur zurückhaltend und sehr achtungsvoll, als wäre sie eine Dame der besten Gesellschaft; er erlaubte sich kein einziges Mal, sie einfach „Gruschenka“ zu nennen. Trotz des unverhohlenen Widerwillens, mit dem Kalganoff antwortete, befragte ihn der Staatsanwalt unbarmherzig lange, und so erfuhr er denn erst durch ihn die Details dessen, was sozusagen den „Roman“ Mitjäs in dieser Nacht ausmachte. Mitjä unterbrach Kalganoff kein einziges Mal. Endlich wurde der arme Jüngling entlassen, und er entfernte sich sofort mit unverhohlener Wut.

Darauf wurden die Polen befragt. Sie waren in ihrem Zimmer zu Bett gegangen, doch hatte ihre Ruhe nicht lange gedauert, und geschlafen hatten sie eigentlich überhaupt nicht. Als die Autoritäten angekommen waren, hatten sie sich schnell wieder angekleidet und sorgfältig Toilette gemacht, da sie sich sagten, daß man sie gleichfalls bestimmt vernehmen werde. Sie traten würdevoll ein, doch sah man ihnen nur zu deutlich an, daß ihr Herz nicht auf der Höhe war. Der „Kommandierende“, d. h. der kleine Pan, war, wie sich herausstellte, ein verabschiedeter Beamter der zwölften Rangklasse, der in Sibirien als Viehdoktor gedient hatte und Mussjälowitsch hieß. Pan Wrublewskij jedoch stellte sich vor als „freipraktizierender Dentist“, was wir sonst gewöhnlich „Zahnarzt“ nennen. Beide wandten sich mit ihren Antworten immer an Michail Makarowitsch, obgleich der sie nichts fragte und weiterhin am Fenster stand, den sie aber wegen seiner Uniform als Polizeichef für die Hauptperson hielten und nach jedem Wort „Pane Obrist“ nannten. Erst nach mehreren Fragen und den wiederholten Hinweisen Michail Makarowitschs errieten sie endlich, daß sie sich mit ihren Antworten nur an Neljudoff, den Untersuchungsrichter zu wenden hatten. Bei der Gelegenheit zeigte sich, daß sie sogar sehr richtig Russisch sprechen konnten, abgesehen von der Aussprache einzelner Worte. Pan Mussjälowitsch begann auch von seinen Beziehungen zu Gruschenka, den früheren wie den gegenwärtigen, stolz und glühend zu erzählen, so daß Mitjä sofort außer sich geriet und schrie, so einem „Schuft“ erlaube er nicht, in seiner Gegenwart so zu sprechen! Worauf Pan Mussjälowitsch die Herrn Richter sofort auf das Wort „Schuft“ aufmerksam machte und sie bat, diese Beleidigung ins Protokoll aufzunehmen. Mitjä brauste auf vor Wut.

„Ja, ein Schuft, ein Schuft ist er! Schreiben Sie es nur auf und schreiben Sie noch hinzu, daß ich trotzdem sage, daß er ein Schuft ist!“ schrie er zornig.

