Als Aljoscha den Befehl seines Vaters, mit allen Kissen und Federbetten das Kloster zu verlassen, vernommen hatte, blieb er in nicht geringer Verwunderung zurück. Ich will damit nicht sagen, daß er etwa wie ein Pfosten stehen blieb, nein, er ging sogar noch in die Küche des Priors, um dort zu erfahren, was sein Vater oben angestiftet hatte. Dann erst machte er sich auf den Weg, in der Hoffnung, unterwegs mit sich über alles ihn Quälende ins reine zu kommen. Der Befehl seines Vaters, mit „Kissen und Federbetten nach Hause zu kommen“, schreckte ihn nicht im geringsten. Er begriff nur zu gut, daß dieser Befehl, der ihm so laut zugerufen worden war, nur „in der Hitze“ gegeben sein konnte, sozusagen zur Verschönerung, – etwa in der Art, wie vor kurzem ein Kleinbürger an seinem Namenstage aus Wut darüber, daß man ihm nicht mehr Schnaps gegeben, in Gegenwart der Gäste plötzlich seine eigenen Teller und Schüssel zerschlagen, seine, wie seines Weibes Kleider zerrissen, die eigenen Möbel zertrümmert und die Fensterscheiben eingeschlagen hatte. Am nächsten Tage bedauerte natürlich der nüchtern gewordene Kleinbürger seine zerschlagenen Tassen und Teller ... Aljoscha wußte, daß auch sein Vater ihn am nächsten Tage wieder zurück ins Kloster gehen lassen werde oder vielleicht schon nach wenigen Stunden. War er doch überzeugt, daß der Vater nicht ihn, sondern einen anderen hatte kränken wollen. Aljoscha war sogar fest überzeugt, daß niemand in der Welt ihn jemals würde beleidigen wollen, und es auch nicht könne. Das war für ihn ein Axiom, das er ohne Bedenken angenommen hatte, und so machte er sich denn in dieser Hinsicht ohne die geringste Sorge auf den Weg.
Doch in diesem Augenblick quälte ihn eine ganz andere Angst, die um so quälender war, als er sie sich nicht recht erklären konnte: Es war die Angst vor einem Weibe, und zwar gerade vor Katerina Iwanowna, die ihn in dem von Lisa Chochlakoff überbrachten Brief so inständig zu ihr zu kommen bat, nicht nur bat, sondern verlangte. Dieser Brief nun und die Notwendigkeit, zu ihr zu gehen, hatten sofort ein quälendes Gefühl in seinem Herzen hervorgerufen; und den ganzen Morgen, je mehr die Zeit vorrückte, desto heftiger quälte ihn dieses Gefühl, trotz aller darauffolgenden Szenen in der Zelle des Staretz, wie auch später bei der Abfahrt des Vaters. Nicht die Ungewißheit, wovon sie mit ihm sprechen werde, und was er ihr antworten sollte, ängstigte ihn; auch nicht das Weib überhaupt fürchtete er in ihr: O, Frauen kannte er natürlich wenig, immerhin hatte er von Kindesbeinen an bis zum Eintritt ins Kloster nur bei Frauen gelebt. Er fürchtete gerade Katerina Iwanowna. Er fürchtete sie bereits seit dem Augenblick, da er zum erstenmal bei ihr gewesen war. Nun kam aber noch das hinzu, daß er sie im ganzen nur zwei, oder genau genommen, dreimal gesehen und nur einmal, wenn auch ganz zufällig, ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte. Er erinnerte sich ihrer als eines schönen, stolzen, gebieterischen Mädchens. Doch nicht ihre Schönheit verwirrte ihn, sondern etwas ganz anderes. Und gerade die Unerklärlichkeit seiner Angst verstärkte diese in ihm noch. Daß die Absichten des jungen Mädchens edel waren, wußte er: Sie wollte seinen Bruder Dmitrij, der sich ihr gegenüber schon vergangen hatte, retten, und zwar wollte sie das nur aus Hochherzigkeit. Doch trotz dieser Erkenntnis und aller Gerechtigkeit, die er diesen guten und edlen Gefühlen unbedingt widerfahren lassen mußte, lief ein Frösteln über seinen Rücken, als es ihm einfiel, daß er schon bald bei ihr sein werde.
