V. Die Beichte des heißen Herzens. „Kopfüber hinab“

„Jetzt kenne ich die erste Hälfte dieser Geschichte,“ sagte Aljoscha.

„Die erste Hälfte verstehst du: Das ist ein Drama und spielte sich dort ab. Die zweite Hälfte jedoch ist eine Tragödie und wird sich hier abspielen.“

„Von der zweiten Hälfte verstehe ich vorläufig noch nichts,“ sagte Aljoscha.

„Und ich etwa? Glaubst du, daß ich etwas davon verstehe?“

„Wart, Dmitrij, hier ist vor allem eines von Wichtigkeit: Sag mir, du bist doch verlobt, auch jetzt noch verlobt mit ihr?“

„Ich verlobte mich mit ihr nicht gleich darauf, sondern ungefähr erst nach drei Monaten. Am nächsten Tage, nachdem sie bei mir gewesen war, sagte ich mir, daß die Geschichte erledigt und abgetan sei, daß es eine Fortsetzung nicht mehr geben werde. Jetzt noch mit einem Heiratsantrag zu kommen, schien mir taktlos, niedrig. Ihrerseits ließ sie in den ganzen sechs Wochen, die sie noch in der Stadt verlebte, kein Wort von sich hören. Das heißt, abgesehen von dem einen Mal: am nächsten Tage kam nämlich ihre Stubenmagd heimlich zu mir und übergab mir, ohne ein Wort zu sagen, einen kleinen Packen. Draufgeschrieben war nur die Adresse: Dem und dem. Ich machte es auf: der Rest von den Fünftausend. Sie hatte ja im ganzen nur viertausendfünfhundert nötig gehabt, und beim Verkauf der Banknote war es ungefähr auf einen Verlust von zweihundert und einiges herausgekommen. Sie schickte mir im ganzen, ich glaube, zweihundertsechzig Rubel zurück, ich weiß es nicht mehr genau, und sonst nichts, nur das Geld – keinen Brief, kein Wörtchen, keine Erklärung. Ich durchsuchte das ganze Papier nach irgendeinem Bleistiftzeichen – n–nichts! Nun, ich lebte inzwischen für mein übriges Geld flott drauflos, so daß auch der neue Major gezwungen war, mir einen Verweis zu geben. Der Oberstleutnant aber übergab glücklich die Kasse zur nicht geringen Verwunderung seiner Kameraden, denn niemand hatte von ihm den Besitz der ganzen Summe erwartet. Er übergab sie, erkrankte aber gleich darauf, lag drei Wochen, dann kam plötzlich Gehirnerweichung hinzu, und nach fünf Tagen war er tot. Man beerdigte ihn mit allen militärischen Ehren, denn er hatte noch nicht den Abschied bekommen. Katerina Iwanowna, ihre Schwester und Tante fuhren nach Moskau, schon am zehnten Tage nach der Beerdigung. Und da erst, vor der Abfahrt, am selben Tage, an dem sie fortfuhren (ich hatte sie nicht gesehen und nicht begleitet), erhalte ich einen kleinen Brief, blau, teures Papier, und auf dem ganzen Bogen steht nur eine einzige Zeile, mit der Bleifeder geschrieben: ‚Ich werde Ihnen schreiben, warten Sie. K.‘ Und das war alles.