Neljudoff ließ es wohl ins Protokoll eintragen, bewies aber bei diesem unangenehmen Zwischenfall die lobenswerteste Sachlichkeit und ein gutes Verständnis für die Leitung des Verhörs: nach einer strengen, kurzen Ermahnung Mitjäs brach er selbst sofort alle weiteren Fragen, die mehr die romanhafte Seite der Sache betrafen, ab und ging zum „Wesentlichen“ über. „Wesentlich“ war besonders eine Aussage der Pane, die bei den Juristen ein ungewöhnliches Interesse erweckte: die Mitteilung nämlich, daß Mitjä dem Pan Mussjälowitsch in jenem kleinen Zimmer dreitausend Rubel Abstandsgeld angeboten hatte mit dem Vorschlag: „siebenhundert sofort bar und die anderen zweitausenddreihundert morgen früh in der Stadt“, wobei er sein Ehrenwort gegeben hatte, daß das Geld morgen zur Stelle sein werde, da er es im Augenblick nicht bei sich hätte, das Geld aber in der Stadt liege. Mitjä bemerkte zuerst in der Hitze, daß er es nicht so gesagt habe: er werde ihnen das Geld morgen bestimmt in der Stadt geben. Doch auch Pan Wrublewskij bestätigte die Aussage des kleinen Pans. Da gestand Mitjä denn nach kurzem Nachdenken mürrisch ein, daß es wahrscheinlich so gewesen sein werde, wie die Polen sagten, daß er in jenem Augenblick erregt gewesen sei und vielleicht auch so gesagt habe. Der Staatsanwalt klammerte sich gleichsam an diese Aussage: jetzt war es für ihn klar (und so legte man es in der Folge auch aus), daß die Hälfte oder ein Teil der Dreitausend, die Mitjä so plötzlich in die Hände bekommen hatte, von ihm irgendwo in der Stadt versteckt sein mußte, vielleicht auch hier in Mokroje, wodurch jener allerdings bedenkliche Punkt seine Erklärung fand, daß man bei ihm nur achthundert Rubel vorgefunden hatte, – ein Umstand, der bis jetzt, wenn auch nur ein einziger und ziemlich belangloser, aber immerhin doch ein gewisser Beweis zu Mitjäs Gunsten gewesen war. Und nun stürzte auch dieser einzige Beweis zu seinen Gunsten ein. Auf die Frage des Staatsanwalts: wo er denn diese zweitausenddreihundert Rubel hergenommen hätte, um sie dem Pan zu geben, wenn er doch selbst behauptete, daß er im ganzen nur noch tausendfünfhundert besessen habe, und auf was hin er das sogar mit seinem Ehrenwort habe bekräftigen können, antwortete Mitjä ruhig und fest, daß er dem „Polacken“ morgen nicht Geld, sondern die formelle Übertragung seiner Rechte auf das Gut Tschermaschnjä habe anbieten wollen, wie er sie auch dem Kaufmann Ssamssonoff und Frau Chochlakoff angeboten hätte. Der Staatsanwalt freilich lächelte über diese „Naivität der Ausflucht“.

„Und Sie glauben, er wäre darauf eingegangen, diese ‚Rechte‘ an Stelle der baren zweitausenddreihundert Rubel anzunehmen?“

„Selbstverständlich wäre er darauf eingegangen,“ sagte Mitjä auffahrend. „Ich bitte Sie, hierbei sind doch nicht nur zwei, sondern vier, sechs, sogar zehntausend herauszuschlagen! Er hätte sofort seine kleinen Winkeladvokaten beauftragt, Polacken und Juden, und hätte nicht nur dreitausend, sondern ganz Tschermaschnjä herausgeschlagen!“

Die Aussagen Pan Mussjälowitschs wurden natürlich gleichfalls ausführlichst niedergeschrieben. Damit sahen sich die Polen entlassen. Daß sie beim Kartenspiel betrogen hatten, wurde fast gar nicht erwähnt. Neljudoff war ihnen gar zu dankbar und wollte sie daher nicht weiter mit Fragen belästigen, um so weniger, als das alles nur ein dummer Streit in der Trunkenheit gewesen sein konnte. Als ob es wenig Dummheiten in dieser Nacht gegeben hätte! ... So behielten denn die Polen die zweihundertfünfzig Rubel in der Tasche.

Darauf wurde nach dem alten Maximoff geschickt. Er erschien sehr zaghaft, näherte sich mit kleinen Schritten und sah dabei gehörig zerzaust und recht niedergeschlagen aus. Die ganze Zeit hatte er unten bei Gruschenka mäuschenstill gesessen und eine Miene gemacht, „als ob sofort Tränlein aus seinen Äuglein tröpfeln würden,“ wie später Michail Makarowitsch sagte, „und dann hätte er sie natürlich hübsch artig mit seinem blaukarierten Schnupftuch abgewischt“. Jedenfalls hatte Gruschenka ihn noch getröstet. Das alte Kerlchen bekannte sofort dem Untersuchungsrichter, daß er schuldig sei, da er von Dmitrij Fedorowitsch „zehn Rubel genommen habe, um-um-um ... ich bin doch ein ganz armer Mensch!“ und daß er bereit sei, sie ihm zurückzugeben ... Auf die direkte Frage Neljudoffs, „ob er nicht wisse, wieviel Geld Dmitrij Fedorowitsch in der Hand gehabt hatte, als er von ihm die zehn Rubel erhielt,“ antwortete Maximoff mit voller Überzeugung: „Zwanzigtausend.“

„Haben Sie früher einmal zwanzigtausend Rubel, in einer Hand gehalten, gesehen?“ fragte der Untersuchungsrichter lächelnd.

