Als Aljoscha das Haus seines Vaters verließ, fühlte er sich noch niedergeschlagener und bedrückter, als er vorhin bei seinem Eintritt gewesen war. Sein Verstand schien ihm gleichsam ganz zerstückt und zerstreut zu sein, und zu gleicher Zeit fühlte er, daß er sich fürchtete, das Verstreute zu vereinigen und sich über die allgemeine Ursache und Bedeutung aller quälenden Widersprüche, die er an diesem Tage empfunden hatte, klar Rechenschaft abzulegen. Es war ein bedrückendes, unerklärliches Gefühl, das fast an Verzweiflung grenzte, und das Aljoscha noch nie in seinem Herzen empfunden hatte. Über allen anderen quälenden Zweifeln und Rätseln stand wie ein Berg die eine verhängnisvolle, unlösbare Frage: Womit wird es zwischen dem Vater und dem Bruder dieses furchtbaren Weibes wegen enden? Jetzt war er selbst Augenzeuge gewesen und hatte sie beide in ihrer Eifersucht gesehen. Doch unglücklich, wirklich und furchtbar unglücklich konnte nur Dmitrij sein: ihn erwartete zweifellos großes Leid. Nun aber erwies sich auch, daß es noch andere Menschen gab, die all dieses gleichfalls anging und vielleicht noch viel mehr anging, als Aljoscha sich früher gedacht hatte. Es stellte sich plötzlich sogar etwas Rätselhaftes heraus. Sein Bruder Iwan war ihm einen Schritt näher getreten, was er solange schon gewünscht hatte, und siehe, jetzt fühlte er plötzlich, daß ihn diese Annäherung erschreckte. Und jene Frauen? Wie sonderbar: vorhin war er so unruhig und befangen gewesen, als er sich zu Katerina Iwanowna aufgemacht hatte, nun aber beeilte er sich selbst, schneller zu ihr hinzukommen, ganz als ob er erwartete, bei ihr Rat zu finden. Und doch war es jetzt schwerer, den Auftrag auszurichten als vorhin: die Geldangelegenheit war endgültig entschieden, und Dmitrij, so sagte sich Aljoscha, würde sich jetzt für ehrlos und hoffnungslos verloren halten und darum sich auch in nichts mehr zügeln, sondern sich geradeaus, kopfüber in den Abgrund stürzen. Und zudem hatte er noch befohlen, Katerina Iwanowna auch die letzte Szene zu erzählen.
Es war schon sieben Uhr und es dunkelte bereits, als Aljoscha bei Katerina Iwanowna eintrat. Sie hatte ein sehr geräumiges und bequemes Haus an der Großen Straße gemietet. Aljoscha wußte, daß sie zusammen mit zwei Tanten wohnte; doch war die eine nur die Tante ihrer Stiefschwester Agafja Iwanowna. Das war jene schweigsame Person, die im Hause ihres Vaters, des Oberstleutnants, damals, als sie aus dem Institut nach Hause zum Besuch gekommen war, sie wie eine Magd bedient hatte. Die andere Tante dagegen war eine vornehme, doch gleichfalls arme Dame, eine Moskowiterin. Es hieß, daß sie beide in allen Dingen Katerina Iwanowna gehorchten und bei ihr nur als „Anstandsdamen“ wohnten. Katerina Iwanowna jedoch gehorchte nur ihrer Gönnerin, der alten Generalin, die krankheitshalber in Moskau geblieben war, und der sie wöchentlich zwei Briefe mit ausführlichen Nachrichten über sich schreiben mußte.
Als Aljoscha in das Vorzimmer trat und die Zofe, die ihm die Tür geöffnet hatte, ihn anzumelden bat, schien man im Saal von seiner Ankunft schon zu wissen (vielleicht hatte man ihn vom Fenster aus gesehen), nur hörte Aljoscha noch ein Geräusch wie von hastig forteilenden Frauenschritten und Kleiderrauschen: vielleicht liefen zwei oder drei Frauen aus dem Zimmer. Es schien ihm sonderbar, daß er durch seinen Besuch solch eine Aufregung hervorrief; er wurde aber sofort gebeten, in den Saal einzutreten. Es war das ein großes, elegant, durchaus nicht nach provinziellem Geschmack reich möbliertes Zimmer: kleine Sofas, Couchetten, Chaiselongues, kleine und große Tische waren geschmackvoll gruppiert; an den Wänden hingen Gemälde, Vasen und Lampen standen auf den Tischen und auf besonderen Ständern viele Blumen. Da die Dämmerstunde schon vorrückte, war es etwas dunkel im Saal; Aljoscha bemerkte aber doch auf dem Sofa, auf dem man augenscheinlich noch vor kurzem gesessen hatte, einen seidenen Überwurf und auf dem Tisch davor zwei unausgetrunkene Tassen Schokolade, Biskuit, eine Kristallschale mit blauen Weintrauben und eine andere mit Konfitüren. Es mußte jemand zu Gast gewesen sein. Aljoscha erriet, daß er einen Besuch gestört hatte und runzelte die Stirn; da aber wurde auch schon eine Portiere zurückgeschlagen, und Katerina Iwanowna trat mit schnellen Schritten auf ihn zu und streckte ihm beide Hände entgegen. Im selben Augenblick brachte das Mädchen zwei brennende Lichte und stellte sie auf den Tisch.
