XI. Noch ein verlorener Ruf

Das Kloster war nur etwas über eine Werst von der Stadt entfernt. Aljoscha schritt eilig aus auf der zu dieser Stunde ganz einsamen Straße. Die Nacht brach schon an: auf dreißig Schritt konnte man die Gegenstände nur schwer unterscheiden. Ungefähr auf der Hälfte des Weges kam ein Kreuzweg. Dort am Kreuzweg stand an einem einsamen Silberweidenbaum eine Menschengestalt. Kaum hatte Aljoscha den Kreuzweg betreten, als die Gestalt sich vom Baume loslöste, ihm entgegenstürzte und mit grimmig wilder Stimme rief:

„Den Beutel oder das Leben!“

„Ach, das bist du, Mitjä!“ sagte höchst erstaunt Aljoscha, der zuerst doch etwas zusammengefahren war.

„Ha–ha–ha! Das hattest du wohl nicht erwartet? Ich fragte mich: Wo soll ich dich erwarten? Bei ihrem Hause? Von dort aber führen drei Wege hierher, und ich könnte dich verfehlen. Endlich kam ich darauf, hier zu warten, denn hier muß er unbedingt vorübergehen, dachte ich, einen anderen Weg gibt’s nicht zum Kloster. Nun, sag die Wahrheit, schone mich nicht ... Was ist mit dir?“

„Nichts, Mitjä ... ich, nur so, vom Schreck. Ach, Dmitrij! Vorhin – dieses Blut unseres Vaters ...“ Aljoscha schluchzte auf; er hatte schon lange in Tränen ausbrechen wollen, jetzt aber war ihm, als ob etwas in seiner Seele plötzlich zerrisse. „Du hättest ihn beinahe erschlagen ... Du verfluchtest ihn ... und jetzt ... hier ... jetzt scherzest du noch ... Beutel oder Leben!“

„Ach ja, nun – was? Unpassend, nicht? Paßt nicht zu meiner Lage?“

„Ach nein, nicht das ... ich war nur so ...“

„Wart, bleib stehn. Sieh die Nacht, sieh, wie dunkel die Nacht ist, die Wolken, sieh, wie dunkel, und welch ein Wind sich erhoben hat! Ich hatte mich hier unter der Weide versteckt, erwartete dich, und plötzlich ein Gedanke (bei Gott!): Wozu sich denn noch weiter plagen, worauf noch warten? Hier ist eine Weide, ein Taschentuch hast du, ein Hemd hast du, eine Schlinge läßt sich im Augenblick zusammendrehen, kannst sie noch obendrein anfeuchten und – nicht mehr die Erde belasten, sie nicht mehr durch dein niedriges Leben entehren! Da höre ich, ein Mensch kommt – du! Herrgott, es war ganz, als ob plötzlich etwas zu mir niederfliege: also gibt es doch noch einen Menschen, den auch ich liebe, da kommt, da ist er, dieser Mensch, mein liebstes, kleines Brüderchen, das ich am meisten auf der Welt liebe, das einzige, was ich wirklich so, so lieb habe! Ja: so lieb warst du mir plötzlich, ich liebte dich so in diesem Augenblick, daß ich dachte: Werfe mich sofort an seinen Hals und küsse ihn! Da kam aber dieser dumme Gedanke: Werde einen Scherz machen, ihn erschrecken. Und da schrie ich denn wie ein alter Esel: ‚Den Beutel oder das Leben‘! Verzeih die Narrheit – das ist doch nur Unsinn, in der Seele ist es auch bei mir – ... anständig ... Nun aber, zum Teufel damit, sag, wie es dort war? Was sagte sie? Schlag mich nieder, zermalme mich, brauchst mich nicht zu schonen! Sie geriet wohl außer sich?“

„Nein, nicht das ... Es war dort ganz anders, Mitjä. Dort ... Ich traf sie beide zusammen an.“

„Wen denn, was für beide?“

„Gruschenka war bei Katerina Iwanowna.“

Dmitrij Fedorowitsch erstarrte.

