„Ich führte dort ein wüstes Leben. Papa sagte vorhin beim Staretz, ich hätte mehrere Tausende für die Verführung ehrsamer Mädchen verschwendet. Das ist eine schweinische Verleumdung, niemals habe ich das getan. Was aber auch geschah, so bedurfte es ‚dazu‘ – eigentlich nie Geld. Geld, das ist bei mir – accessoire, ich weiß nicht was, es muß nur vorhanden sein. Heute ist eine vornehme Dame meine Liebe, morgen an ihrer Stelle ein kleines Straßenmädel. Ich liebe diese wie jene, werfe das Geld mit vollen Händen hinaus, bestelle Musik, Zigeuner. Wenn sie welches braucht, gebe ich natürlich auch ihr, denn sie nehmen es, und wie noch, das muß man allerdings zugeben, und zufrieden sind sie und dankbar. Viele Damen haben mich geliebt, nicht alle, aber doch viele, viele; ich aber liebte immer Winkelgassen, einsame, dunkle Sackgassen, – dort, dort gibt es Abenteuer, dort findet man Unerwartetes, dort wachsen berauschende Blumen im Schmutz. Ich meine das allegorisch, Freund. In unserem Städtchen gab es solche Winkelgassen nicht in Wirklichkeit, dafür aber gab es sie in anderer Beziehung. Wenn du wärest, was ich bin, so würdest du begreifen, was diese letzteren bedeuten. Ich liebte die Ausschweifung, liebte auch den Schmutz der Ausschweifung. Ich liebte die Grausamkeit; bin ich denn kein blutsaugendes Tier, kein bösartiger Wurm? Wie gesagt – bin Karamasoff! Einmal im Winter arrangierte die ganze Gesellschaft ein Picknick; wir fuhren in Troiken hinaus; in der Dunkelheit, im Schlitten begann ich das kleine Händchen des jungen Mädchens, das bei mir saß, zu drücken, und zwang sie zu Küssen. Sie war die Tochter eines Beamten, ein armes, liebes, sanftes Ding war’s. Sie erlaubte es, vieles erlaubte sie in der Dunkelheit. Die arme Kleine glaubte wohl, daß ich am nächsten Tage zu ihnen kommen würde, um einen Heiratsantrag zu machen, denn vor allen Dingen schätzte man mich doch als Heiratskandidaten. Ich aber sprach darauf fünf Monate kein Wort mehr mit ihr, keine Silbe. Wohl sah ich, wie an Tanzabenden – wir taten doch überhaupt nichts anderes als tanzen – aus der Saalecke mich ihre Augen verfolgten, o, ich sah, wie sie brannten – im Feuer heiligen Unwillens. Doch dieses Spiel ergötzte meine Wollust, ergötzte den Wurm, den ich in mir nährte. Nach fünf Monaten heiratete sie einen Beamten und fuhr fort ... in Haß und – vielleicht immer noch in Liebe zu mir. Jetzt leben sie glücklich. Hatte ich doch niemandem etwas davon gesagt, das behalte, ich hatte sie nicht in üblen Ruf gebracht; denn wenn ich auch niedrige Wünsche habe und das Niedrige liebe, so bin ich doch nicht ehrlos. Du errötest, und deine Augen blitzen wieder. Nun, es ist auch genug für dich – genug von diesem Schmutz. Und das ist doch alles noch so: pauldekocksche Blümchen, obgleich der grausame Wurm schon wuchs, schon in der Seele wucherte. Hier gibt es ein ganzes Album Erinnerungen, Freund. Mag Gott ihnen, den lieben Kleinen, Gesundheit schicken! Ich liebte es, beim Abschied ohne Groll auseinanderzugehen. Und niemals erzählte ich etwas, keine einzige brachte ich in schlechten Ruf. Doch genug. Glaubst du wirklich, daß ich dich nur wegen dieser Dummheiten hergerufen habe? Nein, ich werde dir eine interessantere Geschichte erzählen; doch wundere dich nicht, daß ich mich nicht vor dir schäme und scheinbar noch froh bin.“