„Gott sei Dank, daß auch Sie endlich gekommen sind! Den ganzen Tag habe ich Gott gebeten, er möge Sie doch endlich zu mir schicken! Setzen Sie sich, bitte.“
Die Schönheit Katerina Iwanownas hatte Aljoscha schon früher frappiert, als ihn sein Bruder Dmitrij auf ihren ausdrücklichen Wunsch ihr vorgestellt hatte. Zu einem Gespräch war es damals zwischen ihnen nicht gekommen. Katerina Iwanowna hatte geglaubt, er sei verlegen geworden, und hatte daher, gleichsam um ihn zu schonen, die ganze Zeit nur mit Dmitrij Fedorowitsch gesprochen. Aljoscha hatte geschwiegen, beobachtet und vieles sehr gut erkannt. Ihn hatten das sichere Auftreten, die stolze Liebenswürdigkeit, das Selbstbewußtsein des hochmütigen Mädchens in Erstaunen gesetzt, und Aljoscha fühlte, daß es wirklich so war, daß Dmitrij nichts vergrößerte oder übertrieb. Er fand ihre großen, dunkelbraunen, feurigen Augen wundervoll und fand, daß sie besonders gut zu ihrem länglichen, blaß-gelblichen Gesicht standen. Doch war in diesen Augen, wie in den Linien der wundervoll geschnittenen Lippen etwas, in das sich sein Bruder wohl verliebt haben konnte, doch das er vielleicht nicht lange lieben werde. Diese Beobachtung teilte er dann auch seinem Bruder mit, als der nach dem Besuch in ihn drang und ihn bat, nicht zu verheimlichen, welch einen Eindruck sie auf ihn gemacht hatte.
„Du wirst mit ihr glücklich sein; aber vielleicht ... wird es kein ruhiges Glück werden.“
„Das ist’s ja; solche Menschen bleiben wie sie sind, die geben sich nicht mit ihrem Schicksal zufrieden. Also du glaubst, daß ich sie nicht ewig lieben werde?“
„Nein, vielleicht wirst du sie ewig lieben; aber vielleicht wirst du mit ihr nicht immer glücklich sein.“
Als Aljoscha damals seine Meinung geäußert hatte, war er vor Ärger über sich, daß er den Bitten seines Bruders Gehör gegeben und so „dumme“ Gedanken ausgesprochen hatte, heftig errötet, denn sofort, nachdem er es getan, war ihm seine Äußerung furchtbar dumm erschienen, und es war ihm sehr peinlich gewesen, daß er so vorwitzig über eine Frau geurteilt hatte. Um wieviel größer war nun seine Verwunderung, als er jetzt schon beim ersten Blick auf die ihm entgegentretende Katerina Iwanowna fühlte, daß er sich damals vielleicht sehr versehen hatte. Ihr Gesicht strahlte diesmal von unverfälschter, offenherziger Güte, von gerader, lebhafter Herzlichkeit. Von dem ganzen früheren „Stolz und Hochmut“, die Aljoscha das erstemal so betroffen gemacht hatten, war jetzt nur noch eine kühne, edle Energie und ein gewisser klarer, mächtiger Glaube an sich selbst zu bemerken. Schon nach dem ersten Blick auf sie, schon nach den ersten Worten begriff Aljoscha, daß ihr die ganze Tragik ihres Verhältnisses zu dem von ihr so geliebten Menschen durchaus kein Geheimnis war, daß sie vielleicht schon alles wußte, alles. Und doch lag soviel Licht auf ihrem Antlitz, soviel Glaube an die Zukunft. Aljoscha fühlte sich plötzlich im Ernst vor ihr schuldig, und es war ihm fast, als ob er es mit Absicht geworden wäre. Sie hatte ihn sofort besiegt und angezogen. Außerdem fiel ihm auch schon nach ihren ersten Worten auf, daß sie sehr erregt war, was bei ihr nur selten vorkam; es war eine Erregung, die beinahe sogar einer Art Begeisterung glich.