Er überlegte hin und her und sagte sich, daß er seinen Bruder Iwan Fedorowitsch, der ihr so nahe stand, nicht bei ihr antreffen werde: Iwan war jetzt bestimmt bei seinem Vater. Dmitrij dagegen würde er ganz sicher nicht antreffen, und er ahnte es, warum nicht. Also würde ihr Gespräch unter vier Augen stattfinden. Er wäre aber doch so gern noch vor diesem schrecklichen Gespräch zu seinem Bruder Dmitrij gegangen. Ohne den Brief zu zeigen, hätte er mit ihm über einiges sprechen können. Doch Dmitrij wohnte weit ab und war jetzt bestimmt nicht zu Hause. Aljoscha blieb einen Augenblick stehen, dann aber entschloß er sich. Er schlug hastig ein Kreuz, wie er es immer zu tun pflegte, und ein flüchtiges Lächeln erschien auf seinen Lippen; dann ging er mit festen Schritten weiter zu der gefürchteten Dame.
Er wußte, wo sie wohnte. Doch wenn er durch die Große Straße, über den Platz usw. gegangen wäre, so wäre es ein sehr weiter Weg gewesen. Unser kleines Städtchen ist nämlich sehr zerstreut gebaut, zwischen den Häusern ziehen sich oft große Gärten hin, und so sind denn auch die Entfernungen nicht gering. Zudem erwartete ihn doch der Vater, der vielleicht seinen Befehl noch nicht vergessen hatte, infolgedessen aber, wenn Aljoscha nun nicht sofort zu ihm kam, leicht gereizt und eigensinnig werden konnte! Darum mußte sich Aljoscha sehr beeilen. Diese letzte Erwägung brachte ihn auf den Gedanken, den Weg abzukürzen, nämlich durch die Hinterstraßen zu gehen, die er schon wie seine fünf Finger kannte. Dieses „durch die Hinterstraßen“ bedeutete aber fast ohne Straßen gehen, längs einsamer Gemüsegärten und zuweilen selbst unter Hindernissen, da es über kleinere Zäune klettern oder durch fremde Höfe gehen hieß, wo ihn übrigens ein jeder kannte und freundlich grüßte. Auf diese Weise kürzte er den Weg bis zur Großen Straße um die Hälfte. Hier kam er an einer Stelle sogar sehr nahe am väterlichen Hause vorüber, da er längs dem Nachbargarten, der zu einem alten, kleinen, schiefen Häuschen mit vier Fenstern gehörte, gehen mußte. Die Besitzerin dieses Häuschens war, wie Aljoscha wußte, eine städtische Kleinbürgerin, eine halbgelähmte Greisin; sie lebte hier mit ihrer Tochter, einer bereits zivilisierten Kammerzofe, die in der Großstadt bei Generälen gedient hatte, jetzt aber schon seit einem Jahre bei der alten Mutter sich aufhielt und in aufgeputzten Kleidern einherstolzierte. Mutter und Tochter waren nun sehr verarmt, und so gingen sie denn als Nachbarn täglich in die karamasoffsche Küche, wo sie Suppe und Brot bekamen. Marfa Ignatjewna gab es ihnen gern. Und die Tochter kam wohl zum Essen holen, verkaufte aber kein einziges ihrer teuren Kleider, von denen eines sogar eine riesenlange Schleppe haben sollte. Dieses letztere hatte Aljoscha ganz zufällig von seinem Freunde Rakitin gehört, dem wirklich alles in der Stadt bekannt war, und hatte es, nachdem er es gehört, natürlich sofort wieder vergessen. Doch als er jetzt am Garten dieser Nachbarin vorüberging, fiel ihm plötzlich wieder die Schleppe ein; er erhob seinen nachdenklich gesenkten Kopf und ... hatte eine ganz unerwartete Begegnung.
Hinter dem Zaun stand, auf irgend etwas hinaufgestiegen, bis zur Brust über dem Zaunrand, sein Bruder Dmitrij Fedorowitsch, der ihm mit den Armen aus allen Kräften irgendwelche Zeichen machte, ihn augenscheinlich heranwinkte, doch wie es schien, nicht nur zu rufen, sondern auch nur ein Wort laut zu sprechen sich fürchtete. Aljoscha ging schnell zum Zaun.