„Das übrige laß mich dir kurz in zwei Worten erklären. In Moskau veränderten sich ihre Verhältnisse mit Blitzesschnelle und ebenso unerwartet, wie es in arabischen Märchen zu geschehen pflegt. Eine alte Generalin, ihre reichste Verwandte, verlor plötzlich ihre beiden nächsten Nichten, beide starben in ein und derselben Woche an den Pocken. Die erschütterte Alte freute sich über Katjä, als hätte sie in ihr eine leibliche Tochter gefunden und veränderte das Testament sofort zu ihren Gunsten. Doch das war für die Zukunft, vorläufig aber werden ihr achtzigtausend Rubel sofort blank und bar ausgezahlt – das wäre deine Aussteuer, mach damit, was du willst. Hysterisches Frauenzimmer, habe sie später in Moskau beobachtet. Nun und: plötzlich erhalte ich per Post viertausendfünfhundert Rubel – bin natürlich wie vom Schlage gerührt. Nach drei Tagen kommt der versprochene Brief. Ich habe ihn auch jetzt bei mir, ich habe ihn immer bei mir; ich werde auch mit ihm sterben – willst du, daß ich ihn dir zeige? Du mußt ihn unbedingt lesen: Sie bietet sich als Braut an, bietet sich selbst an, sagt: ‚Ich liebe Sie sinnlos, wenn Sie mich auch nicht lieben, einerlei, seien Sie nur mein Mann. Fürchten Sie nichts – ich werde Ihre Freiheit in nichts beeinträchtigen, werde nur eines Ihrer Möbel sein, der Teppich, auf dem Sie gehen ... Ich will Sie ewig lieben, ich will Sie vor sich selbst retten ...‘ Aljoscha, ich bin es nicht wert, diese Zeilen auch nur wiederzugeben, mit meinen gemeinen Worten und in einem gemeinen Ton, meinem immer gemeinen Ton, von dem ich mich niemals habe losmachen können! Dieser Brief durchdrang mich bis in alle Ewigkeit – und tut er es nicht heute noch? Ist mir denn heute leicht zumut? Damals schrieb ich ihr sofort die Antwort. Ich konnte unmöglich selbst nach Moskau fahren. Schrieb sie mit Tränen; nur einer Sache schäme ich mich maßlos: Ich erwähnte, daß sie jetzt reich sei – ich, der ich doch nur ein bettelarmer Soldat war – erwähnte das Geld! Ich hätte das stillschweigend ertragen müssen, aber die Feder schrieb es von selbst. Gleich darauf, am selben Tage noch, schrieb ich nach Moskau auch an Iwan und erklärte ihm alles, so gut es brieflich ging, in sechs Bogen, und bat ihn, zu ihr zu gehen, schickte ihn zu ihr. Warum blickst du mich so an? Nun ja, Iwan verliebte sich in sie, ist auch jetzt noch in sie verliebt, ich weiß es genau. Eurer Meinung nach beging ich eine Dummheit, und so urteilt auch die ganze Welt, vielleicht aber wird gerade diese Dummheit uns alle retten! Ach! Siehst du denn nicht, wie sie ihn verehrt, wie hoch sie ihn achtet? Kann sie denn überhaupt, wenn sie uns beide vergleicht, solch einen wie mich lieben, und das noch nach allem, was hier vorgefallen ist?“

„Ich bin überzeugt, daß sie gerade so einen wie dich liebt und nicht so einen wie ihn.“

„Sie liebt ihre eigene Hochherzigkeit, aber nicht mich,“ kam es plötzlich fast ingrimmig über Dmitrij Fedorowitschs Lippen. Er lachte kurz auf, doch schon nach einer Sekunde blitzten seine Augen, und er schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch.

„Ich schwöre es dir, Aljoscha,“ rief er, in einer furchtbaren Wut auf sich selbst, „glaub es mir oder glaub es mir nicht, doch so wahr, wie Gott heilig und Christus unser Herr ist, schwöre ich dir, daß ich, wenn ich auch soeben über ihre Gefühle lachte, doch weiß, daß diese ihre Gefühle ebenso rein sind wie die Gefühle eines himmlischen Engels! Das ist ja die Tragödie, daß ich das genau weiß! Was will es besagen, daß der Mensch ein wenig deklamiert? Deklamiere ich denn etwa nicht? Und doch bin ich aufrichtig, ehrlich aufrichtig. Was aber Iwan anbetrifft, so begreife ich doch, mit welch einem Fluch er jetzt auf die Fügung der Natur blicken muß, und das noch bei seinem Verstande! Wem – bedenke doch nur – wem der Vorzug gegeben wird! Dem Scheusal, diesem Wüstling, der selbst als Verlobter, und obwohl ihn alle beobachten, von seinem wüsten Leben nicht lassen kann – und das vor den Augen seiner Braut, seiner Braut! Und nun wird solch einer, wie ich, vorgezogen, und Er wird verschmäht! Und warum nur? Weil das Mädchen aus Dankbarkeit ihr Leben und ihr Schicksal vergewaltigen will! O Sinnlosigkeit! Ich habe Iwan in diesem Sinne niemals etwas gesagt, und Iwan hat natürlich auch zu mir mit keiner Silbe davon gesprochen, nie, nie etwas erwähnt. Doch das Schicksal wird entscheiden, und der Würdige wird an die Stelle des Unwürdigen treten, und der Unwürdige wird auf ewig in der Winkelgasse verschwinden – in seiner schmutzigen Winkelgasse, und dort wird er im Schmutz und Gestank freiwillig und mit Entzücken zugrunde gehen. Ach, wieder rede ich fades Zeug, meine Worte sind alle so abgenutzt, stelle sie immer irgendwie aufs Geratewohl. Doch so, wie ich es bestimmt habe, so wird es sein. Ich in die Winkelgasse, und sie muß Iwan heiraten.“