„Wie-wie denn nicht! Ich habe es genau gesehen, nur-nur waren es nicht zwanzigtausend, sondern sie-sie-sieben, als nämlich meine Frau mein Gütchen verpfändete. Sie ließ mich aber das Geld nur von weitem sehen. Es war ein-ein dickes Päckchen, alles Regenbogen. Und auch Dmitrij Fedorowitsch hatte nur Hundertrubelscheine ...“

Er wurde bald entlassen. Schließlich kam die Reihe auch an Gruschenka. Die Juristen fürchteten offenbar den Eindruck, den ihr Erscheinen auf Dmitrij Fedorowitsch machen konnte, und Neljudoff murmelte sogar ein paar Worte zu Mitjä, um ihn vorzubereiten und ein wenig zu ermahnen, worauf Mitjä nur stumm den Kopf senkte, womit er zu verstehen gab, daß er „keine Szene machen werde“. Michail Makarowitsch führte sie in höchst eigener Person ins Zimmer. Sie trat mit strengem, fast finsterem Gesichtsausdruck ein, äußerlich schien sie ganz ruhig zu sein. Sie setzte sich leise auf den ihr angewiesenen Stuhl gegenüber Nikolai Parfenowitsch Neljudoff, dem Untersuchungsrichter. Sie war sehr bleich, und wie es schien, fand sie es kalt, denn sie hüllte sich fröstelnd in ihren prachtvollen schwarzen Schal ein. Es waren die ersten Fieberschauer einer Erkältung – der Anfang der Grippe, an der sie nach dieser Nacht lange Zeit schwer krank zu Bett lag. Ihr strenges Aussehen, ihr gerader und ernster Blick und das ruhige Auftreten machten auf alle einen vorzüglichen Eindruck. Nikolai Parfenowitsch Neljudoff war eigentlich sofort „ganz hin“. Er gestand später selbst, wenn er irgendwo von der Begebenheit erzählte, daß er erst da zum erstenmal gesehen habe, „wie schön dieses Weib“ sei, denn vorher hätte er sie wohl flüchtig gesehen, aber doch immer nur für „etwas von der Art einer Kreisstadthetäre gehalten“. „Sie hat Manieren, wie eine Dame der besten Gesellschaft,“ beteuerte er einmal in der Begeisterung und zufällig gerade in einer Damengesellschaft. Man hörte ihn mit dem größten Unwillen an und nannte ihn dafür hinfort einen „verdorbenen Schlingel“, womit er sehr zufrieden war. Als Gruschenka ins Zimmer trat, streifte sie Mitjä nur einmal ganz flüchtig mit dem Blick, und diese Ruhe beruhigte dann auch ihn, der ihr zuerst erregt entgegengesehen hatte. Nach den ersten notwendigen Fragen und Vorbemerkungen stellte Nikolai Parfenowitsch, zwar etwas stotternd und betreten, aber doch mit voller Beibehaltung der größten Höflichkeit und Ernsthaftigkeit, folgende Frage: In welchen Beziehungen sie zu dem Leutnant a. D. Dmitrij Fedorowitsch Karamasoff gestanden habe, worauf sie still und fest antwortete:

„Er war mein Bekannter, als Bekannten habe ich ihn im letzten Monat empfangen.“

Auf die weiteren, interessiert gestellten Fragen erklärte sie mit voller Aufrichtigkeit, daß er ihr wohl in manchen „Stunden“ gefallen, sie ihn aber nicht geliebt, sondern nur „aus dummer Bosheit“ zum besten gehabt habe, ganz wie sie es auch mit jenem „Alten“ getan hätte. Sie sagte, sie habe gesehen, wie Mitjä auf Fedor Pawlowitsch und auf alle Welt eifersüchtig gewesen sei, doch das hätte sie nur amüsiert. Zu Fedor Pawlowitsch zu gehen, daran habe sie überhaupt nicht gedacht, da sie sich über ihn nur lustig gemacht habe. „In diesem ganzen Monat war es mir nicht um sie zu tun; ich erwartete einen anderen Menschen, der ankommen sollte, um seine Schuld an mir wieder gutzumachen ... Nur glaube ich,“ schloß sie plötzlich, „daß dieses Sie weiter nicht zu interessieren braucht, und ich Ihnen darüber nichts zu sagen habe, denn das dürfte doch nur meine persönliche Angelegenheit sein.“

Nikolai Parfenowitsch gehorchte sofort; er ließ sofort alle „romantischen“ Punkte beiseite und ging unverzüglich zum „Ernsten“ über, das heißt also zu jener Frage der dreitausend Rubel. Gruschenka bestätigte, daß von Mitjä vor einem Monat in Mokroje tatsächlich dreitausend Rubel verschleudert worden seien, und wenn sie selbst auch das Geld nicht gezählt habe, so hätte sie doch von Dmitrij Fedorowitsch gehört, daß es so viel gewesen sei.