„Ich habe Sie darum so sehnsüchtig erwartet, weil ich jetzt nur von Ihnen allein die ganze Wahrheit erfahren kann, nur von Ihnen allein!“
„Ich bin gekommen ...“ begann Aljoscha verwirrt, „ich ... er hat mich geschickt –“
„Ah, er hat Sie also geschickt; nun, das ahnte ich ja. Jetzt weiß ich alles, alles!“ rief Katerina Iwanowna mit aufblitzenden Augen aus. „Warten Sie, Alexei Fedorowitsch, ich werde Ihnen zuerst sagen, warum ich Sie so erwartete. Sehen Sie, ich weiß vielleicht viel mehr als Sie selbst; ich brauche nicht Nachrichten von Ihnen, sondern etwas anderes: ich will Ihre eigene, persönliche Meinung, ich will den Eindruck wissen, den er zuletzt auf Sie gemacht hat; ich will, daß Sie mir ganz aufrichtig sagen, ohne jede Ausschmückung, ganz brutal sogar (o, so brutal, wie Sie nur wollen!), wie Sie ihn jetzt, nach Ihrem heutigen Wiedersehen, selbst beurteilen. Das wird vielleicht noch besser sein, als wenn ich, zu der er nicht mehr kommt, mich persönlich mit ihm aussprechen würde. Verstehen Sie, was ich von Ihnen will? Jetzt sagen Sie mir, womit er Sie zu mir geschickt hat (ich wußte ja, daß er Sie zu mir schicken werde!); sprechen Sie ganz einfach, sagen Sie alles, bis aufs letzte Wort! ...“
„Er sagte mir, ich soll Ihnen ... seinen Abschiedsgruß überbringen und sagen, daß er nicht mehr kommen werde ... und grüßen läßt.“
„Seinen Abschiedsgruß? Hat er das so gesagt, so sich ausgedrückt?“
„Ja!“
„Vielleicht flüchtig, nebensächlich, ohne so genau ans Wort zu denken?“
„Nein, er befahl gerade, ich solle dieses Wort überbringen: ‚seinen Abschiedsgruß‘. Er bat mich dreimal darum, damit ich es nicht vergesse.“
Katerina Iwanowna schoß das Blut ins Gesicht.
„Helfen Sie mir jetzt, Alexei Fedorowitsch; jetzt bedarf ich Ihrer Hilfe: Ich werde Ihnen zuerst sagen, was ich denke, und Sie sollen mir dann nur sagen, ob Sie es für richtig halten oder nicht. Also hören Sie: Wenn er Ihnen ganz flüchtig gesagt hätte, mir seinen Abschiedsgruß zu überbringen, ohne auf dem Wort zu bestehen, ohne es zu unterstreichen, so wäre alles aus ... Das wäre das Ende! ... Wenn er aber so besonders auf diesem Wort bestand, wenn er Sie so besonders beauftragt hat, mir gerade den Abschiedsgruß zu überbringen – so muß er sehr erregt, vielleicht außer sich gewesen sein. Er entschloß sich vielleicht erst und erschrak vor seinem Entschluß! Er ist nicht festen Schrittes von mir fortgegangen, sondern hat sich hinab in den Abgrund gestürzt. Die ausdrückliche Betonung dieses Wortes kann ja nur Prahlerei gewesen sein.“
„Ja, ja!“ bestätigte Aljoscha lebhaft, „jetzt scheint es mir auch so.“
„Wenn das aber so ist, dann ist er noch nicht verloren! Er ist nur sehr verzweifelt; aber ich kann ihn noch retten. Warten Sie: Hat er zu Ihnen nicht noch etwas von Geld gesprochen, von dreitausend Rubeln?“
„Er hat nicht nur davon gesprochen, sondern das war es gerade, was ihn am meisten bedrückte. Er sagte, er sei jetzt ehrlos geworden, und jetzt wäre schon alles einerlei,“ antwortete Aljoscha erregt, da er fühlte, wie sich von neuem Hoffnung in seinem Herzen erhob, und daß es möglicherweise wirklich noch eine Rettung für seinen Bruder gab. „Aber wie ... wissen Sie denn etwas von diesem Geld?“ fragte er erschrocken und verstummte plötzlich.