„Das sagst du jetzt, weil ich erröte,“ bemerkte Aljoscha plötzlich. „Nicht wegen deiner Worte erröte ich und nicht wegen deiner Taten, sondern weil ich dasselbe bin, was du bist.“
„Wer, – du? Nun, da hast du etwas weit vorbeigetroffen.“
„Nein, durchaus nicht so weit,“ sagte eifrig Aljoscha. (Augenscheinlich hatte er diesen Gedanken schon lange gehabt.) „Es sind ein und dieselben Stufen; ich bin noch auf der niedrigsten, du aber bist schon oben, sagen wir, auf der dreißigsten. So sehe ich die Sache an, jawohl, es ist ein und dasselbe, vollkommen gleich. Wer die unterste Stufe betritt, der wird unbedingt auch einmal auf die oberste treten.“
„So ist es wohl am besten, sie überhaupt nicht zu betreten?“
„Wer es kann, ja – der sollte sie überhaupt nicht betreten.“
„Du aber – kannst du das?“
„Ich glaube, nicht.“
„Schweig, Aljoscha, schweig, Liebling, ich möchte deine Hand küssen, so, aus Rührung. Dieser Racker Gruschenka ist wirklich ein Menschenkenner – sie sagte mir vor nicht langer Zeit, sie werde dich irgendeinmal fressen! Doch ich schweige schon, schweige schon! Gehen wir jetzt von dem Häßlichen, diesem Fliegenschmutz, zu meiner Tragödie über, die gleichfalls von Fliegen beschmutzt ist, ich meine, von Gemeinheiten aller Art. Die Sache ist nämlich die: Wenn der Alte auch beim Staretz das von der Verführung ehrsamer Mädchen gelogen hat, so war es doch im Grunde in meiner Tragödie genau so – nur war es das einzige Mal, und auch da kam es nicht dazu. Der Alte aber weiß von dieser Geschichte nichts: Ich habe sie niemandem erzählt; du bist der erste, der sie hört, natürlich abgesehen von unserem Bruder Iwan, Iwan weiß alles. Er weiß es schon längst; aber Iwan ist ein – Grab.“
„Iwan ein – Grab?“
„Ja.“
Aljoscha hörte mit größter Spannung zu.
„In jenem Bataillon, im Linienregiment, in dem ich nach dem Duell stand, war ich doch gewissermaßen unter Aufsicht, selbst als Fähnrich wurde ich wie etwa ein Verschickter behandelt. Das Städtchen aber nahm mich mit offenen Armen auf. Geld verschwendete ich sehr viel; man glaubte, daß ich reich sei, und ich glaubte es ja auch selbst. Aber, weißt du, ich gefiel ihnen, wie es schien, noch durch etwas anderes. Wenn sie auch die Köpfe schüttelten, so liebten sie mich doch wirklich aufrichtig. Plötzlich aber hatte mein Oberstleutnant etwas gegen mich. Er suchte mir immer etwas anzuhängen, ich aber war vollkommen im Recht, und die ganze Stadt stand für mich, so konnte er mich nicht allzusehr schikanieren. Natürlich lag die Schuld an mir; ich erwies ihm absichtlich nicht die schuldige Ehrerbietung; war stolz. Dieser alte Starrkopf, der übrigens durchaus kein übler Mensch, sondern ein gutmütiger, gastfreier, älterer Herr war, hatte zweimal geheiratet, doch beide Frauen waren schon gestorben. Die erste war einfacher Herkunft gewesen und hatte ihm nur eine Tochter hinterlassen, die gleichfalls ziemlich einfach aussah; sie war damals schon ein vierundzwanzigjähriges Mädchen und lebte mit ihrer Tante, der Schwester ihrer Mutter, beim Vater. Die Tante war eine schweigsame Person, ihre Nichte jedoch, also die älteste Tochter meines Oberstleutnants, war das temperamentvolle Gegenteil. Weißt du, Liebling, ich sage gern ein gutes Wort, wenn ich an jemanden zurückdenke: Niemals habe ich einen Frauencharakter gesehen, der prächtiger gewesen wäre als der Charakter dieses Mädchens, Agafja hieß sie, Agafja Iwanowna. Ja, und an sich sah sie gar nicht