„Hat er es Ihnen unter vier Augen gesagt oder in Gegenwart anderer, oder haben Sie nur gehört, wie er es anderen gesagt hat?“ erkundigte sich sofort der Staatsanwalt.

Gruschenka erklärte darauf, daß er es sowohl in Gegenwart anderer, als auch zu anderen gesagt, daß sie es aber auch unter vier Augen von ihm gehört habe.

„Haben Sie es einmal von ihm unter vier Augen gehört oder mehrmals?“ erkundigte sich wieder der Staatsanwalt, und er erfuhr, daß sie es mehrmals gehört hatte.

Hippolyt Kirillytsch war mit dieser Aussage sehr zufrieden. Aus dem weiteren Verhör ergab sich ferner noch, daß Gruschenka gleichfalls gewußt hatte, woher dieses Geld stammte, – daß es Dmitrij Fedorowitsch von Katerina Iwanowna gegeben worden war.

„Aber haben Sie nicht wenigstens einmal gehört, daß hier vor einem Monat nicht dreitausend, sondern weniger verschleudert worden sei, und daß Dmitrij Fedorowitsch von den Dreitausend die ganze Hälfte für sich aufbewahrt habe?“

„Nein, davon habe ich niemals etwas gehört,“ sagte Gruschenka.

Weiterhin erfuhren die Juristen von ihr noch, daß Mitjä ihr im ganzen letzten Monat häufig gesagt hatte, daß er kein Geld habe. „Er hoffte aber immer, von seinem Vater welches zu erhalten,“ schloß Gruschenka.

„Aber hat er nicht einmal in Ihrer Gegenwart gesagt ... oder vielleicht flüchtig irgendwie angedeutet,“ fiel sofort Neljudoff ein, „daß er eventuell seinen Vater erschlagen wolle?“

„Ach, leider hat er es gesagt!“ sagte Gruschenka aufseufzend.

„Einmal oder des öfteren?“

„Des öfteren hat er es gesagt, doch immer nur dann, wenn er aufgebracht oder zornig war.“

„Und haben Sie geglaubt, daß er es ausführen werde?“

„Nein, niemals habe ich das geglaubt!“ antwortete sie mit fester Stimme. „Ich habe immer auf seine edle Gesinnung gehofft.“

„Meine Herren, erlauben Sie mir,“ rief plötzlich Mitjä dazwischen, „erlauben Sie, daß ich in Ihrer Gegenwart nur ein Wort zu Agrafena Alexandrowna sage?“

„Sprechen Sie,“ – Neljudoff erlaubte es ihm.

„Agrafena Alexandrowna,“ sagte, sich vom Stuhl erhebend, Mitjä, „glaube Gott und mir: An dem Blute meines gestern erschlagenen Vaters bin ich nicht schuldig, ich bin unschuldig daran!“

Und nachdem er das gesagt hatte, setzte er sich wieder auf den Stuhl. Gruschenka erhob sich, wandte sich zur Ecke, in der das Heiligenbild hing, und bekreuzte sich andächtig.

„Gelobt seist Du, mein Herr und Gott!“ sagte sie mit ganzer Inbrunst und tief erschütterter Stimme. Und ohne sich zu setzen, wandte sie sich darauf zu Neljudoff und fügte noch laut hinzu: „Was er soeben gesagt hat, daran glauben Sie! Ich kenne ihn: Unwahres schwatzen kann er, wenn es sich um einen Scherz oder seinen Eigensinn handelt, doch wenn es sich um eine Gewissenssache handelt, so wird er nie lügen. Dann wird er stets die Wahrheit sagen, und daran glauben Sie!“

„Hab Dank dafür, Agrafena Alexandrowna, du hast mich wieder aufgerichtet,“ sagte Mitjä mit unsicherer Stimme.