„Schon lange und ganz genau. Ich telegraphierte nach Moskau und erfuhr sofort, daß man das Geld nicht erhalten hatte. Er hatte also damals das Geld nicht abgeschickt! Aber ich schwieg. In der vorigen Woche erfuhr ich dann, wie sehr er gerade damals das Geld nötig gehabt hatte, und wie sehr er es noch jetzt nötig hat ... Ich verfolge ja doch nur ein einziges Ziel: Er soll wissen, zu wem er immer zurückkehren kann, und wer sein treuester Freund ist. Er aber will nicht glauben, daß ich das bin; er will mich nicht einmal näher kennen lernen; er sieht auf mich nur wie auf ein – Weib. Diese ganze Woche hat mich nur die eine furchtbare Sorge gequält: Was soll ich tun, damit er sich nicht der Verausgabung dieser Dreitausend vor mir schämt? Oder mag er sich auch schämen, vor allen, vor sich selbst; aber vor mir soll er sich nicht schämen. Gott gesteht er doch alles, ohne sich zu schämen. Warum weiß er noch immer nicht, wieviel ich für ihn ertragen kann? Warum, warum kennt er mich nicht; wie wagt er es, mich noch immer nicht zu kennen, nach allem, was schon geschehen ist? Ich will ihn auf ewig retten; mag er mich meinetwegen als seine Braut vergessen! Und nun fürchtet er sich vor mir – wegen seiner Ehre? Ihnen alles zu sagen, hat er sich doch nicht gefürchtet; warum habe ich denn bis jetzt noch nicht dasselbe Vertrauen verdient?“
Die letzten Worte sprach sie mit Tränen in den Augen; Tränen rollten ihr über die Wangen.
„Ich muß Ihnen noch mitteilen,“ sagte Aljoscha mit zitternder Stimme, „was, kurz bevor ich herkam, geschehen ist.“
Und er erzählte ihr die ganze Szene; erzählte, daß ihn Dmitrij zum Vater mit der Bitte um Geld geschickt hatte, wie er aber dann selbst hereingestürzt war, den Vater verprügelt und ihm, Aljoscha, dann noch einmal und eindringlich befohlen hatte, den „Abschiedsgruß“ zu überbringen ... – „Und darauf ging er zu jener ...“ fügte Aljoscha leise hinzu.
„Und Sie glauben, daß ich das nicht überwinden kann? Er glaubt, daß ich’s nicht kann? Aber er wird sie ja nicht heiraten!“ Sie lachte nervös auf. „Kann denn ein Karamasoff ewig in dieser Leidenschaft bleiben? Das ist Leidenschaft, aber nicht Liebe. Er wird sie nicht heiraten, denn sie wird ihn nicht heiraten ...“ sagte sie wieder mit sonderbarem Lachen.
„Er wird sie vielleicht doch heiraten,“ sagte Aljoscha traurig, den Blick zu Boden gesenkt.
„Ich sage Ihnen, er wird sie nicht heiraten! Dieses Mädchen – ist ein Engel, wissen Sie das auch? Wissen Sie das?“ rief plötzlich in ganz auffallender Begeisterung Katerina Iwanowna. „Das ist das phantastischste aller phantastischen Geschöpfe! Ich weiß, wie bezaubernd sie ist, aber ich weiß auch, wie gut sie ist, wie charakterfest, wie edel. Warum sehen Sie mich so an, Alexei Fedorowitsch? Wundern Sie meine Worte, oder glauben Sie mir vielleicht nicht? Agrafena Alexandrowna, mein Engel!“ rief sie plötzlich jemandem zu, zur Tür des Nebenzimmers gewandt, „kommen Sie her zu uns, hier ist ein lieber Mensch, Aljoscha Karamasoff, er weiß alles, zeigen Sie sich ihm!“
„Ich wartete die ganze Zeit hinter der Portiere nur darauf, daß Sie mich rufen,“ antwortete darauf eine weiche, etwas süßliche Frauenstimme.