„Gut, daß du selbst aufblicktest, sonst hätte ich dich womöglich noch anrufen müssen,“ flüsterte ihm hastig und erfreut Dmitrij Fedorowitsch zu. „Spring rüber! Schnell! Ach, wirklich großartig, daß du gekommen bist. Ich habe die ganze Zeit nur an dich gedacht ...“
Aljoscha war gleichfalls erfreut, nur wußte er nicht, wie er es anstellen sollte, über den Zaun zu kommen. Doch Mitjäs Reckenhand ergriff schon seinen Ellenbogen, um beim kühnen Sprung zu helfen. Aljoscha nahm seine Kutte auf und sprang mit der Gewandtheit eines barfüßigen Straßenbengels über den Zaun.
„So, famos, gehen wir!“ stieß Mitjä leise entzückt hervor.
„Wohin?“ fragte gleichfalls leise Aljoscha, der sich nach allen Seiten umblickte und sich in einem völlig verlassenen Garten sah, in dem außer ihnen niemand zu sehen war. Der Garten war klein, doch immerhin war das Häuschen mehr als fünfzig Schritt von ihnen entfernt. „Aber hier ist doch kein Mensch, warum flüsterst du?“
„Warum ich flüstere? Ach, ja, Teufel noch eins!“ rief plötzlich Dmitrij Fedorowitsch mit voller, lauter Stimme: „Ja, warum flüsterte ich nur? Da siehst du’s selbst, wie dumm man zuweilen ist. Ich bin heimlich hergekommen und bewache ein Geheimnis. Die Erklärung wird gleich folgen. Da nun hierbei so viel Geheimnis war, fing ich auch geheimnisvoll, wollte sagen, nur ganz leise zu sprechen an und flüsterte wie ein Esel, während das doch gar nicht nötig ist. Gehen wir! Siehst du, dorthin! Bis dahin sei still. Ach, küssen will ich dich!
Heil dem Höchsten in der Welt,
Heil dem Höchsten auch in mir ...
Das habe ich vorhin die ganze Zeit hier auf der Bank wiederholt, bevor du kamst ...“
Der Garten war ziemlich groß und nur ringsum am Zaun mit Bäumen bepflanzt, mit Apfelbäumen, Ahorn, Linden und Birken. In der Mitte des Gartens war ein freier, grüner Platz, eine Wiese, von der im Sommer einige Pud Heu geerntet wurden. Vom Frühling bis zum Herbst wurde dieser Garten von der Besitzerin für ein paar Rubel vermietet. Es waren dort auch einige Beete mit verschiedenen Sträuchern: Stachelbeeren, Johannisbeeren und Himbeerstauden, doch zogen die sich gleichfalls längs des Zaunes hin, und beim Hause waren dann noch ein paar Gemüsebeete. Dmitrij Fedorowitsch führte seinen Bruder in die vom Hause entfernteste Ecke des Gartens. Dort bemerkte Aljoscha plötzlich zwischen alten Linden, dichtem Holundergebüsch und spanischem Flieder eine uralte, schiefe Laube, unter deren Bretterdach, das nicht mehr grün, sondern schon schwarz war, man immerhin noch vor dem Regen hätte Schutz finden können. Diese Laube war, Gott weiß wann, vielleicht vor fünfzig Jahren gebaut worden, von dem früheren Besitzer des Häuschens, Alexander Karlowitsch von Schmidt, einem Oberstleutnant a. D., wie man sich erzählte. Doch alles war schon verfault: Die Bohlen wackelten, und es roch nach feuchtem Holz. In der Mitte stand auf eingerammtem Pfosten ein noch etwas grüner Tisch, um den auf gleichfalls eingerammten Pflöcken drei Bänke standen. Aljoscha war sofort die gehobene Stimmung seines Bruders aufgefallen – als sie jetzt in die Laube traten, bemerkte er auf dem Tisch eine halbe Flasche Kognak und ein Gläschen.
„Ja, das ist Kognak!“ sagte Mitjä lachend, „du aber fragst dich schon: ‚Sollte er wieder trinken?‘ Glaube nicht dem Phantom.
Glaube nicht der stumpfen Masse,
Oh, vergiß die Zweifel alle ... usw.
Ich trinke nicht, ich ‚nasche‘ bloß, wie dein Freund, das Schwein Rakitin, sagt, der angehende Staatsrat. Setze dich. Aljoscha, ich würde dich jetzt am liebsten einfach so nehmen und an mein Herz pressen, aus allen Kräften würde ich dich an mich drücken, denn ... im Grunde – begreifst du das? – im Grunde – behalte das! – liebe ich auf der ganzen Welt nur dich allein!“
Er sprach die letzten Worte fast wie in einem Rausch, wie in Verzückung.