übel aus, für russischen Geschmack – hochgewachsen, stark, fest gebaut, prachtvolle Augen, das Gesicht allerdings etwas einfach. Sie heiratete nicht, obgleich zwei bei ihr ansprachen, sie lehnte vielmehr ab, verlor aber nicht ihr heiteres Gemüt. Wir traten uns beide näher – doch nicht in diesem Sinne, nein, es war rein, einfach freundschaftlich. Bin ich doch häufig Frauen ganz sündenlos nähergetreten, eben wie ein Freund. Schwatzte mit ihr so aufrichtig, Herrgott! – sie aber lachte nur. Viele Frauen lieben solche Aufrichtigkeit, behalte das, sie aber war doch noch ein junges Mädchen, was mich ungemein amüsierte. Und dann noch eines: Man konnte sie unmöglich gnädiges Fräulein nennen. Sie und ihre Tante lebten beim Vater, doch wie soll ich sagen, sie erniedrigten sich selbst freiwillig, stellten sich jedenfalls mit der ganzen übrigen Gesellschaft nicht auf gleichen Fuß. Alle hatten sie gern und hatten sie nötig, denn was die Schneiderkunst anbetrifft, war sie eine Autorität: hatte wirklich Talent; Geld nahm sie natürlich nicht für ihre Hilfe, machte man ihr aber Geschenke, so nahm sie diese an und freute sich. Der Oberstleutnant aber, o – der! Der war die erste Persönlichkeit der Stadt, lebte auf großem Fuß, gab Diners und Bälle. Als ich hinkam, sprach man gerade in der ganzen Stadt davon, daß bald auch seine zweite Tochter, die schönste aller Schönheiten, aus der Hauptstadt zum Besuch nach Hause kommen werde, da sie dort soeben ihr aristokratisches Institut verlassen hätte. Diese zweite Tochter nun – das war Katerina Iwanowna, sein einziges Kind von der zweiten Frau. Diese seine zweite Frau war aus vornehmem Hause gewesen, Tochter eines angesehenen Generals, glaube ich; doch hatte sie, wie ich genau weiß, kein Geld in die Ehe gebracht. Also mußte sie dafür eine gute Verwandtschaft gehabt haben und vielleicht noch irgendwelche Hoffnungen auf Erbschaften, aber bar jedenfalls nichts. Damals war sie, wie gesagt, schon tot, und er war Witwer. Als aber dann die Tochter ankam, nur zum Besuch, nicht auf immer, belebte sich sofort die ganze Stadt, sogar unsere vornehmsten Damen – zwei Exzellenzen, die Frau des Obersten und alle, die nach ihnen kamen, rissen sich geradezu um sie. Sie war die Königin der Bälle; man arrangierte für sie Ausfahrten, Schlittenpartien, lebende Bilder zum Besten armer Gouvernanten usw. Ich schwieg, ich führte mein Leben unverändert so fort, und gerade damals schoß ich so ein besonderes Stückchen los, daß die ganze Stadt auf dem Kopf stand. Ich sehe, sie mißt mich einmal so mit dem Blick, auf dem Balle beim Batteriekommandeur war’s; ich aber ließ mich noch immer nicht vorstellen: Nun, verschmähte es, ihre Bekanntschaft zu machen. Erst nach einiger Zeit ließ ich mich vorstellen, begann ein Gespräch; sie antwortete kaum, verzog nur spöttisch verächtlich die Lippen. Warte, denke ich, dafür werde ich mich rächen! Vor allen Dingen fühlte ich, daß Katjenka nicht etwa ein unschuldiges Pensionsdämchen war, sondern eine Persönlichkeit mit Charakter, ein stolzes, doch wirklich edles Weib, und zwar ein kluges und gebildetes – ich aber war weder klug noch edel. Du glaubst, ich beabsichtigte damals ihr einen Heiratsantrag zu machen? Fiel mir nicht ein! Ich wollte mich ganz einfach dafür rächen, daß sie mich, der ich doch solch ein famoser Bursche war, absichtlich nicht beachtete. Inzwischen ging mein