Die Portiere wurde zurückgeschlagen und ... Gruschenka trat lachend ins Zimmer. Sie näherte sich dem Tisch. Aljoscha fühlte, daß ihn etwas durchzuckte. Er umklammerte sie geradezu mit seinem ganzen Blick und konnte die Augen nicht mehr von ihr abwenden. Das also war sie, sie, dieses furchtbare Weib, – das „Tier“, wie sich vor einer halben Stunde Iwan über sie geäußert hatte. Und nun stand vor ihm, wie es auf den ersten Blick schien – das gewöhnlichste und einfachste Geschöpf, ein gutes, liebes Wesen, zwar ein hübsches Weib, aber eines, das so ähnlich allen anderen hübschen, doch „gewöhnlichen“ Frauen war. Allerdings war sie schön, sogar sehr schön, – eine russische Schönheit, wie sie von vielen so leidenschaftlich geliebt wird. Sie war ziemlich groß, doch etwas kleiner als Katerina Iwanowna (da diese schon von sehr hohem Wuchs war), in der Gestalt recht voll, mit weichen, gleichsam „lautlosen“ Körperbewegungen, als ob dieselben, wie ihre Stimme, gleichfalls so sonderbar, fast süßlich ausgearbeitet wären. Sie kam nicht wie Katerina Iwanowna ins Zimmer, – mit munteren, festen Schritten; nein, unhörbar näherte sie sich ihnen. Keinen Schritt hörte man auf dem Fußboden. Weich ließ sie sich auf den Lehnstuhl nieder, weich rauschte ihr prächtiges schwarzes Seidenkleid, und verzärtelt hüllte sie ihren vollen, wie Schaum weißen Hals und ihre breiten Schultern in einen teuren schwarzen Schal. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, und ihr Gesicht drückte auch genau dieses Alter aus. Ihr Teint war sehr weiß, und nur ihre Wangen hatten einen blaßrosa Schimmer. Das Gesicht war vielleicht etwas zu breit, und der untere Kiefer trat ein wenig vor. Die Oberlippe war schmal und fein, doch die Unterlippe war voller und fast wie geschwollen. Aber ihr prachtvolles, reiches, dunkelblondes Haar, die dunklen, feingezeichneten Augenbrauen und ihre wundervollen graublauen Augen mit den langen Wimpern hätten selbst den gleichgültigsten und zerstreutesten Menschen, einerlei wo, in der Volksmenge, beim Spaziergang, im Gedränge auf der Straße gezwungen, plötzlich vor diesem Gesicht stehenzubleiben und es auf lange in der Erinnerung zu behalten. Am meisten machte Aljoscha der naive, gutmütige Ausdruck dieses Gesichts betroffen. Sie blickte ihn an wie ein Kind, freute sich über irgend etwas wie ein Kind, und sie „freute“ sich gerade, als sie sich ihnen näherte, wie wenn sie mit kindlich ungeduldiger, zutraulicher Neugier etwas Besonderes erwarte. Ihr Anblick machte das Herz froh, – das fühlte Aljoscha. Es war noch etwas in ihr, worüber er sich nicht hätte Rechenschaft geben können, vielleicht weil er es nicht verstand, etwas, das aber auch ihm sich unbewußt mitteilte, nämlich wiederum diese Weichheit, Zärtlichkeit der Körperbewegungen, diese katzenhafte Unhörbarkeit ihrer Schritte. Und doch war es eine starke, volle Gestalt. Unter dem weichen Schal zeichneten sich breite, volle Schultern ab, eine hohe, noch ganz jugendliche Brust. Dieser Körper hatte vielleicht die Formen der Venus von Milo, obgleich er auch jetzt schon in den Verhältnissen etwas übertrieben sein mußte, – das konnte man ahnen. Kenner russischer Frauenschönheit hätten vielleicht bei Gruschenkas Anblick gesagt, daß solche frische, noch jugendliche Schönheiten schon mit dreißig Jahren die Harmonie verlieren, daß auch das Gesicht dann schon verschwommen aussieht, daß um die Augen herum und auf der Stirn ungewöhnlich schnell kleine Fältchen entstehen und die Gesichtsfarbe ihre Zartheit verliert und rot wird. Mit einem Wort, daß es eine flüchtige Schönheit war, eine Augenblicksschönheit, die man so häufig gerade bei der russischen Frau findet. Doch daran dachte Aljoscha natürlich nicht in diesem Augenblick. Nur – wie bezaubert er auch war, so fragte er sich doch mit einer gewissen unangenehmen Empfindung: Warum zieht sie die Worte so in die Länge, warum kann sie nicht natürlich sprechen? Sie tat es augenscheinlich, weil sie diese gezogene und verstärkt-süßliche Aussprache schön fand. Das war natürlich nur eine dumme Angewohnheit schlechten Tones, die von ihrer geringen Bildung und von Kindheit an falschen Auffassung des Vornehmen zeugte. Und doch erschien Aljoscha diese singende Aussprache der Worte fast wie ein unmöglicher Widerspruch zu diesem kindlich-offenherzigen und gutmütig-freudigen Gesichtsausdruck, zu diesem stillen, glücklichen Leuchten ihrer Kinderaugen! Katerina Iwanowna zog sie sofort auf den Lehnstuhl neben sich und küßte sie entzückt mehrmals auf ihre lachenden Lippen. Sie schien in sie geradezu verliebt zu sein.