„Erlaube, Mitjä,“ unterbrach ihn Aljoscha ungewöhnlich erregt. „Du hast mir bis jetzt noch immer nicht das eine erklärt: Du bist doch mit ihr verlobt, bist doch ihr Verlobter? Wie willst du dann die Verlobung aufheben, wenn sie, deine Braut, es nicht will?“

„Ja, ich bin ihr Verlobter, die Verlobung wurde in Moskau gleich nach meiner Ankunft gefeiert, wie es sich gehört, in großer Gala, mit Heiligenbildern und so: comme il faut. Die Generalin segnete mich, und – was glaubst du wohl – beglückwünschte sogar Katjä: Du hast eine gute Wahl getroffen, ich kenne ihn ganz. Und denk doch, Iwan liebte sie nicht, und sie wünschte ihm auch kein Glück. In Moskau besprach ich noch vieles mit Katjä; ich sagte ihr, wer ich bin, beschönigte nichts, sprach aufrichtig und edel. Sie hörte bis zum Schluß zu, nun, und:

‚Süße Verwirrung gab es,

Und manch zärtliches Wort ...‘

„Nun, es gab auch stolze Worte. Sie rang mir damals das große, heilige Versprechen ab, mich zu bessern. Ich gab das Versprechen. Und nun ...“

„Was?“

„Und nun habe ich dich hergerufen und über den Zaun gelockt, heute, heutigen Datums – behalt das! – um dich heute noch zu Katerina Iwanowna zu schicken, und ...“

„Und?“

„Und ihr durch dich sagen zu lassen, daß ich niemals mehr zu ihr kommen werde – und ihr meinen Abschiedsgruß sende.“

„Wie ist das nur möglich?“

„Aber darum schicke ich doch dich, anstatt daß ich selbst hingehe, weil das unmöglich ist, denn wie sollte ich ihr selbst das sagen?“

„Aber wohin willst du denn?“

„In die Winkelgasse.“

„Zu Gruschenka?“ rief Aljoscha und sah ihn erschrocken und traurig an. „So hat Rakitin vielleicht doch die Wahrheit gesagt? Ich glaubte, daß du nur so zu ihr gingest, und das wäre alles.“