Leben unverändert weiter, lebte in dulci jubilo. Schließlich gab mir mein Oberstleutnant drei Tage Stubenarrest, und gerade in dieser Zeit schickte mir der Alte von hier aus sechstausend Rubel, nachdem ich den formellen Verzicht auf alles und jedes geleistet hatte, ich meine, daß wir quitt seien und daß ich nichts mehr verlangen werde. Ich begriff damals keinen Deut von der ganzen Geldgeschichte mit dem Vater. Offen gestanden, bis ich herkam, begriff ich noch immer nichts, vielleicht bis zu diesen letzten Tagen, vielleicht aber begreife ich auch heute noch nichts davon. Doch zum Teufel damit, davon später. Damals aber, als ich diese Sechstausend erhalten hatte, erfuhr ich plötzlich durch einen Freund – er schrieb mir einen Brief – eine für mich ungemein interessante Sache, nämlich, daß man mit unserem Oberstleutnant nicht ganz zufrieden war, daß man ihn sogar im Verdacht hätte, das Regimentsgeld zu anderen Zwecken zu verwenden, kurz – seine Feinde bereiteten ihm eine Überraschung vor, und wirklich, alsbald kam der Divisionsgeneral und wusch ihm ganz unglaublich den Kopf. Ziemlich kurze Zeit darauf, bekam er den Befehl, sein Abschiedsgesuch einzureichen. Ich will mich hier nicht weiter bei den Einzelheiten aufhalten, wie alles herauskam, und so weiter und so weiter, er hatte wirklich viele Feinde. Man bemerkte sofort, daß alle ungemein kühl gegen ihn und seine ganze Familie wurden und sich dann plötzlich von ihm zurückzogen. Nun, und so kam es denn zu meinem ersten ‚Scherz‘: Zufällig treffe ich Agafja Iwanowna, mit der ich immer gut Freund war, und plötzlich sage ich zu ihr: ‚Wissen Sie, Ihrem Vater fehlen viertausendfünfhundert Rubel Krongelder.‘ – ‚Was sagen Sie? Wie kommen Sie darauf? Vor kurzem war noch der General hier, und es fehlte doch nichts ...‘ – ‚Damals nicht, doch jetzt fehlen sie in der Kasse.‘ Sie erschrak natürlich furchtbar: ‚Ängstigen Sie mich, bitte, nicht; wer hat es Ihnen gesagt?‘ – ‚Beunruhigen Sie sich nicht,‘ sage ich, ‚ich werde es niemandem sagen, Sie wissen doch selbst, daß ich in der Beziehung ein Grab bin, doch hören Sie, was ich Ihnen in dieser Angelegenheit noch sagen will, nur so „auf alle Fälle“: Wenn man von Ihrem Vater die viertausendfünfhundert Rubel verlangt, er sie aber nicht hat, so schicken Sie lieber, anstatt ihn auf seine alten Tage noch vors Gericht und dann als Soldat nach Sibirien zu bringen, schicken Sie dann lieber Ihre Schwester Katerina Iwanowna heimlich zu mir; man hat mir gestern mein Geld gesandt, ich würde ihr dann gerne die viertausendfünfhundert geben und das Geheimnis hoch und heilig bewahren.‘ – ‚Ach,‘ sagte sie, ‚wie gemein Sie sind,‘ – sie sagte es gerade so – ‚wie niederträchtig gemein! Wie wagen Sie es, so etwas zu sagen!‘ Sie ging maßlos empört fort; ich aber rief ihr noch einmal nach, daß ich das Geheimnis heilig halten werde. Diese beiden Weiber, die Agafja und ihre Tante – das schicke ich voraus –, erwiesen sich in dieser ganzen Geschichte als die reinen Engel; die Schwester aber, die stolze Katjä, wurde von ihnen geradezu vergöttert, sie erniedrigten sich freiwillig vor ihr, waren fast ihre Kammerzofen. Selbstverständlich hatte ihr damals Agafja diese Geschichte – ich meine, unser Gespräch – sofort wiedererzählt. Das erfuhr ich später ganz genau. Sie verheimlichte es also nicht vor ihr! Nun wohl, das aber war’s ja gerade, worauf ich rechnete.