„Wir sehen uns heute zum ersten Male, Alexei Fedorowitsch,“ sagte sie ganz berauscht; „ich wollte sie kennen lernen, sie sehen, ich wollte selbst zu ihr gehen, sie aber kam schon auf meine erste Bitte zu mir. Ich wußte es ja, daß wir beide alles sofort gutmachen würden, alles! Mein Herz fühlte es voraus ... Man bat mich himmelhoch, diesen Schritt zu unterlassen, aber ich ahnte ja, daß hier die Rettung war, und täuschte mich nicht. Gruschenka hat mir jetzt alles erzählt und erklärt, alle ihre Absichten; sie ist wie ein guter Engel zu mir gekommen und hat mir Ruhe und Freude gebracht ...“
„Sie haben mich nicht verachtet, liebes, wertes Fräulein,“ sagte Gruschenka in ihrem gezogenen, singenden Tone und immer noch mit demselben freudigen Lächeln.
„Sagen Sie mir nie mehr, nie mehr so etwas, Sie schlimme Zauberin! Sie und verachten! Sehen Sie, ich werde gleich noch einmal ihre Lippen abküssen. Sie sind bei Ihnen ganz wie geschwollen, also damit sie noch mehr anschwellen, küsse ich sie, und werde sie wieder küssen, und wieder ... Sehen Sie, wie sie lacht, Alexei Fedorowitsch, wirklich, das Herz lacht einem, wenn man diesen Engel ansieht ...“ Aljoscha war rot im Gesicht und zitterte. Es war ein bebendes, unmerkliches Zittern.
„Sie hätscheln mich, liebes Fräulein, ich aber bin Ihrer Liebkosung vielleicht gar nicht wert.“
„Nicht wert! Sie soll ihrer nicht wert sein!“ rief wieder mit derselben Begeisterung Katerina Iwanowna. „Wissen Sie auch, Alexei Fedorowitsch, daß wir ein phantastisches Köpfchen haben, ein eigenwilliges, aber stolzes, überstolzes Herzchen haben! Wir sind edel, Alexei Fedorowitsch, wir sind großmütig, wissen Sie das auch? Wir waren nur unglücklich. Wir waren nur zu schnell bereit, einem unwürdigen oder vielleicht auch nur leichtsinnigen Menschen jedes Opfer zu bringen. Es war einmal einer, gleichfalls ein Offizier, wir gewannen ihn lieb und gaben ihm alles; das war schon vor langer Zeit, vor fünf Jahren war’s, er aber vergaß uns, er heiratete eine andere. Jetzt ist er verwitwet, jetzt hat er geschrieben und kommt schon her – und wissen Sie auch, daß wir ihn allein, nur ihn allein die ganze Zeit über geliebt haben, bis auf den heutigen Tag! Er wird herkommen, und Gruschenka wird wieder glücklich sein, doch all diese fünf Jahre lang war sie unglücklich. Und wer kann ihr denn etwas vorwerfen, wer kann sich ihrer Zuneigung rühmen? Nur dieser eine gelähmte Greis, dieser Kaufmann, – aber er war eher unser Vater, unser Freund und Beschützer. Er fand uns damals in der Verzweiflung, in Qualen, verlassen von dem, den wir über alles liebten ... sie wollte sich ja damals ertränken, der Alte hat sie doch gerettet, gerettet!“
„Sie verteidigen mich schon gar zu sehr, mein liebes Fräulein, Sie übertreiben,“ sang wieder Gruschenka.
„Ich verteidige? Wie soll ich darauf kommen, und darf hier überhaupt jemand etwas zu verteidigen wagen? Gruschenka, mein Engel, geben Sie mir Ihr Händchen, ach, sehen Sie doch, Alexei Fedorowitsch, dieses kleine, weiche, reizende Händchen! – Es hat mir Glück gebracht und mich wieder aufgerichtet und dafür werde ich es gleich küssen, so, so und so!“ Und sie küßte dreimal ganz verzückt Gruschenkas wirklich reizendes, vielleicht nur etwas zu volles Händchen. Gruschenka ließ es unter nervösem, doch hellem, reizendem Lachen geschehen: es war ihr augenscheinlich sehr angenehm, daß das „liebe Fräulein“ ihre Hand küßte.
„Vielleicht ist das doch etwas zu viel der Begeisterung,“ fuhr es flüchtig Aljoscha durch den Sinn. Er errötete. Sein Herz war die ganze Zeit so sonderbar unruhig.