„Nur dich allein und dann noch eine ‚Niederträchtige‘, in die ich mich verliebt habe, und durch die ich verloren bin. Doch sich verlieben, heißt nicht lieben. Sich in jemanden verlieben kann man auch, wenn man ihn haßt. Behalte das! Jetzt spreche ich vorläufig noch mit heiterer Miene! Setze dich dorthin, hinter den Tisch. Ich werde mich hierher neben dich setzen, dich betrachten und die ganze Zeit sprechen. Du sollst schweigen, ich aber werde alles erzählen, denn jetzt ist es Zeit dazu. Aber, weißt du, ich glaube, es ist doch besser, wenn wir leise sprechen, denn hier ... hier ... können überall die unerwartetsten Ohren horchen. Ich werde alles erklären. Wie gesagt: Erklärung folgt. Warum nur sehnte ich mich nach dir, warum nur erwartete ich dich in all diesen Tagen? – Ich habe mich hier doch schon seit fünf Tagen verankert. – Alle diese Tage? Weil ich nur dir allein alles sagen kann, dir allein, das ist es ja, denn ich brauche dich, denn morgen werde ich aus den Wolken herabfliegen, denn morgen wird das Leben enden und neu beginnen ... Hast du es jemals gefühlt, oder weißt du, wie das ist, wenn man im Traum von einem Berge in ein tiefes, dunkles Loch fällt? Nun, auch ich fliege jetzt hinab, doch nicht im Traum. Fürchte mich aber nicht, und auch du sollst dich nicht fürchten. Das heißt, ich fürchte mich wohl, aber es ist – so süß. Das heißt, nicht süß, sondern ein Rausch des Entzückens ... Ach, nun hol’s der Teufel, einerlei, was das ist. Stark oder schwach oder weibisch – einerlei! Besingen wir lieber die Natur! Sieh, wieviel Sonne hier ist, der Himmel so rein, so hell und hoch, die Blätter sind noch alle grün, ganz wie im Sommer. Vier Uhr nachmittags, diese Stille! ... Wohin wolltest du gehen?“
„Zum Vater, und zuerst wollte ich noch zu Katerina Iwanowna gehen.“
„Zu ihr und zum Vater! Herrgott! Das ist mir mal ein Zusammentreffen! Ja, warum rief ich dich denn, warum ersehnte ich dich, warum dürstete und lechzte ich denn mit allen Ecken und Kanten meiner Seele gerade nach dir? Um dich von mir gerade zum Vater und dann zu ihr, zu Katerina Iwanowna, zu schicken und damit die ganze Geschichte zu beenden, mit ihr wie mit ihm! Ich hätte ja einen jeden schicken können, aber ich wollte nur einen Engel schicken. Und siehe, du wolltest von selbst zu ihr und zum Vater gehen!“
„Wolltest du mich wirklich schicken?“ fragte hastig mit einem krankhaften Gesichtsausdruck Aljoscha, fast gegen seinen Willen.
„Wart, – du wußtest es doch. Ich sehe schon, daß du bereits alles begriffen hast. Aber sage noch nichts, schweige. Bedaure nicht und weine nicht!“
Dmitrij Fedorowitsch erhob sich nachdenklich und legte den Finger an die Stirn:
„Sie muß dich selbst gerufen haben, sie hat dir einen Brief geschrieben oder vielleicht sonst etwas, darum wolltest du zu ihr gehen, denn sonst wäre es dir doch nicht eingefallen?“
„Ja, sie hat mir geschrieben, hier,“ sagte Aljoscha und zog den Brief aus der Tasche. Mitjä durchflog ihn schnell.