Auf die Frage nach dem gestrigen Gelde sagte sie, daß sie nicht wüßte, wieviel es gewesen sei, dafür aber gehört habe, wie er zu anderen gesagt hatte, daß er wieder mit Dreitausend angekommen sei. Und was die Herkunft des Geldes betrifft, so habe er ihr allein unter vier Augen gesagt, daß er es von Katerina Iwanowna „gestohlen“ hätte, und sie habe ihm darauf geantwortet, daß es nicht „gestohlen“ sei, und daß er ihr morgen das Geld zurückgeben müsse. Auf die wiederholte Frage des Staatsanwalts, von welchem Gelde er gesagt hätte, daß es „gestohlen“ sei – von dem gestrigen oder den anderen Dreitausend vor einem Monat – erklärte sie, daß er es von jenem anderen vor einem Monat gesagt, daß wenigstens sie ihn so verstanden habe.

Endlich wurde auch Gruschenka entlassen, wobei ihr Nikolai Parfenowitsch Neljudoff noch dienstbeflissen mitteilte, daß sie, falls sie es wünschte, ungehindert jeden Augenblick in die Stadt zurückkehren könne, und daß er, falls er seinerseits irgendwie gefällig sein könnte, zum Beispiel hinsichtlich der Pferde, oder, zum Beispiel, falls sie einen Begleiter wünschte, ... seinerseits, wie gesagt, mit dem größten Vergnügen ...

„Ich danke Ihnen für Ihre Liebenswürdigkeit,“ unterbrach ihn Gruschenka, mit einer leichten Verneigung des Kopfes, „ich werde mit dem kleinen alten Herrn, dem Gutsbesitzer, zurückkehren, ich werde ihn in die Stadt bringen, doch vorläufig möchte ich, wenn Sie es gestatten, hier abwarten, was mit Dmitrij Fedorowitsch geschehen wird.“

Sie verließ das Zimmer. Mitjä war ruhig und schien wieder Mut und Kraft geschöpft zu haben, – doch schien das nur eine kurze Zeit so. Es überkam ihn immer wieder eine ganz sonderbare körperliche Schwäche, und je länger die Verhandlung dauerte, desto häufiger und stärker fiel ihn diese Schwäche an. Seine Augen fielen ihm fast zu vor Müdigkeit. Endlich war auch das Zeugenverhör beendet. Dann schritt man zur endgültigen Redaktion des Protokolls. Mitjä erhob sich und ging von seinem Stuhl in die Ecke zum Vorhang, wo er sich auf eine große, mit einem Teppich bedeckte Truhe hinlegte und sofort einschlief. Da hatte er einen sonderbaren Traum, der eigentlich gar nicht zu seiner Stimmung paßte. Es war ihm, als fahre er irgendwo in der Steppe, dort, wo früher vor langer Zeit sein Regiment gestanden hatte: und er fährt in einem offenen Wagen, in dem vor ihm noch der Kutscher sitzt, ein Bauer, und es schneit und regnet. Nur scheint es kalt zu sein, etwa Anfang November, und der Schnee fällt in dichten nassen Flocken und taut sofort auf, sobald er die Erde berührt. Und der Bauer knallt mit der Peitsche, und die beiden Pferde greifen tüchtig aus. Der Bauer hat einen langen Bart, er ist aber noch nicht alt, ungefähr fünfzig Jahre, und er hat einen grauen Bauernkittel an. Und da sieht er in der Ferne ein Dorf, die Hütten sind schwarz, ganz schwarz, und die Hälfte der Hütten ist abgebrannt, und es starren von ihnen nur noch die verkohlten Dachsparren durch den grauen Tag. Und vor der Einfahrt ins Dorf haben sich an der Landstraße die Bauernweiber aufgestellt, viele Weiber, eine ganze Reihe, und alle haben sie so magere und abgezehrte, ganz absonderlich braune Gesichter. Besonders die eine am Rande, eine skelettartige, hohe Gestalt: sie scheint vierzig Jahre alt zu sein, vielleicht ist sie auch nur zwanzig, ihr Gesicht ist lang, mager, und auf dem Arme trägt sie ein weinendes Kindchen, ihre Brüste aber müssen ganz ausgetrocknet sein, keinen Tropfen Milch mehr enthalten. Und das Kindchen weint und weint, und es streckt die Ärmchen aus, nackte magere Ärmchen mit kleinen Fäustchen, die vor Kälte ganz blau sind.

„Warum weinen sie? Worüber weinen sie?“ fragt Mitjä, indem er in seinem Wagen an ihnen vorüberfliegt.