„Unmöglich!“ stieß er hervor, „du phantasierst! Gruschenka bei ihr?“

Aljoscha erzählte ihm alles, was er von dem Augenblick an, da er bei Katerina Iwanowna eingetreten war, gesehen und gehört hatte. Er erzählte zehn Minuten lang, allerdings nicht gleichmäßig und zusammenhängend, aber er verstand es, alles klar darzustellen; er hob die bedeutungsvollen Worte hervor, die wichtigsten Bewegungen, und gab häufig nur durch eine kurze Bemerkung deutlich seine eigenen Gefühle wieder. Dmitrij hörte schweigend zu, blickte starr mit einer sonderbaren Unbeweglichkeit vor sich hin, doch Aljoscha sah, daß er schon alles begriffen hatte und den ganzen Zusammenhang verstand. Sein Gesicht wurde, je mehr die Erzählung verrückte, nicht etwa nur finster, nein, drohend. Er hatte die Stirn gerunzelt, preßte die Zähne zusammen; sein unbeweglicher Blick wurde gleichsam noch unbeweglicher, starrer, furchtbarer ... Um so unerwarteter war es, als sich plötzlich mit unglaublicher Hastigkeit sein ganzes Gesicht, das bis dahin zornig und wild gewesen war, veränderte; die zusammengepreßten Lippen öffneten sich, und Dmitrij Fedorowitsch lachte das allerunbezwingbarste, natürlichste Lachen. Er schüttelte sich buchstäblich vor Lachen; lange Zeit konnte er überhaupt nicht sprechen vor Lachen.

„Und hat die Hand auch richtig nicht geküßt! Nicht geküßt, und ist so fortgelaufen!“ rief er in geradezu krankhaftem Entzücken, – in schamlosem Entzücken könnte man vielleicht sagen, wenn dieses Entzücken nicht so ungekünstelt gewesen wäre. „Also sie schrie, sie sei ein Tiger! Das ist sie ja auch, ein Tiger! Also aufs Schafott soll man sie bringen? Ja, ja, das müßte man, das muß man, das ist auch meine Meinung, daß man es tun muß, schon lange müßte man’s! Siehst du, Bruder, meinetwegen aufs Schafott, aber vorher muß man noch geheilt werden. O, ich erkenne die Königin der Unverschämtheit, hierin ist sie ganz enthalten, ganz, in diesem Händchen hat sie sich ganz ausgesprochen, hierin liegt das ganze infernale Weib. Das ist die Königin aller infernalen Weiber, die man sich in der Welt nur denken kann! In seiner Art kann’s einen wirklich entzücken! Also sie lief nach Haus? Ich wollte schon ... Ach, dann werde ich ... schnell zu ihr eilen! Aljoschka, sei mir nicht böse, ich gebe ja vollkommen zu, daß es zu wenig wäre, sie zu erdrosseln ...“

„Aber Katerina Iwanowna?“ fragte Aljoschka traurig.

„Auch die durchschaue ich, ganz und gar durchschaue ich sie jetzt, wie noch nie zuvor! Das ist eine wahre Entdeckung aller vier Erdteile, aller fünf! Solch ein Schritt! Das ist gerade diese selbe Katjenka, das Pensionsmädel, das mit dem hochherzigen Entschluß, den Vater zu retten, sich nicht fürchtete, zu einem dummen rohen Offizier in der Dämmerung zu laufen, wobei sie riskierte, so unsagbar beleidigt zu werden! Doch unser Stolz! das Bedürfnis zu wagen! das Schicksal herauszufordern! diese Herausforderung ins Unermeßliche! Du sagst, die Tante hat sie aufgehalten? Diese Tante, weißt du, ist selbst eine eigenmächtige Person, ist doch die leibliche Schwester jener moskauschen Generalin; sie hat früher die Nase noch höher getragen als Katjä, aber da wurde ihr Mann wegen Bestehlung der Kronkasse verurteilt, verlor alles, verlor sein ganzes Hab und Gut – und seine stolze Frau Gemahlin senkte darauf etwas den Ton, hat ihn auch seit der Zeit nicht wieder erhoben. Also sie hat Katjä zurückgehalten, und die hat natürlich nicht auf sie gehört. ‚Kann alles besiegen,‘ denkt sie, ‚alles ist mir untertan; wenn ich will, bezaubere ich auch Gruschenka,‘ und – hat sich natürlich selbst geglaubt, hat sich selbst aufgestachelt, wer ist denn jetzt daran schuld? Du glaubst, sie hat mit Absicht als erste das Händchen der anderen geküßt, Gruschenkas Hand, aus schlauer Berechnung? Nein, sie hatte sich wirklich, wirklich in Gruschenka verliebt, das heißt, nicht in Gruschenka, sondern in ihre eigene Idee, in ihre Phantasie, darum, siehst du, weil das, sozusagen, ihre Idee war, ihre eigene Phantasie. Liebling, Aljoscha, wie bist du nur von ihnen losgekommen, wie hast du dich gerettet? Bist wohl einfach fortgelaufen, mit aufgenommenen Rockschößen? Ha–ha–ha!“