„Und du gingst durch die Hinterstraßen! O Götter, ich danke euch, daß ihr ihn durch die Hinterstraßen und mir in die Arme führtet, wie das goldene Fischlein dem alten, törichten Fischer im Märchen. Höre, Aljoscha, Freund und Bruder. Jetzt will ich dir alles sagen. Denn irgend jemandem muß man es doch sagen. Dem himmlischen Engel habe ich es schon gesagt, jetzt muß ich es auch dem irdischen Engel sagen. Das bist du. Du wirst es anhören, du wirst dann urteilen, und du wirst verzeihen ... Gerade das aber habe ich nötig, daß mir ein höheres Wesen verzeiht. Höre: Wenn sich zwei Wesen plötzlich von allem Irdischen losreißen und irgendwohin in etwas Unbekanntes fliegen, oder wenigstens einer von ihnen, und kurz vorher, also – vor dem Aufbruch oder dem Verderben zum anderen geht und ihm sagt: Tue das und das für mich, etwas, worum man sonst nie bittet oder höchstens auf dem Sterbebett, – würde der es dann wirklich verweigern ... wenn er sein Freund, sein Bruder ist?“
„Ich werde es tun,“ sagte Aljoscha, „sage nur, was es ist, und sage es etwas schneller.“
„Schneller ... Hm. Beeile dich nicht so, Aljoscha. Du beeilst dich und bist unruhig. Jetzt hat’s keine Eile mehr. Jetzt ist die Welt in eine neue Bahn gelenkt. Ach, Aljoscha, schade, daß du noch nie bis zur Begeisterung gedacht hast! Doch, übrigens, was sage ich? Du sollst etwa nicht bis zur Begeisterung gedacht haben! Wovon rede ich Dummkopf?
‚Edel sei der Mensch!‘
– Wer hat das gesagt?“
Aljoscha beschloß zu warten. Er sah ein, daß er jetzt hier vielleicht am nötigsten war. Mitjä sann einen Augenblick nach, den Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hand gestützt. Beide schwiegen sie.
„Ljoscha,“ sagte plötzlich Mitjä, „nur du allein wirst nicht lachen! Ich würde am liebsten meine ... Beichte ... mit Schillers Hymne an die Freude beginnen ... Aber ich verstehe kein Deutsch, weiß nur, daß sie ‚An die Freude!‘ heißt. Denk nicht, daß ich betrunken bin und darum so schwatze. Ich bin durchaus nicht betrunken. Kognak ist Kognak, doch ich brauche zwei Flaschen, um mich anzutrinken, –
Silen der feiste, kahlköpfige,
Ritt trunken auf stolperndem Esel ...
ich aber habe noch keine Viertelflasche getrunken und bin nichts weniger als Silen. Bin nicht trunken, wohl aber bin ich stark, denn ich habe auf ewig meinen Entschluß gefaßt. Verzeih mir die dummen Gedichte ... Heute wirst du mir vieles verzeihen müssen und nicht nur Gedichte. Beunruhige dich nicht, ich bin ganz ruhig und werde sofort zur Sache kommen. Will aus meiner Seele keine Mördergrube machen. Wart, wie war doch dieses Gedicht ...“
Er erhob den Kopf, sann ein wenig nach, und plötzlich begann er begeistert:
Scheu in des Gebirges Klüften
Barg der Troglodyte sich;
Der Nomade ließ die Triften
Wüste liegen, wo er strich.
Mit dem Wurfspieß, mit dem Bogen
Schritt der Jäger durch das Land;
Weh dem Fremdling, den die Wogen
Warfen an den Unglücksstrand!
Und auf ihrem Pfad begrüßte,
Irrend nach des Kindes Spur,
Ceres die verlass’ne Küste,
Ach, da grünte keine Flur!
Daß sie hier vertraulich weile,
Ist kein Obdach ihr gewährt;
Keines Tempels heitre Säule
Zeuget, daß man Götter ehrt.
Keine Frucht der süßen Ähren
Lädt zum reinen Mahl sie ein,
Nur auf gräßlichen Altären
Dorret menschliches Gebein.
Ja, so weit sie wandernd kreiste,
Fand sie Elend überall,
Und in ihrem großen Geiste
Jammert sie des Menschen Fall.
Ein Schluchzen rang sich aus Mitjäs Seele heraus, und er umklammerte Aljoschas Hand.
„Freund, mein Freund, gesunken ist der Mensch, tief gesunken! Der Mensch hat so viel Qualen auf der Erde zu ertragen, hat so viel im Leben zu leiden! Glaub nicht, daß ich nur ein Narr im Offiziersrock bin, einer, der Kognak trinkt und ausschweifend lebt. Freund, denke ich doch fast an nichts anderes, als an diesen erniedrigten Menschen – wenn ich nicht lüge. Gott, laß mich jetzt nicht lügen, nicht mich selbst loben! Ich denke an diesen Menschen, weil ich selbst so ein Mensch bin.
Daß der Mensch zum Menschen werde,
Stift er einen ew’gen Bund
Gläubig mit der frommen Erde,
Seinem mütterlichen Grund ...