„Das ist das Kindichen,“ antwortet ihm der Bauer, mit dem er fährt, „das Kindichen weint.“

Und Mitjä ist ganz verdutzt darüber, daß er es so auf seine Art sagt: „das Kindichen“, und nicht das Kindchen. Und es gefällt ihm, daß der Bauer Kindichen gesagt hat: es ist, als ob mehr Mitleid darin läge.

„Aber warum weint es?“ fragte Mitjä ungeduldig weiter, als wenn er zu dumm wäre, um es zu begreifen. „Warum sind seine Ärmchen bloß, warum wird es nicht eingewickelt?“

„Das Kindichen hat’s kalt, die Kleiderchen sind dünn und feucht, und da wärmen sie das Körperchen nicht mehr.“

„Aber warum ist das so? Warum?“ fragt immer drängender der dumme Mitjä.

„Weil sie doch arm sind, abgebrannt, Brot haben sie kein Stückchen mehr; sie bitten für den abgebrannten Ort.“

„Nein, nein,“ ruft Mitjä, als verstehe er noch immer nicht, „aber so sag mir doch: Warum stehen so die abgebrannten Mütter, warum sind sie arm, warum ist das Kindichen arm, warum ist die Steppe so nackt, warum umarmen sie sich nicht, warum küssen sie sich nicht, warum singen sie nicht fröhliche Lieder, warum sind sie so schwarz geworden von dem schwarzen Elend, warum wird das Kindichen nicht genährt?“

Und er fühlt, daß er sinnlos und unvernünftig fragt, aber er hatte unbedingt geradeso fragen wollen, und er glaubt, daß er auch geradeso habe fragen müssen. Und er fühlt noch, daß sich in seinem Herzen eine noch nie empfundene Rührung erhebt, daß er weinen möchte, daß er für alle etwas tun will, auf daß das Kindichen nicht mehr weine, auf daß auch die schwarze verhärmte Mutter des Kindichens nicht mehr weine, auf daß von diesem Augenblicke an niemand mehr eine Träne vergieße, und daß er sofort, unverzüglich so etwas tun will, ohne Aufschub oder Verzug, ohne Rücksicht oder Bedenken, mit der ganzen Karamasoffschen zügellosen Leidenschaft.

„Und ich bin bei dir, jetzt verlasse ich dich nie mehr, das ganze Leben lang gehe ich mit dir,“ ertönen neben ihm Gruschenkas liebeatmende, inbrünstige Worte.

Und da entbrennt sein ganzes Herz und strebt zu etwas Lichtem, Lichtem, und leben will er, leben, auf einem Wege will er gehen, gehen zu dem neuen ihm winkenden Lichte, nur schneller, schneller, jetzt gleich, sofort!

„Was? Wohin?“ ruft er aus, schlägt die Augen auf und setzt sich auf seine Truhe, als ob er aus einer Ohnmacht erwache, und lächelt verklärt.

Vor ihm stand, etwas zu ihm herabgebeugt, Nikolai Parfenowitsch Neljudoff und forderte ihn auf, das Protokoll anzuhören und dann zu unterzeichnen.

Mitjä erriet, daß er vielleicht eine Stunde geschlafen hatte oder noch länger, aber er hörte nicht, was Neljudoff zu ihm sprach. Es machte ihn plötzlich stutzig, daß auf der Truhe ein Kopfkissen lag und er auf ihm geschlafen hatte; vorhin aber, als er todmüde hier eingeschlafen war, da hatte er kein Kissen gesehen.

„Wer hat mir dieses Kissen unter den Kopf geschoben? Wer ist dieser gute Mensch gewesen?“ rief er mit einem begeisterten, dankbaren Gefühl und einer gleichsam vor Tränen bebenden Stimme, als hätte man ihm weiß Gott was für eine große Wohltat erwiesen.

Er hat es nie erfahren, wer dieser gute Mensch gewesen war. Vielleicht hatte es einer von den Ortsbewohnern oder der kleine Schreiber Nikolai Parfenowitschs aus Mitleid getan. Mitjä aber fühlte, wie seine ganze Seele vor Tränen gleichsam erbebte. Er trat zum Tisch und sagte, daß er alles unterzeichnest werde, was sie von ihm verlangten.

„Ich habe einen guten Traum gehabt, meine Herren,“ sagte er, und seine Worte klangen so sonderbar, und er sprach sie mit einem ganz neuen, freudeverklärten Gesicht.

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