„Dmitrij, es ist dir, glaub ich, nicht einmal aufgefallen, wie beleidigend das für Katerina Iwanowna ist, daß du Gruschenka von jenem Tage erzählt hast? so daß die ihr jetzt ins Gesicht hat schleudern können: ‚Sie sind doch selbst zu Herren Ihre Schönheit verkaufen gegangen!‘ Bruder, gibt es denn überhaupt noch eine größere Beleidigung als diese?“

Am meisten quälte Aljoscha der Gedanke, daß sein Bruder sich gleichsam über Katerina Iwanownas Erniedrigung zu freuen schien, obgleich das natürlich ganz ausgeschlossen war.

„Ach, Teufel!“ Dmitrij Fedorowitschs Gesicht verfinsterte sich plötzlich unheimlich, und er schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Erst jetzt verfiel er darauf, obgleich Aljoscha alles erzählt, nichts verschwiegen hatte, auch Katerina Iwanownas Schrei nicht: „Ihr Bruder ist ein Schuft!“ – „Ja, wirklich, es kann sein, daß ich Gruschenka von jenem ‚verhängnisvollen Tage‘, wie Katjä sagt, erzählt habe. Ja, richtig, ich hab’s ihr erzählt, ich weiß, ich weiß! Das war damals in Mokroje, ich war betrunken, die Zigeunerinnen sangen ... Aber ich schluchzte doch, ich schluchzte doch selbst, ich lag auf den Knien, ich betete zu Katjä, und Gruschenka begriff das doch. Sie begriff damals alles, ich weiß noch, sie weinte selbst ... Äh, Teufel! und konnte es denn jetzt anders sein? Damals weinte sie, jetzt aber ... Jetzt ‚den Dolch ins Herz‘! So sind die Weiber!“

Er verstummte und dachte nach.

„Ja, ich bin ein Schuft! Das steht nun fest!“ sprach er plötzlich mit düsterer Stimme vor sich hin. „Einerlei, geweint oder nicht geweint! Kannst dort melden, daß ich die Bezeichnung annehme, – wenn das zu trösten vermag. Und nun genug, leb wohl, wozu so viel schwatzen!! Heiteres gibt es nicht. Du gehst deinen Weg, ich den meinen. Und ich will dich auch nicht mehr sehn, bis zu irgendeiner letzten Minute. Leb wohl, Alexei!“ Er drückte Aljoscha fest die Hand und ging, immer noch mit gesenktem Kopf, als ob er sich losgerissen hätte, mit schnellen Schritten in die Stadt zurück. Aljoscha blickte ihm nach; er glaubte noch nicht, daß er wirklich fortging.

„Wart, Alexei, noch ein Bekenntnis! Dir allein werde ich es sagen!“ rief plötzlich Dmitrij Fedorowitsch und kehrte zurück: „Sieh mich an, sieh mich aufmerksam an, sieh hier, hier – bereitet sich eine furchtbare Ehrlosigkeit vor.“ (Als er dieses „sieh hier“ sagte, schlug er sich in einer so sonderbaren Weise mit der Faust auf die Brust, als ob diese Unehre gerade auf seiner Brust läge oder dort sich verberge, auf einem bestimmten Fleck, in einer Tasche vielleicht, oder in etwas eingenäht am Halse hinge.) „Du kennst mich nun schon: Ich bin ein Schuft, ein erklärter Schuft! Doch wisse, was ich auch getan habe, früher, jetzt, oder noch später tun werde, – nichts, nichts kann sich in der Gemeinheit mit dieser Ehrlosigkeit vergleichen, die ich gerade jetzt, gerade in diesem Augenblick hier, hier auf meiner Brust trage, gerade hier, sieh hier, – die schon geschieht und sich vollzieht, und die aufzuhalten vollkommen in meiner Macht liegt, merk dir das, ich kann sie aufhalten oder ausführen! Nun, so wisse denn, daß ich sie ausführen und nicht aufhalten werde. Heute in der Laube erzählte ich dir alles: nur das eine erzählte ich dir nicht, denn selbst ich hatte keine genügend eherne Stirn dazu! Ich kann noch stehen bleiben; wenn ich stehen bleibe, kann ich noch morgen die ganze Hälfte der verlorenen Ehre wiedergewinnen, aber ich werde nicht stehen bleiben, ich werde das gemeine Vorhaben ausführen, und so sei du hinfort Zeuge, daß ich im voraus und wissentlich sage: Verderben und Finsternis! Zu erklären ist nichts, wirst es schon zur rechten Zeit erfahren. Stinkende Winkelgasse und ein infernales Weib! Leb wohl. Bete nicht für mich, bin’s nicht wert, und es ist auch gar nicht nötig, nicht nötig ... bedarf dessen überhaupt nicht! Fort! ...“