„Und das als – Verlobter? Meinst du das im Ernst? Wie ist denn das möglich, wenn man solch eine Braut hat, und ... und so öffentlich? Nein, meine Ehre habe ich noch, sei unbesorgt. Sowie ich zu Gruschenka zu gehen begann, hörte ich sofort auf, Katjäs Verlobter und ein Ehrenmann zu sein, das begreife ich doch selbst. Warum siehst du mich so an? Ja, siehst du, ich ging ganz zuerst hin, um sie zu prügeln. Ich erfuhr es aus sicherer Quelle, daß dieser Gruschenka von Papachens Anwalt, jenem rotbärtigen Hauptmann, mein Wechsel übergeben worden war, damit sie ihn einklage, um mich still zu machen. Und so begab ich mich denn zu Gruschenka, um sie zu verprügeln. Ich hatte sie auch früher schon flüchtig gesehen. Sie frappiert nicht sonderlich. Von dem alten Kaufmann wußte ich, der jetzt zum Überfluß noch krank, halb gelähmt ist, ihr aber doch ein bedeutendes Sümmchen hinterlassen wird. Auch wußte ich, daß sie Geld zu verdienen liebt, sogar viel verdient, ihr Geld zu hohen Prozenten verleiht, daß sie schlau und erbarmungslos ist. Ich ging, um sie zu schlagen und – blieb bei ihr. Das Gewitter zog auf, der Blitz schlug ein, die Seuche steckte mich an, und ich bin ihr anheimgefallen. Weiß ich doch, daß jetzt alles aus ist, daß es jetzt nie mehr etwas anderes geben wird. Der Ring der Zeiten ist vollendet; das ist alles. Damals aber befanden sich gerade, wie vom Verhängnis geschickt – in meiner Tasche, in meiner, obgleich ich doch nichts mehr besaß, dreitausend Rubel. Wir fuhren dann sofort nach Mokroje, das ist fünfundzwanzig Werst von hier. Ich bestellte Zigeuner und Zigeunerinnen hin, Champagner, ließ dort allen Bauern, Weibern, Mädeln Champagner geben, bis sie betrunken waren, warf die Tausende hinaus. Nach drei Tagen war alles durchgebracht. Du glaubst, ich hätte etwas erreicht? Nicht einmal an sich herankommen ließ sie! Ich sage dir: Gruschenka, der Racker, hat solch eine Linie, die sich selbst an ihrem Füßchen wiederholt, sogar im kleinen Zehchen des linken Fußes. Hab selbst gesehen und geküßt, aber das ist auch alles – ich schwöre es dir! Sie sagt: ‚Wenn du willst, werde ich dich heiraten, denn du hast ja nichts. Versprich mir, daß du mich nicht schlagen und mir alles zu tun erlauben wirst, was ich will, dann werde ich dich vielleicht heiraten,‘ und lacht. Auch jetzt lacht sie!“

Dmitrij Fedorowitsch erhob sich plötzlich, fast jähzornig und war wie trunken. Seine Augen wurden rot von andringendem Blut.

„Und du willst sie wirklich heiraten?“

„Sobald sie will, ... sofort – will sie nicht! So bleibt es denn, wie es ist; werde Hofknecht bei ihr werden. Du ... du, Aljoscha ...“ rief er, blieb vor ihm stehen, ergriff ihn an den Schultern und schüttelte ihn plötzlich aus aller Kraft, „– weißt du auch, du unschuldiger Knabe, daß das Fieberwahn ist, sinnloser Fieberwahn? Jawohl, hier ist Tragödie! So höre denn, Alexei, ich kann wohl ein niedriger Mensch sein, mit niedrigen, verderblichen Leidenschaften, doch ein Dieb, ein Taschendieb, ein kleiner, schmutziger Taschendieb kann Dmitrij Karamasoff nie und nimmer sein! Nun, und so wisse denn jetzt, daß ich ein Dieb bin, ein gemeiner Taschendieb! Gerade kurz vordem, als ich zu Gruschenka ging, um sie durchzuprügeln, ruft mich am selben Morgen Katerina Iwanowna zu sich und bittet mich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, damit es vorläufig niemand erfahre (warum es niemand erfahren darf, weiß ich nicht, augenscheinlich aber war’s wohl so nötig), und bittet mich, in die Gouvernementsstadt zu fahren, und von dort aus durch die Post dreitausend Rubel nach Moskau an Agafja Iwanowna zu schicken, und zwar darum aus der Gouvernementsstadt, damit man es hier nicht erführe. Mit diesen Dreitausend ging ich zu Gruschenka, und mit eben diesem Gelde fuhren wir nach Mokroje. Später tat ich so, als ob ich tatsächlich in die Gouvernementsstadt gefahren wäre, schickte ihr aber keine Postquittung zu, ließ sagen, ich hätte das Geld abgeschickt und würde bald selbst mit der Quittung kommen, habe sie aber bis heute noch nicht hingebracht – ‚hab’s vergessen!‘ Nun aber – nun gehst du heute hin und sagst ihr: ‚Er hat mich beauftragt, Ihnen seinen Abschiedsgruß zu überbringen.‘ Sie wird dich wohl fragen: ‚Und das Geld?‘ Da könntest du ihr denn sagen: ‚Er ist ein niedriger Wollüstling, ein Mensch mit unbezähmbaren Leidenschaften. Er hat damals Ihr Geld nicht abgeschickt, sondern durchgebracht, denn er konnte sich als niedriges Tier nicht zügeln.‘ Und du könntest noch hinzufügen: ‚Doch ist er deswegen kein Dieb, hier sind Ihre Dreitausend, er schickt Ihnen das Geld zurück, übersenden Sie es selbst Agafja Iwanowna, mich aber beauftragte er Ihnen seinen Abschiedsgruß zu überbringen.‘ ‚Ja, aber,‘ wird sie dich fragen: ‚Und wo ist das Geld?‘“