„Beschämen Sie mich doch nicht, indem Sie mir so in Alexei Fedorowitschs Gegenwart die Hand küssen.“
„Ja, wollte ich Sie denn damit beschämen?“ fragte Katerina Iwanowna etwas verwundert, „ach, meine Liebe, wie falsch Sie mich verstehen!“
„Und Sie verstehen mich vielleicht auch gar nicht so, liebes Fräulein, ich bin vielleicht viel schlechter, als ich hier vor Ihnen scheine. Im Herzen bin ich schlecht; bin eigensinnig. Den armen Dmitrij Fedorowitsch habe ich damals aus reiner Spottlust gefesselt.“
„Aber jetzt retten Sie ihn doch selbst! Sie haben es mir doch versprochen. Sie werden ihm vernünftig zureden, werden ihm sagen, daß Sie einen anderen lieben, schon lange, und daß er Sie heiraten will ...“
„Ach nein, das habe ich Ihnen nicht versprochen. Sie haben es nur selbst gesagt, ich aber – ich habe Ihnen so etwas gar nicht versprochen.“
„Dann habe ich Sie wohl nicht recht verstanden,“ sagte Katerina Iwanowna etwas leiser und schien ein wenig zu erbleichen, „Sie versprachen ...“
„Ach nein, Sie Engel, davon habe ich nichts versprochen,“ unterbrach Gruschenka sie leise und ruhig, immer mit demselben heiteren, unschuldigen Ausdruck. „Und da sehen Sie jetzt gleich, wertes Fräulein, wie schlecht und eigensinnig ich bin. Wenn ich etwas will, so tue ich es auch. Vorhin habe ich Ihnen vielleicht etwas versprochen, jetzt aber denke ich: Plötzlich gefällt er mir wieder, Mitjä, meine ich, – gefiel er mir doch schon einmal sehr; fast eine ganze Stunde lang gefiel er mir. Und jetzt werde ich vielleicht gehen und ihm sofort sagen, daß er fortan bei mir bleiben soll ... Sehen Sie, wie unbeständig ich bin ...“
„Vorhin sprachen Sie ... ganz anders ...“ murmelte Katerina Iwanowna kaum hörbar.
„Ach, vorhin! Aber mein Herz ist doch zärtlich und dumm. Und wenn man nur bedenkt, was er meinetwegen ertragen hat! Und plötzlich komme ich nach Hause, und es tut mir leid um ihn, – was dann?“
„Ich hatte nicht erwartet ...“
„Ach, Fräulein, wie gut und edel Sie jetzt im Vergleich zu mir erscheinen. Sehen Sie, jetzt werden Sie mich dummes Geschöpf nicht mehr lieben, weil ich solch einen Charakter habe. Geben Sie mir Ihr liebes Händchen, Sie Engel,“ bat sie zärtlich und nahm fast andächtig die Hand Katerina Iwanownas. „Nun, liebes Fräulein, werde auch ich Ihr Händchen nehmen und ebenso küssen, wie Sie meine Hand küßten. Sie küßten dreimal, ich aber müßte sie Ihnen dreihundertmal dafür küssen, um es quittzumachen. Und so mag es denn auch sein; dann aber, wie Gott will, vielleicht werde ich ganz Ihre Sklavin werden und Ihnen alles sklavisch zu Gefallen tun. Wie Gott will, so mag es sein, ohne alle Besprechungen und Versprechungen untereinander. Ihr Händchen, Ihr liebes Händchen, Fräulein, Ihr Händchen! Mein liebes Fräulein, Sie – Sie unglaubliche Schönheit!“
Sie zog wirklich die Hand an ihre Lippen, allerdings mit einer sonderbaren Absicht: um die Küsse zu „quittieren“! Katerina Iwanowna zog ihre Hand nicht fort. Mit scheuer Hoffnung vernahm sie die letzten Worte und das so sonderbar geäußerte Versprechen Gruschenkas, ihr vielleicht alles „sklavisch“ zu Gefallen tun zu wollen. Sie blickte ihr angestrengt in die Augen. Sie sah in diesen Augen immer denselben offenherzigen, zutraulichen Ausdruck, immer dieselbe klare Munterkeit ... „Sie ist vielleicht nur sehr naiv,“ dachte Katerina Iwanowna einen Augenblick mit neuer Hoffnung im Herzen. Gruschenka zog inzwischen langsam die Hand immer höher an ihre Lippen. Doch kurz vor ihren Lippen zögerte sie plötzlich und hielt inne, als ob sie über etwas nachdachte.
„Aber wissen Sie was, Sie Engel,“ sagte sie plötzlich mit der zärtlichsten, süßesten Stimme, „wissen Sie was: Ich werde Ihr Händchen jetzt einfach nicht küssen.“ Und sie lachte ein kleines, heiteres Lachen.
„Wie Sie wollen ... Was sagen Sie?“ fuhr Katerina Iwanowna jäh auf.
„So behalten Sie denn das zur Erinnerung, daß Sie meine Hand geküßt haben, ich aber die Ihre nicht.“ Es blitzte etwas in Gruschenkas Augen. Sie blickte aufmerksam Katerina Iwanowna an.