Und er entfernte sich plötzlich, diesmal aber kehrte er nicht mehr zurück. Aljoscha ging zum Kloster.

„Wie, wie werde ich ihn denn nie mehr wiedersehen? was sagte er?“ fragte er sich, und es schien ihm undenkbar, daß er ihn nicht mehr wiedersehen werde. „Morgen noch muß ich ihn unbedingt zu sehen versuchen, ich werde ihn schon finden, werde ihn unbedingt aufsuchen! Was wollte er nur damit sagen? Was meinte er? ...“

Er ging von außen um das Kloster herum und dann durch den Kiefernwald geradeswegs zur Einsiedelei. Ihm wurde bald aufgemacht, obgleich man dort sonst zu so später Stunde niemanden mehr einzulassen pflegte. Sein Herz zitterte, als er in die Zelle des Staretz trat: – Warum, warum nur war er fortgegangen, warum hatte ihn jener ‚in die Welt‘ geschickt? Hier war Ruhe, hier war das Heil, dort aber – war Unruhe, dort war Finsternis, in der man sich sofort verirrte und verlor ... –

In der Zelle befanden sich der Novize Porfirij und der Priestermönch Paissij, der den ganzen Tag in jeder Stunde einmal kam, um sich nach dem Befinden des Staretz zu erkundigen, mit dem es, wie Aljoscha mit Schrecken hörte, immer schlechter wurde. Sogar die übliche allabendliche Unterweisung der Brüderschaft hatte diesmal nicht stattfinden können. Gewöhnlich versammelte sich des Abends nach dem Gottesdienst die Brüderschaft des Klosters noch vor dem Schlafengehen in der Zelle des Staretz, und ein jeder beichtete ihm dann laut seine Vergehen, seine sündigen Gedanken und Träume, die er am Tage gehabt, Versuchungen und sogar Streitigkeiten mit den anderen, falls solche vorgekommen waren. Viele beichteten kniend. Der Staretz erließ die Sünden, versöhnte, unterwies und belehrte, legte Bußen auf, segnete und entließ. Gegen diese „Beichte“ der Brüderschaft erhoben sich aber die Gegner der Startzen; sie sagten, das sei eine Profanation der Beichte als Sakrament, obgleich es in diesem Falle doch etwas ganz anderes war. Man machte die geistliche Obrigkeit sogar darauf aufmerksam, daß solch ein Beichten nicht nur zu nichts führe, sondern tatsächlich und mit Fleiß in Sünde und Versuchung bringe und Anstoß gäbe. Man sagte, vielen Brüdern sei dieses Beichten lästig, doch wollten sie sich nicht absondern und kämen nur zu dem Staretz, damit man sie nicht böser Gedanken verdächtige und für stolz hielte. Man erzählte sich sogar, daß einzelne aus der Brüderschaft auf dem Wege zum Staretz unter sich abmachten: „Ich werde sagen, daß ich mich heute morgen über dich geärgert habe, und du bestätige es,“ – damit man etwas zu beichten hätte und auf diese Weise loskäme. Aljoscha wußte, daß das wirklich zuweilen vorkam. Auch wußte er, daß es unter der Brüderschaft einige Mönche gab, die darüber sehr ungehalten waren, daß sogar die Briefe, die die Einsiedler von ihren Verwandten erhielten, zuerst zum Staretz gebracht wurden, der sie dann erbrach und noch vor dem betreffenden Adressaten las. Es wurde natürlich vorausgesetzt, daß alles freiwillig und aufrichtig geschah, von Herzen kam, aus freier Ergebung und um der Erlösung willen – doch in Wirklichkeit geschah es gar manches Mal sehr wenig von Herzen, im Gegenteil, sogar mit Falschheit und erheuchelter Demut. Doch die Älteren und Erfahreneren der Brüderschaft bestanden darauf, da sie der Meinung waren: „Wer aufrichtig in diese Mauern eingetreten ist, um hier seine Erlösung zu finden, für den wird das alles nur Heil bringen und von großem Nutzen sein; wem aber das lästig ist, und wer darüber murrt, der ist überhaupt kein Mönch und ganz umsonst ins Kloster gekommen – der gehört in die Welt. Vor der Sünde und dem Teufel kann man sich nicht nur in der Welt, sondern selbst im Gotteshause nicht schützen – folglich braucht man mit der Sünde nicht Nachsicht zu haben.“