„Mitjä, du bist unglücklich, das ist wahr! Aber doch nicht so sehr, wie du denkst, töte dich nicht durch Verzweiflung, töte dich nicht!“

„Ach, du glaubst, ich würde mich erschießen, wenn ich nicht irgendwoher die Dreitausend bekomme, um sie ihr zurückzugeben? Das ist es ja, daß ich mich nicht erschießen werde! Ich habe jetzt nicht die Kraft dazu, später vielleicht einmal, jetzt aber werde ich zu Gruschenka gehen ... Bin sowieso verloren!“

„Und was willst du bei ihr?“

„Werde ihr Gemahl sein, wenn sie mich dessen für würdig hält – wenn aber ihre Liebhaber kommen, werde ich ins andere Zimmer gehen. Werde die schmutzigen Galoschen ihrer Freunde reinigen, den Ssamowar anblasen, ihr Laufbursche sein ...“

„Katerina Iwanowna wird alles verstehen,“ sagte Aljoscha plötzlich sehr ernst, „sie wird die ganze Tiefe dieser Qual verstehen und alles verzeihen. Sie hat einen klaren Verstand und ein großes Herz, sie wird begreifen, daß man unglücklicher als du nicht sein kann.“

„Nein, sie wird nicht verzeihen,“ meinte Mitjä lächelnd. „Hier, Freund, handelt es sich um etwas, das kein Weib verzeihen kann. Weißt du aber, was jetzt das Beste wäre?“

„Was?“

„Ihr die Dreitausend zurückzugeben.“

„Aber woher sie nehmen? Hör, Mitjä, ich habe zweitausend, Iwan wird auch noch tausend geben, da hast du die drei, nimm sie und gib sie ihr.“

„Haha, wann werden denn diese Dreitausend hier ankommen? Du bist ja noch nicht einmal mündig, und doch mußt du unbedingt, un–be–dingt heute noch zu ihr gehen und meinen Gruß bestellen, einerlei, ob mit oder ohne Geld, denn länger kann ich das nicht so hinziehen – wie die Dinge jetzt liegen, ist es ganz unmöglich. Morgen wär’s schon zu spät, viel zu spät. Alexei, geh zum Vater!“

„Zum Vater?“

„Ja, bevor du zu ihr gehst, geh noch zum Vater. Er hat Dreitausend bereit liegen, erbitt sie von ihm.“

„Aber er wird sie doch nicht geben, Mitjä.“

„Fehlte noch, daß er sie gibt, ich weiß, daß er nichts geben wird. Weißt du, Alexei, was Verzweiflung ist?“

„Ich weiß es.“

„Hör: Juridisch schuldet er mir nichts mehr. Ich habe schon alles von ihm bekommen, alles, ich weiß es. Aber moralisch schuldet er mir noch, das ist doch wahr, nicht? Denn nur dank der Achtundzwanzigtausend meiner Mutter hat er die Hunderttausend verdienen können. Mag er mir jetzt nur Dreitausend von den ganzen Achtundzwanzigtausend geben, nur drei, und er würde meine Seele aus der Hölle erlösen, es wird ihm für viele Sünden angerechnet werden! Ich aber würde, wenn er noch diese Dreitausend geben wollte, nie mehr etwas von ihm erbitten, ich gebe dir mein Wort darauf, – er würde nichts mehr von mir hören. Ich gebe ihm zum letztenmal Gelegenheit, sich als Vater zu erweisen. Sage ihm, daß ihm Gott selbst noch diese letzte Gelegenheit schickt.“

