Er traf seinen Vater noch beim Mittagessen an. Der Tisch war wie gewöhnlich im Saal gedeckt, obgleich es im Hause auch ein großes Speisezimmer gab. Dieser Saal war jedoch der größte Raum im ganzen Hause und mit einem etwas unmodischen Prunk ausgestattet. Die Möbel waren sehr alt, in Weiß und Gold, mit rotem, altem, halbseidenem Bezug. An den Pfeilern zwischen den Fenstern waren Spiegel eingesetzt in alten, geschnitzten, verschnörkelten und gleichfalls weiß-goldenen Rahmen. Die Wände, deren weiß-goldene Papiertapeten schon an vielen Stellen Risse hatten, schmückten zwei große Porträts: das eine das Bildnis irgendeines Fürsten, der vor etwa dreißig Jahren unser General-Gouverneur gewesen war, und das andere – irgendeines Erzbischofs, der gleichfalls nicht mehr lebte. In der vorderen Ecke hingen einige Heiligenbilder, vor denen zur Nacht das Lämpchen angezündet wurde ... weniger aus Frömmigkeit, vielmehr um zu verhüten, daß es in der Nacht im Zimmer ganz dunkel wurde. Fedor Pawlowitsch ging sehr spät zu Bett, erst um drei oder vier Uhr morgens, bis dahin aber ging er entweder im Zimmer herum, oder er saß im Lehnstuhl und sann. Das war ihm so zur Gewohnheit geworden. Nicht selten schlief er ganz allein im großen Hause, da er zur Nacht alle Dienstboten in das Nebengebäude schickte, doch blieb jetzt in letzter Zeit der Diener Ssmerdjäkoff bei ihm und schlief dann im Vorzimmer auf der Truhe. Als Aljoscha eintrat, war das Mittagessen schon beendet, es wurden bereits eingemachte Früchte und Kaffee gereicht. Fedor Pawlowitsch liebte nach dem Essen Süßigkeiten und Kognak als Abschluß. Iwan Fedorowitsch saß auch noch bei Tisch und trank seinen Kaffee. Die beiden Diener, Grigorij und Ssmerdjäkoff, waren gleichfalls zugegen. Die Herrschaft wie die Dienerschaft war ersichtlich ungewöhnlich heiter gestimmt. Fedor Pawlowitsch lachte laut; Aljoscha hörte schon im Vorzimmer ein schreiendes, ihm von früher so gut bekanntes Gelächter und sagte sich sofort, daß sein Vater, nach der Art dieses Gelächters zu urteilen, noch längst nicht betrunken, sondern vorläufig nur aufgeräumt war.
„Ah, da kommt auch er, da ist er ja!“ rief Fedor Pawlowitsch ungeheuer erfreut über Aljoschas Kommen. „Gesell dich zu uns, setz dich, hier, so, willst du ein Täßchen Kaffee, – das ist doch Fastengetränk, ganz heiß, vorzüglich, sieh! Kognak biete ich dir gar nicht an, zu profan für dich, oder willst du, willst du doch? Wart, ich werde dir lieber ein Likörchen geben, pikfein! sage ich dir. – Ssmerdjäkoff, geh mal schnell, sieh im Schränkchen, auf dem zweiten Brett rechts, – fix!“
Aljoscha wollte auch für den Likör danken, doch sein Vater ließ ihn kaum zu Wort kommen.
„Einerlei, er wird sofort gebracht, sofort, sofort, wenn nicht für dich, dann für uns,“ unterbrach er ihn strahlend. „Doch halt, hast du überhaupt zu Mittag gegessen?“
„Ja, ich habe schon gegessen,“ sagte Aljoscha, der in Wirklichkeit nur ein Stück Brot in der Küche des Priors genossen und Kwas dazu getrunken hatte. „Aber heißen Kaffee würde ich ganz gern trinken.“
„Das ist brav von dir! Er wird Kaffee trinken! Soll man ihn nicht noch schnell heiß machen? Nein, nein, nicht nötig, er kocht ja noch jetzt. Es is’ ’n tadelloser Mokka, Ssmerdjäkoffscher! In Pasteten und Piroggen ist Ssmerdjäkoff ein wahrer Künstler, sag ich dir, richtig: und auch noch in Fischsuppe, das ist wahr. Du mußt einmal unbedingt zu Fischsuppe kommen, melde dich aber vorher an ... Ach! ganz verschwitzt, da fällt mir soeben ein, ich befahl dir doch vorhin, heute noch samt Kissen und Federbetten zu mir überzusiedeln? He–he, hast die Federbetten mitgeschleppt, wie? He–he–he! ...“
„Nein, ich habe sie nicht mitgebracht,“ sagte Aljoscha gleichfalls lächelnd.