„Er ist sehr erschöpft, jetzt ist er eingeschlafen,“ flüsterte Pater Paissij Aljoscha zu, nachdem er ihn gesegnet hatte. „Man kann ihn nur schwer aufwecken; aber man braucht ihn ja auch nicht zu wecken. Vor fünf Minuten erwachte er von selbst, bat, der Brüderschaft seinen Segen zu überbringen, und ließ sie bitten, für ihn Nachtgebete zu sprechen. Am Morgen will er noch einmal das heilige Abendmahl nehmen. Er gedachte deiner, Alexei, fragte, ob du fortgegangen seiest, und man sagte ihm, daß du in der Stadt wärest. ‚Dazu habe ich ihm meinen Segen gegeben: dort ist sein Platz vorläufig, nicht hier,‘ – also sprach er von dir. Liebend gedachte er deiner, mit sichtlicher Sorge; erkennst du auch, wessen du gewürdigt worden bist? Warum hat er dir das nur bestimmt, eine Zeitlang draußen in der Welt zu bleiben? Er sieht wohl etwas voraus in deinem Schicksal! Behalte aber, Alexei, wenn du nun auch in die Welt zurückkehrst, daß es doch nur eine von deinem Staretz dir auferlegte Buße ist, und daß du es nicht zu eitlem Leichtsinn und zu weltlicher Freude tun sollst ...“

Pater Paissij ging hinaus. Aljoscha wußte jetzt, daß die Todesstunde des Staretz nicht mehr fern war, wenn er auch noch einen oder zwei Tage leben konnte. Und so beschloß er sofort, am nächsten Tage, trotz der Versprechen, die er seinem Vater, Chochlakoffs, seinem Bruder Iwan und Katerina Iwanowna gegeben hatte, überhaupt nicht aus dem Kloster zu gehen, um bei seinem Staretz bis zu dessen Tode bleiben zu können. Sein Herz erglühte in Liebe zu ihm, und er machte sich bittere Vorwürfe, daß er in der Stadt einen Augenblick ganz hatte vergessen können, wer hier im Kloster auf dem Sterbebett lag – der Mensch, den er vor allen am meisten verehrte und am höchsten achtete. Er ging leise in die kleine Schlafzelle des Staretz, kniete dort nieder und verneigte sich vor dem Schlafenden bis zur Erde. Der schlief still und ruhig; gleichmäßig und fast unmerklich atmete er; sein Antlitz war gleichfalls ruhig.

Aljoscha kehrte in das vordere Zimmer zurück – in dasselbe, in dem der Staretz am Morgen den Besuch empfangen hatte –, zog seine Stiefel aus und legte sich fast ganz angekleidet auf das kleine, schmale Ledersofa, auf dem er schon seit langer Zeit in jeder Nacht schlief, nur legte er sich noch sein Kopfkissen unter. Das Federbett aber, das sein Vater ihm befohlen hatte, nach Haus mitzunehmen, brauchte er schon seit langer Zeit nicht mehr. Er nahm nur seine Kutte ab und bedeckte sich mit ihr an Stelle einer Bettdecke. Doch vorher kniete er jedesmal nieder und betete lange. In seinem heißen Gebet bat er Gott nicht etwa, ihm seine Verwirrung zu erklären, nein, er sehnte sich nur nach der freudigen Rührung, der früheren Rührung, die immer seine Seele so erfreut hatte, nach der Preisung Gottes, aus der gewöhnlich sein ganzes Abendgebet bestand. Diese Freude, die ihn dann überkam, brachte ihm einen leichten und ruhigen Schlaf. Als er jetzt wieder betete, berührte er plötzlich ganz aus Versehen den kleinen, harten Brief in seiner Tasche, den ihm Katerina Iwanownas Stubenmädchen auf der Straße übergeben hatte. Es verwirrte ihn zwar ein wenig, doch betete er ruhig zu Ende; darauf – nach einigem Schwanken – erbrach er das Kuvert: in ihm lag ein Brief an ihn, unterschrieben „Lise“. Es war dieselbe junge Tochter der Frau Chochlakoff, die am Morgen beim Staretz so sehr über Aljoscha gelacht hatte.