„Unverschämte!“ stieß plötzlich Katerina Iwanowna hervor, als ob sie mit einemmal etwas begriffen hätte; sie wurde feuerrot und sprang auf. Ohne sich zu beeilen, erhob sich auch Gruschenka.
„So werde ich es denn auch gleich Mitjä erzählen, wie Sie mir dreimal die Hand geküßt haben, ich aber die Ihre überhaupt nicht. Und wie er darüber lachen wird!“
„Hinaus, Sie gemeines Geschöpf, hinaus!“
„Ach, schämen Sie sich, Fräulein, ach, schämen Sie sich, das steht Ihnen wohl gar nicht zu, liebes Fräulein.“
„Hinaus, feile Dirne!“ schrie Katerina Iwanowna. Jeder Nerv zitterte in ihrem verzerrten Gesicht.
„Also schon feil. Sind Sie doch selbst als junges Mädchen in der Dämmerung zu Herren nach Geld gegangen, um Ihre Schönheit zu verkaufen, das weiß ich doch, weiß ich doch!“
Katerina Iwanowna stieß einen kurzen Schrei aus und wollte sich auf sie stürzen, aber Aljoscha gelang es noch, sie mit aller Gewalt zurückzuhalten:
„Kein Wort mehr, keinen Schritt! Sagen Sie nichts, antworten Sie nicht, sie geht ja schon fort, sie wird sogleich fortgehen!“
In dem Augenblick stürzten auf ihren Schrei hin die beiden Tanten in den Saal und nach ihnen das Stubenmädchen. Alle liefen sie zu ihr und umringten sie.
„Ja, ich gehe,“ sagte Gruschenka, die vom Sofa ihren Umwurf nahm. „Aljoscha, mein Lieber, begleite mich!“
„Gehen Sie, gehen Sie doch schneller fort!“ bat Aljoscha flehend.
„Lieber Aljoschenka, begleite mich! Ich werde dir unterwegs ein schönes, schönes Wörtchen sagen! Ich habe ja nur für dich, Aljoschenka, diese Szene gespielt. Begleite mich, Liebling, wirst später damit zufrieden sein.“
Aljoscha wandte sich von ihr ab. Gruschenka lief hell lachend aus dem Hause.
Katerina Iwanowna hatte einen Nervenanfall. Sie schluchzte, konnte nicht atmen, glaubte zu ersticken. Alle bemühten sich um sie.
„Ich habe Sie gewarnt,“ sagte ihr die ältere Tante, „ich habe Sie immer wieder von diesem Schritt abzuhalten versucht ... Sie sind viel zu heißblütig, wie kann man nur als Dame so etwas tun! Sie kennen diese Geschöpfe nicht; von dieser aber sagt man, sie soll die Schlimmste von allen sein ... Nein, Sie sind viel zu eigenwillig!“
„Das ist ja ein Tiger!“ schrie Katerina Iwanowna außer sich. „Warum hielten Sie mich zurück, Alexei Fedorowitsch, ich hätte sie durchgeprügelt, durchgeprügelt!“
Sie hatte nicht die Kraft, sich vor Aljoscha zusammenzunehmen, vielleicht wollte sie es auch nicht einmal.
„Peitschen muß man sie, auf dem Schafott, durch den Henker, öffentlich! ...“
Aljoscha zog sich erschrocken zur Tür zurück.
„Aber, o Gott!“ rief plötzlich Katerina Iwanowna, die Hände ringend. „Er! er hat so unmenschlich sein können, so unmenschlich! Er hat dieser Dirne erzählt, was dort war, damals, an jenem schrecklichen, entsetzlichen, verfluchten, ewig verfluchten Tage! ‚Sind doch Ihre Schönheit verkaufen gegangen, liebes Fräulein!‘ Und sie weiß das! Ihr Bruder ist ein Schuft, Alexei Fedorowitsch!“
Aljoscha wollte etwas sagen, aber er fand kein einziges Wort. Sein Herz krampfte sich zusammen vor Schmerz.
„Gehen Sie fort, Alexei Fedorowitsch! Ich schäme mich, mir ist so furchtbar zumut! Morgen ... ich flehe Sie an, kommen Sie morgen! Verurteilen Sie mich nicht, verzeihen Sie, ich weiß noch nicht, was ich mit mir machen werde.“
Aljoscha trat auf die Straße. Er wankte beinahe. Er wollte gleichfalls weinen wie sie. Da kam ihm das Stubenmädchen nachgelaufen.
„Das gnädige Fräulein hat vergessen, Ihnen diesen Brief von Fräulein Chochlakowa zu übergeben; er lag bei ihr seit dem Mittag.“
Aljoscha nahm ganz mechanisch das kleine rosa Kuvert und steckte es, ohne es selbst zu gewahren, in die Tasche.