„Da kommt nun mit einemmal der neue Major an, um das Bataillon zu übernehmen. Übernimmt es; doch siehe, der alte Oberstleutnant wird plötzlich krank, kann sich nicht bewegen, sitzt zweimal vierundzwanzig Stunden zu Haus und – übergibt nicht die Kasse. Unser Doktor Krawtschenko versicherte später, er sei wirklich krank gewesen; nur hatte ich schon längst unter dem Siegel der größten Verschwiegenheit etwas anderes erfahren: daß die Summe jedesmal nach der Revision auf einige Zeit verschwand, und zwar schon seit vier Jahren. Der Oberstleutnant lieh sie nämlich dem ehrlichsten Menschen der Welt, unserem Kaufmann Trifonoff, einem alten Witwer mit langem Bart und goldener Brille. Jener fuhr dann auf die Jahrmärkte, setzte dort das Geld in Umsatz und händigte hernach dem Oberstleutnant die ganze Summe ungeschmälert wieder ein, brachte ihm Geschenke und Delikatessen mit, und mit den Delikatessen auch die Prozente. Diesmal aber – ich erfuhr es ganz zufällig von einem dummen Bengel, dem Söhnchen Trifonoffs, ja, seinem Söhnchen und Erben, dem verderbtesten Jungen, den die Welt je hervorgebracht –, diesmal aber war Trifonoff zurückgekehrt und hatte nichts wiedergegeben. Der Oberstleutnant stürzte natürlich zu ihm: ‚Wie, ich habe nichts von Ihnen erhalten,‘ war dessen Antwort, ‚und wie hätte ich überhaupt etwas von Ihnen erhalten können?‘ Nun, und da saß denn unser Oberstleutnant zu Haus, den Kopf mit einem Handtuch umwickelt; alle drei bemühten sie sich um ihn, legten ihm Eis an die Schläfen. Da kommt plötzlich eine Ordonnanz mit dem Buch und dem Befehl: ‚Sofort die Kasse übergeben, binnen zwei Stunden.‘ Er unterzeichnete – ich habe diese Unterschrift später selbst gesehen –, erhob sich, sagte, er wolle seine Uniform anziehen, ging in sein Schlafzimmer, nahm seine zweiläufige Jagdflinte, lud sie, nahm eine gute Soldatenkugel, zog den rechten Stiefel aus, stützte sich mit der Brust auf die Flinte und begann mit dem Fuß den Hahn zu suchen. Agafja aber, der meine Worte nicht aus dem Sinn gekommen waren, hatte schon so etwas Ähnliches erwartet und war zur rechten Zeit herangeschlichen. – Sie stürzte natürlich hinein, ergriff ihn hinterrücks: die Kugel flog in die Decke und verwundete niemanden. Nun, und dann kamen auch die anderen hinzugelaufen, ergriffen ihn, nahmen ihm die Flinte fort, hielten ihn fest ... Das erfuhr ich alles erst später ausführlich. Ich saß gerade zu Hause; es dämmerte bereits. Ich wollte ausgehen, hatte mich angezogen, frisiert, mein Taschentuch parfümiert, nahm schon meine Mütze, als plötzlich die Tür aufgeht, und – vor mir steht in meiner Wohnung Katerina Iwanowna ...