„Alexei Fedorowitsch,“ schrieb sie, „ich schreibe Ihnen ganz heimlich, niemand weiß es, auch Mama nicht, und ich weiß selbst, daß es nicht gut ist. Aber ich kann nicht mehr leben, wenn ich Ihnen nicht das sage, was in meinem Herzen aufgestiegen ist, das aber darf niemand außer uns beiden bis zur rechten Zeit erfahren. Doch wie soll ich Ihnen nur das sagen, was ich Ihnen so gern sagen will? Das Papier, sagt man, nicht, und ich weiß selbst, daß es nicht richtig ist. Aber und daß es ganz ebenso errötet, wie ich jetzt über und über erröte. Lieber Aljoscha, ich liebe Sie, liebe Sie schon von Kindheit an, schon seit Moskau, als Sie noch gar nicht so waren wie jetzt, und ich liebe Sie fürs ganze Leben. Natürlich mit der Bedingung, daß Sie das Kloster verlassen. Was unser Alter anbetrifft, so werden wir so lange warten, wie es das Gesetz verlangt; bis dahin werde ich bestimmt, unbedingt gesund sein, werde gehen und tanzen können. Darüber lohnt sich kein Wort zu verlieren.

Sehen Sie, wie ich alles bedacht habe; nur eines kann ich mir nicht vorstellen: was Sie von mir denken werden, wenn Sie das lesen? Ich lache immer und bin unartig, und heute noch habe ich Sie geärgert; aber ich versichere Ihnen, ich habe, bevor ich zu schreiben begann, vor der Mutter Gottes gebetet, und auch jetzt bete ich und weine beinahe.

Mein Geheimnis ist jetzt in Ihren Händen; ich weiß nicht, wie ich Sie morgen, wenn Sie zu uns kommen, ansehen soll. Ach, Alexei Fedorowitsch, was dann, wenn ich mich wieder nicht beherrschen kann und wie ein albernes Geschöpf bei Ihrem Anblick abermals zu lachen anfange? Sie werden mich dann doch für eine schändliche Spötterin halten und meinem Brief gar keinen Glauben schenken, und darum flehe ich Sie an, Lieber, falls Sie nur etwas Mitleid mit mir haben: wenn Sie morgen eintreten, so sehen Sie mir nicht gar zu offen in die Augen, weil ich, wenn ich Sie sehe, vielleicht unbedingt plötzlich zu lachen anfangen werde. Zudem werden Sie noch immer in diesem langen Kittel stecken ... Sogar jetzt läuft es mir kalt über den Rücken, wenn ich daran denke; darum aber sehen Sie mich, wenn Sie hereinkommen, einige Zeit überhaupt nicht an; sehen Sie auf Mama oder zum Fenster hinaus ...

Da habe ich Ihnen jetzt einen Liebesbrief geschrieben; mein Gott, was habe ich getan! Aljoscha, verachten Sie mich nicht, und wenn es etwas sehr Schlechtes ist und ich Sie betrübt habe, so verzeihen Sie mir. Jetzt ist das Geheimnis meines vielleicht auf ewig verlorenen guten Rufes in Ihren Händen.

„Ich werde heute unbedingt weinen. Auf Wiedersehen! Bis zu diesem schrecklichen Wiedersehen! Lise.

P. S. Aljoscha, nur kommen Sie unbedingt, unbedingt, unbedingt! Lise.“

Aljoscha las in großer Verwunderung, las zweimal, dachte dann nach, und plötzlich lachte er leise und herzlich auf. Doch schon fuhr er zusammen, selbst dieses Lachen schien ihm sündhaft. Aber nach einem Augenblick lachte er von neuem vor sich hin, ebenso still und ebenso glücklich. Langsam schob er den Brief wieder in das kleine, rosa Kuvert, bekreuzte sich dann und legte sich schlafen. Die Unruhe seiner Seele war vergangen. „Herrgott, erbarme dich ihrer aller, beschütze die Unglücklichen, die im Sturm kämpfen, und lenke Du sie. Die Wege sind in deiner Hand; wäge Du und lenke ihre Wege zum Besten, und errette sie. Du bist die Liebe, Du wirst allen auch Freude senden!“ flüsterte Aljoscha sich bekreuzend und sank in sanften Schlaf.

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