„Ah – nun, aber ’nen Schreck hast du doch vorhin bekommen, gesteh’s nur, wie, nicht? Ach du, mein Herzensjunge, wie könnte ich dich nur beleidigen! Weißt du, Iwan, ich kann’s nicht ansehen, wenn er einem so in die Augen blickt und dabei lacht, kann’s wahrhaftig nicht! Mein ganzes Zwerchfell beginnt gleich über ihn zu lachen, ich liebe ihn doch! Aljoschka, laß mich dir meinen väterlichen Segen geben.“
Aljoscha erhob sich, doch Fedor Pawlowitsch hatte sich schon besonnen.
„Nein, nein, nicht jetzt, jetzt werde ich dich nur einmal bekreuzen, so, setz dich. Jetzt gibt’s aber ’nen Heidenspaß, gerade auf dein Thema, wirst dich krank lachen! Bei uns hat endlich einmal Bileams Esel das Maul aufgetan, und wie noch, und wie noch, ach Gott!“
Als Bileams Esel erwies sich der Diener Ssmerdjäkoff. Es war das ein noch ziemlich junger Mann von etwas über vierundzwanzig Jahren. Er war sehr menschenscheu und schweigsam. Doch nicht etwa scheu im gewöhnlichen Sinne oder verschämt, nein, dem Charakter nach war er sogar hochmütig und anmaßend, ja, er schien sogar alle zu verachten. Ich sehe mich veranlaßt, gerade bei dieser Gelegenheit schon einiges über ihn zu sagen. Erzogen hatten ihn Marfa Ignatjewna und Grigorij Wassiljewitsch, doch der Knabe wuchs „ohne jede Dankbarkeit“ auf, wie sich Grigorij über ihn äußerte, als scheues, mißtrauisches Kind. In seiner Kindheit liebte er es sehr, Katzen zu erhängen und sie dann mit großen Zeremonien zu beerdigen. Zu diesem Zweck nahm er sich ein Bettuch um, das wohl das Meßgewand ersetzen sollte, und sang und schwenkte irgend etwas über der toten Katze wie ein Weihrauchfaß. Alles das tat er heimlich, so daß es niemand sehen konnte. Einmal überraschte ihn doch Grigorij bei dieser feierlichen Handlung und bestrafte ihn schmerzhaft. Der Junge schlich sich in die Ecke und schielte von dort eine ganze Weile lang nur mißtrauisch auf seine Erzieher. „Er liebt uns nicht, diese Mißgeburt,“ sagte Grigorij zu Marfa Ignatjewna, „scheint gar niemanden zu lieben. Bist du überhaupt ein Mensch,“ wandte er sich plötzlich an den Jungen, „nein, du, du bist kein Mensch, du bist aus Badstubennässe entsprossen, jetzt weißt du, wer du bist!“ Wie sich später herausstellte, konnte ihm Ssmerdjäkoff diese Worte nie verzeihen. Grigorij brachte ihm das Schreiben und Lesen bei, und als der Knabe zwölf Jahre alt wurde, begann er ihn in biblischer Geschichte zu unterrichten. Doch das gute Vorhaben sollte ein schnelles Ende nehmen. In der zweiten oder dritten Stunde erlaubte sich der Knabe plötzlich zu lächeln.
„Was fehlt dir?“ fragte Grigorij sofort und blickte ihn streng über die große, runde Brille an.
„N–nichts ... Gott der Herr schuf die Welt am ersten Tage, die Sonne aber, den Mond und die Sterne erst am vierten. Wie konnte es dann am ersten Tage Tag sein, wenn es dunkel war?“
Grigorij erstarrte. Der Junge blickte spöttisch seinen Lehrer an. In seinem Blick lag sogar etwas hochmütig Herausforderndes. Das war zu viel für Grigorij.