„Es gibt sonderbare Zufälle: Niemand hatte es damals in der Dämmerung auf der Straße bemerkt, daß sie zu mir gekommen war. Ich aber wohnte bei zwei uralten Beamtenwitwen; zwei ehrerbietige, alte Weiber waren’s, gehorchten mir in allem und schwiegen später über diesen Besuch auf meinen Befehl wie zugenäht ... Natürlich begriff ich sofort alles. Sie trat herein und sah mich unbeweglich an. Ihre dunklen Augen blickten entschlossen, fast sogar herausfordernd, doch auf den Lippen und um den Mund herum, das sah ich, lag Unentschlossenheit.
„‚Meine Schwester hat mir gesagt, Sie würden viertausendfünfhundert Rubel dafür geben – wenn ich selbst sie abholen käme ... ich selbst zu Ihnen. Ich bin gekommen ... geben Sie! ...‘ Sie konnte nicht mehr, der Atem blieb ihr stehen; sie erschrak, die Stimme versagte ihr, und die Mundwinkel und die Linien um die Lippen erzitterten. Aljoschka, hörst du – oder schläfst du?“
„Mitjä, ich weiß, daß du die ganze Wahrheit sagen wirst,“ stieß Aljoscha erregt hervor.
„Ja, die werde ich sagen ... Wenn ich die ganze Wahrheit sagen soll, so war es so, ich werde mich selbst nicht schonen. Der erste Gedanke war – ein Karamasoffscher. Weißt du, einmal hatte mich eine giftige Spinne gebissen, zwei Wochen lag ich darauf im Fieber; nun, so fühlte ich auch jetzt, wie eine giftige Spinne in mein Herz biß. Das heimtückische Insekt, begreifst du? Ich maß sie mit dem Blick vom Kopf bis zu den Füßen. Hast du sie gesehen? Schön ist sie! Doch nicht das machte damals ihre Schönheit aus. Schön war sie in jener Stunde dadurch, daß sie edel, ich aber ein Schuft war, daß sie stolz in ihrem hochherzigen Opfer für den Vater vor mir stand, ich aber ein scheußliches Insekt vor ihr war. Und von mir, dem Schuft und niedrigen Insekt, hängt sie ganz ab, ganz, ganz und gar, mit Seele und Leib. Ganz, wie sie dort vor mir steht. Ich sage dir, Freund: Dieser Gedanke, dieser Gedanke der giftigen Spinne packte mein Herz dermaßen, daß es vor Qual vergehen wollte ... Man sollte meinen, einen Kampf hätte es überhaupt nicht mehr geben können: einfach wie eine boshafte Tarantel verfahren, ohne jedes Mitgefühl ... Ich glaubte zu ersticken. Hör, ich wäre doch sofort, am nächsten Tage schon, zu ihnen gefahren und hätte um ihre Hand gebeten, um das alles sozusagen in der anständigsten Weise zu decken, und somit hätte niemand etwas Schlechtes sagen können. Denn wenn ich auch ein Mensch mit niedrigen Begierden bin, so bin ich doch ehrenhaft, so habe ich doch meine Ehre. Und plötzlich, in derselben Sekunde, flüsterte mir etwas ins Ohr: ‚Aber morgen wird doch solch eine, wenn du mit dem Heiratsantrag kommst, dich überhaupt nicht empfangen, wird dich durch den Kutscher vom Hof treiben lassen‘: ‚Erzähl es doch der ganzen Stadt, wenn du willst, ich fürchte dich nicht!‘ – Ich blickte sie an: Meine Stimme hatte nicht gelogen: so würde es sein, selbstverständlich, genau so. Daß man mich morgen hinauswerfen werde, konnte ich schon jetzt an ihrem Gesichte sehen. Die Wut kochte in mir auf; mich überkam die Lust, das Gemeinste, Schweinischste zu begehen, wie es etwa die elende Krämerseele eines Ladenkaufmanns fertig gebracht hätte: sie spöttisch anzublicken und gleich hier noch, so lange, wie sie vor mir stand, ein paar Worte zu sagen, so mit einer gewissen Intonation, wie es nur ein Kaufmann zu sagen versteht:
„‚Was – viertausend! Das fehlte noch! Ich habe doch nur gescherzt! Sie sind wirklich gar zu leichtgläubig, meine Gnädigste; zweihundert Rubelchen würde ich, nun, meinetwegen, noch mit Vergnügen und sehr gerne geben, aber viertausend, Fräuleinchen, sind doch kein Geld, das man für so leichtsinnige Sachen zum Fenster hinauswirft. Haben sich unnütz zu bemühen geruht.‘
„Sieh, ich hätte dann natürlich alles verloren; sie wäre fortgelaufen, doch dafür wäre es teuflische Rache gewesen und hätte für alles andere entschädigt. Ich hätte freilich mein ganzes Leben lang vor Reue geweint. Aber nur jetzt ihr dieses Stückchen spielen! Glaubst du mir, kein einziges Mal war es mit mir geschehen, noch mit keinem einzigen Weibe, daß ich sie in solch einer Minute gehaßt hätte – doch glaube mir, sieh, ich bekreuze mich: auf diese aber blickte ich drei oder fünf Sekunden lang so haßerfüllt, mit solch einem Haß – mit demselben wütenden Haß, von dem es bis zur Liebe, zur sinnlosesten, wahnsinnigsten Liebe – nur ein Haarbreit ist! Ich trat ans Fenster, preßte die Stirn an das befrorene Glas, und ich weiß noch, das Eis brannte wie Feuer auf meiner Stirn. Ich hielt sie nicht lange auf, hab keine Angst, Bruder. Ich wandte mich wieder um, ging zum Tisch, schloß das Schubfach auf und nahm die fünftausendrublige Banknote au porteur (sie lag in meinem französischen Lexikon). Ich zeigte sie ihr schweigend, schob sie in ein Kuvert, überreichte es ihr, öffnete ihr selbst die Tür zum Vorzimmer, trat darauf einen Schritt zurück und verneigte mich tief vor ihr in der ehrerbietigsten, aufrichtigsten Weise, glaub es mir! Sie fuhr zusammen, blickte mich starr eine Sekunde lang an, wurde dann furchtbar bleich, wie ein Handtuch, und plötzlich – gleichfalls ohne ein Wort zu sagen, doch nicht mit einem Ruck, sondern so weich kniete sie gerade vor mir nieder, verbeugte sich leise tief, tief – und – berührte mit der Stirn den Boden! Nicht etwa schulmädchenhaft, nein – russisch! Sie erhob sich und lief hinaus. Als sie hinausgelaufen war – weißt du, ich hatte den Säbel schon umgeschnallt –, riß ich meinen Säbel aus der Scheide und wollte mich erstechen. Warum? – Das weiß ich nicht, und es wäre natürlich eine furchtbare Dummheit gewesen, aber wahrscheinlich vor Begeisterung. Begreifst du auch, daß man sich vor Begeisterung, einer gewissen Art von Begeisterung, töten kann? Doch ich erstach mich nicht, ich küßte nur die Klinge und schob sie wieder in die Scheide – was ich übrigens jetzt auch nicht zu erwähnen brauchte. Ich glaube sogar, daß ich soeben in der Erzählung aller dieser Kämpfe etwas weitschweifig gewesen bin, um mich herauszustreichen. Aber ... nun schön, meinetwegen, mag’s auch so gewesen sein, der Teufel hole alle Spione des Menschenherzens! Das ist also meine ganze ‚Geschichte‘ mit Katerina Iwanowna. Jetzt wissen davon Iwan und du – und sonst niemand.“
Dmitrij Fedorowitsch erhob sich, tat erregt ein paar Schritte hin und her, zog sein Taschentuch heraus, trocknete sich die Stirn, setzte sich darauf wieder hin, doch nicht auf den früheren Platz, sondern an der anderen Tischseite, so daß Aljoscha sich seitlich zu ihm wenden mußte.