Nur sage mir jetzt: Wie soll ich mich auf ewig mit der Erde verbinden? Ich küsse doch nicht die Erde, ich schneide ihr doch nicht die Brust auf; oder soll ich etwa ein Bauer werden und pflügen oder ein Hirt? Ich gehe und lebe und weiß nicht: Bin ich in Schande und Gestank geraten oder ins Licht und in die Freude? Siehst du, das ist mein Unglück, denn alles auf der Welt ist Rätsel! Und wenn es vorkam, daß ich mich in die tiefste, allertiefste Schmach der Ausschweifung warf (das aber kam so häufig vor, daß es eigentlich ununterbrochen geschah), so sagte ich immer dieses Gedicht von der Ceres vor mich hin. Ob es mich besser machte? Niemals! Denn ich bin ein Karamasoff. Und wenn ich schon einmal in den Abgrund fliege, so fliege ich mit dem Kopf voran und den Fersen nach oben, und ich bin sogar zufrieden damit, daß ich in einer so erniedrigenden Stellung falle, und finde das schön für mich. Und siehe: Gerade in dieser Schmach und Schande stimme ich dann plötzlich die Hymne an. Mag ich verflucht sein, mag ich niedrig und gemein sein, doch laßt auch mich den Saum jenes Gewandes küssen, in das sich mein Gott hüllt; mag ich auch zur selben Zeit dem Teufel folgen, so bin ich doch dein Sohn, Herr, und liebe dich und fühle eine Freude, ohne die die Welt nicht stehen und nicht sein könnte.
Freude trinken alle Wesen
An den Brüsten der Natur;
Alle Guten, alle Bösen
Folgen ihrer Rosenspur.
Küsse gab sie uns und Reben,
Einen Freund, geprüft im Tod;
Wollust ward dem Wurm gegeben
Und der Cherub steht vor Gott.
Doch nun Schluß mit den Gedichten! Ich vergoß vorhin Tränen, aber du, laß mich ruhig weinen. Mag das auch eine Dummheit sein, über die alle lachen würden, nur du lache nicht. Wie deine Augen brennen, Ljoscha! Doch nun, wie gesagt, Schluß mit den Gedichten. Ich will dir jetzt von dem Wurme erzählen, von diesem selben, den die Erde mit Wollust beschenkt hat ... Weißt du, mein Freund, dieser Wurm, das bin ja ich, ich selbst, und das ist ganz speziell nur von mir gesagt. Und wir alle, wir Karamasoffs, sind alle so, und auch in dir, du keuscher Knabe, lebt dieser Wurm und gebiert schon Stürme in deinem Blut. Das – sind Stürme, denn die Wollust ist – Sturm, mehr als Sturm! Die Schönheit ist ein furchtbares und schreckliches Ding! Furchtbar, weil sie unbestimmbar ist, und bestimmen kann man sie nicht, weil Gott nur Rätsel gegeben hat. Hier nähern sich die Ufer; hier leben alle Widersprüche beisammen. Weißt du, Freund, ich bin sehr ungebildet, aber ich habe viel darüber nachgedacht. Es gibt so furchtbar viel Geheimnisse! Zu viele Rätsel bedrücken den Menschen auf Erden. Da heißt es, sie lösen, so gut man’s kann, und trocken aus dem Wasser kommen. Die Schönheit! Ich kann es nicht ertragen, wenn jemand – meistens sind es sogar Männer mit edlem Herzen und hohem Verstand – mit dem Ideal der Madonna beginnt und bei dem Weibe Sodoms endet. Noch furchtbarer aber ist, wer mit dem Ideale Sodoms in der Seele doch das Ideal der Madonna nicht verneint, nach der sein Herz lechzt und glüht; wahrlich, wahrlich, es glüht und sehnt sich nach ihr, wie in der Jugend, in den noch lasterlosen Jahren. Nein, weit ist der Mensch, sogar allzuweit, ich würde ihn enger machen. Weiß der Teufel, was er eigentlich ist! Was dem Verstande Schmach scheint, erscheint dem Herzen gewöhnlich als Schönheit. Ist denn in Sodom Schönheit? Glaube mir, für die übergroße Mehrzahl der Menschen sitzt sie gerade in Sodom, – wußtest du schon um dieses Geheimnis oder nicht? Schrecklich ist das eine, daß die Schönheit nicht nur etwas Furchtbares, sondern auch etwas Geheimnisvolles ist. Hier ringen Gott und Teufel, und der Kampfplatz – ist des Menschen Herz ... Übrigens, das ist ja immer so: Was einem weh tut, davon redet man. Höre, jetzt komme ich zur Sache.