„Wie es sein konnte? So konnte es sein!“ schrie er seinen Schüler an und gab ihm zur Erklärung eine schallende Ohrfeige. Der Junge ertrug die Ohrfeige, ohne ein Wort zu sagen, zog sich aber wieder auf einige Tage in seinen Winkel zurück. Da aber geschah es, daß er, gerade als eine Woche nach dieser Ohrfeige vergangen war, zum erstenmal einen Anfall der Fallsucht bekam, von der er nicht mehr geheilt werden sollte. Als Fedor Pawlowitsch das erfuhr, veränderte er plötzlich sein Verhalten zu dem Knaben. Früher schien er ganz gleichgültig auf ihn zu blicken, obgleich er ihn nie schimpfte und ihm, wenn er ihn auf dem Hofe traf, gewöhnlich ein paar Kopeken gab. Zuweilen schickte er gut gelaunt vom Tisch etwas Süßes für den Jungen, aber das war auch alles. Doch als er von der Krankheit erfuhr, begann er sofort für ihn zu sorgen, ließ den Arzt rufen, ließ ihn behandeln. Nur zeigte sich leider, daß nichts dabei zu machen war. Im Durchschnitt hatte er ungefähr einen Anfall monatlich, und zwar zu verschiedenen Zeiten. Die Anfälle waren verschieden stark, zuweilen leicht, zuweilen sehr heftig. Fedor Pawlowitsch verbot Grigorij strengstens, den Jungen körperlich zu bestrafen und erlaubte von da ab, daß der Knabe auch zu ihm ins Herrenhaus kam. Ihn irgend etwas lernen zu lassen, verbot er vorläufig gleichfalls. Einmal aber, als der Knabe schon fünfzehn Jahre alt war, bemerkte Fedor Pawlowitsch, daß er sich am Bücherschrank herumtrieb und sich bemühte, durch das Glas die Titel zu entziffern. Fedor Pawlowitsch hatte im Hause eine ziemliche Menge alter Bücher, doch hatte ihn noch niemand mit einem Buch in der Hand gesehen. Er übergab sofort den Bücherschrankschlüssel dem kleinen Ssmerdjäkoff. „Da, nimm, lies soviel du willst, kannst mein Bibliothekar sein; das ist immerhin besser, als daß du dich auf dem Hof herumtreibst. Sieh mal, dieses Buch kannst du lesen,“ – und Fedor Pawlowitsch gab ihm Gogols „Abende auf dem Meierhof bei Dikanka“.
Der Junge las das Buch, blieb aber unbefriedigt von dem Werk, lachte kein einziges Mal, im Gegenteil, beendete es eher mürrisch und verstimmt.
„Nun? Gefällt es dir denn nicht?“ erkundigte sich Fedor Pawlowitsch.
Ssmerdjäkoff schwieg.
„Sprich, Esel.“
„Alles das ist unwahr geschrieben,“ brummte schließlich Ssmerdjäkoff mit einem halben Lächeln.
„Noch was Neues! Äh, zum Teufel mit dir, bist doch ’ne Dienerseele. Wart, hier hast du Ssmaragdoffs ‚Allgemeine Geschichte‘, darin ist nichts gelogen, lies mal das.“
Doch Ssmerdjäkoff las von Ssmaragdoffs „Allgemeiner Geschichte“ kaum die ersten zehn Seiten, als ihm auch dieses Buch langweilig erschien. Und so schloß sich denn der Bücherschrank wieder für ihn. Bald darauf meldeten aber Marfa und Grigorij ihrem Herrn, daß Ssmerdjäkoff seit einiger Zeit ein furchtbarer Mäkler geworden sei: Sitzt bei Tisch, nimmt den Löffel und beginnt plötzlich in der Suppe zu suchen und zu suchen, rückt den Teller hin, rückt ihn her, nimmt einen Löffel voll, hebt ihn auf, hält ihn gegen das Licht, läßt die Suppe langsam vom Löffel auf den Teller zurückfließen.
„Was? Ist eine Schabe drin?“ fragt Grigorij.
„Eine Fliege vielleicht,“ bemerkt Marfa.
Doch der Sauberkeit liebende Jüngling antwortete nie, und mit dem Brot, dem Fleisch und allen Speisen geschah dasselbe: Auf einmal hebt er an der Gabel ein Stück Fleisch empor, betrachtet es wie unterm Mikroskop, scheint lange unschlüssig zu sein, bis er sich endlich doch entschließt, das Stück in den Mund zu befördern. „Sieh doch, was das für ein Herr wird,“ brummte zuweilen Grigorij bei seinem Anblick. Als Fedor Pawlowitsch von dieser neuen Eigenschaft Ssmerdjäkoffs hörte, beschloß er sofort, ihn Koch werden zu lassen und zur Erlernung dieser Kunst nach Moskau zu schicken. Ssmerdjäkoff blieb etliche Jahre in Moskau und kehrte dann stark verändert wieder zurück. Er war auffallend gealtert, ganz unverhältnismäßig zu seinen Jahren, sein Gesicht war runzelig und gelb geworden, er glich beinahe einem Sektierer. Innerlich war er jedoch derselbe, der er vor der Fahrt nach Moskau gewesen war: War ebenso ungesellig und empfand auch nicht das geringste Bedürfnis nach Umgang mit anderen Menschen. Wie wir später erfuhren, soll er auch in Moskau stets geschwiegen haben; die Stadt selbst hatte ihn sehr wenig angezogen, und so hatte er denn auch nur sehr wenig von ihr gesehen, das meiste gar nicht beachtet. Einmal soll er auch im Theater gewesen sein, doch hieß es, daß er verstimmt und unzufrieden mit dem Gesehenen heimgekehrt sei. Dafür aber kam er bei uns gut gekleidet wieder an, in einem reinen, schwarzen Überrock und mit guter Wäsche. Er bürstete seine Kleider sorgfältigst zweimal täglich, und seine kalbledernen Stiefel putzte er mit einer ganz besonderen, englischen Wichse so lange, bis sie wie Spiegel glänzten. Er erwies sich als vorzüglicher Koch. Fedor Pawlowitsch setzte ihm denn auch ein festes Monatsgehalt aus, das Ssmerdjäkoff aber restlos für Kleider, Pomaden, Parfüm usw. verbrauchte. Was das weibliche Geschlecht anbetraf, so schien er es nicht weniger zu verachten als das männliche, war im Umgang mit ihm sehr zurückhaltend, wenn nicht gar unnahbar. Fedor Pawlowitsch begann aber bald noch mit anderen Augen seinen Ssmerdjäkoff zu betrachten. Die Sache war nämlich die, daß die Anfälle seiner Krankheit häufiger und stärker auftraten als früher und an diesen Tagen das Essen von Marfa Ignatjewna zubereitet werden mußte, was Fedor Pawlowitsch durchaus nicht mehr paßte.
„Warum hast du denn jetzt die Anfälle so oft?“ fragte er seinen neuen Koch mit einem aufmerksamen Seitenblick auf ihn. „Wenn du vielleicht irgendeine heiraten würdest; willst du, ich werde dich verheiraten!“
Auf solche Reden antwortete Ssmerdjäkoff kein Wort, er erbleichte nur vor Unwillen. Fedor Pawlowitsch gab ihn schließlich auf. Vor allen Dingen hatte er sich ein für allemal überzeugt, daß Ssmerdjäkoff ehrlich war und nie etwas stehlen werde. Er hatte nämlich einmal in etwas stark angeheitertem Zustande auf seinem eigenen Hof drei Hundertrubelscheine verloren, die er kurz vorher erhalten hatte, doch vermißte er sie erst am nächsten Tage; als er sie aber in allen Taschen zu suchen begann, bemerkte er plötzlich, daß sie alle drei auf seinem Schreibtisch lagen. Wie waren sie dorthin gekommen? Ssmerdjäkoff hatte sie gefunden und hingelegt. „Nun, mein Lieber, solch einen wie du habe ich denn doch noch nicht gesehen,“ meinte Fedor Pawlowitsch und schenkte ihm zehn Rubel. Ich muß hinzufügen, daß er nicht nur von seiner Ehrlichkeit überzeugt war, sondern ihn auch noch aus einem unbekannten Grunde liebte, obgleich jener ihn ebenso scheel ansah wie alle anderen, und ihm gegenüber ebenso wortkarg war. Nur selten begann er von selbst zu sprechen. Wenn damals jemand bei seinem Anblick gefragt hätte: Wofür interessiert sich eigentlich dieser Mensch, was hat er am häufigsten im Sinn, so hätte man es wirklich nicht sagen können. Währenddessen aber kam es vor, daß er im Hause oder auf dem Hof oder auch auf der Straße plötzlich tief nachdenklich stehen blieb und so zuweilen ganze zehn Minuten lang dastand. Ein Physiognomiker hätte gesagt, daß es weder Nachdenklichkeit noch Grübelei war, sondern so eine gewisse Kontemplation. Von dem Maler Kramski gibt es unter anderem ein sehr bemerkenswertes Bild: es heißt „Der Beschauliche“. Mitten auf dem verschneiten Waldwege steht in einem alten Mäntelchen und in alten Bastschuhen ein Bäuerlein, steht ganz allein, und als ob er ganz in Gedanken versunken wäre, doch er denkt nichts, er ist nur „beschaulich“. Würde man ihn stoßen, so würde er zusammenfahren und einen, wie aus dem Schlaf erwachend, ansehen, ohne jedoch etwas zu verstehen. Zwar würde er sofort zu sich kommen, doch wollte man ihn fragen, woran er gedacht, als er stand, so würde er es bestimmt nicht sagen können – dafür aber wird er zweifellos die Empfindung, die er während der Zeit seiner „Beschaulichkeit“ gehabt, auf ewig in seinem Innern behalten. Diese Empfindungen sind ihm teuer, und sicher sammelt er sie in sich auf, ohne es auch nur zu wissen – warum und wozu weiß er bestimmt gleichfalls nicht: Vielleicht macht er sich dann plötzlich auf und pilgert nach Jerusalem zum Heiligen Grabe, vielleicht aber ergreift ihn auch die Sehnsucht nach dem Heimatdorf, oder vielleicht geschieht das eine wie das andere. Solcher Menschen gibt es viele im Volk. Und einer von denen war nun zweifellos Ssmerdjäkoff, und bestimmt sammelte er gleichfalls gierig seine Eindrücke, fast ohne selbst zu wissen, warum.