„Aber er wird doch ganz bestimmt nichts geben, Mitjä.“

„Ich weiß es, daß er nichts geben wird, weiß es selbst ganz genau. Und jetzt erst recht nicht. Ich weiß sogar noch viel mehr: Erst jetzt, erst in diesen Tagen, vielleicht erst gestern, hat er es im Ernst erfahren (unterstreich das im Ernst), daß Gruschenka vielleicht wirklich nicht scherzt und mich vielleicht wirklich heiraten will. Er kennt diesen Charakter, kennt diese Katze. Nun, sage doch selbst, soll er mir jetzt zum Überfluß auch noch Geld geben, er, der doch selbst ihretwegen schon den Verstand verloren hat? Aber auch das ist noch nicht alles, ich weiß noch mehr: Ich weiß, daß bei ihm seit fünf Tagen dreitausend Rubel bereit liegen, in Hundertrubelscheine ausgewechselt, und in einem großen Kuvert unter fünf Siegeln, das noch mit einem roten Bändchen kreuzweis umbunden ist. Siehst du, wie genau ich alles weiß! Und auf dem Kuvert steht geschrieben: ‚Meinem Engel Gruschenka, wenn sie zu mir kommen will,‘ das hat er selbst draufgekratzt heimlich in der Stille, und niemand weiß, daß bei ihm dieses Geld bereit liegt, außer dem Diener Ssmerdjäkoff, an dessen Ehrlichkeit der Alte mindestens ebenso fest glaubt wie an seine eigene Existenz. Und jetzt erwartet er Gruschenka schon seit drei oder vier Tagen, hofft, daß sie nach den Dreitausend kommen wird, hat er ihr es doch sagen lassen, und sie hat darauf geantwortet: ‚Vielleicht, ja vielleicht werde ich kommen.‘ Aber wenn sie jetzt zum Alten kommt, wie kann ich sie dann heiraten? Begreifst du jetzt, warum ich hier heimlich sitze, und wem ich auflauere?“

„Doch nicht Gruschenka?“

„Ja, Gruschenka. Hier in diesem Hause hat sich Foma eine Kammer gemietet, bei diesen liederlichen Weibsbildern. Foma ist unser gewesener Soldat, stand in meiner Kompagnie. Er dient ihnen jetzt gewissermaßen, wacht in der Nacht, und am Tage geht er Birkhühner schießen, und davon lebt er. Ich habe jetzt hier bei ihm Anker geworfen. Doch weder er noch die beiden Weiber wissen es, daß ich hier auf der Lauer sitze.“

„Nur Ssmerdjäkoff weiß es?“

„Nur er allein. Er wird es mir denn auch sagen, wenn sie zum Alten kommt.“

„Und er hat dir auch das vom Kuvert gesagt?“

„Ja, er. Aber das ist das größte Geheimnis. Selbst Iwan weiß weder von dem Gelde noch sonst etwas. Der Alte aber will Iwan unbedingt auf zwei oder drei Tage nach Tschermaschnjä schicken: Es hat sich ein Käufer für den Wald gefunden, will ihn für Achttausend fällen, und so bittet denn der Alte himmelhoch Iwan: ‚Hilf mir, fahr selbst hin,‘ – damit wäre er ihn auf zwei-drei Tage los. Er will nämlich, daß Gruschenka in seiner Abwesenheit kommt.“

„Dann erwartet er sie also auch heute?“

„Nein, heute wird sie nicht kommen, aller Voraussicht nach. Sie wird bestimmt nicht kommen!“ rief Mitjä plötzlich erregt. „Auch Ssmerdjäkoff glaubt, daß sie nicht kommen wird. Der Alte trinkt jetzt wieder, sitzt mit Iwan bei Tisch. Geh, Alexei, bitte ihn um diese Dreitausend ...“

„Mitjä, Lieber, was ist mit dir!“ rief Aljoscha aufspringend und blickte erregt in das entstellte Gesicht Dmitrij Fedorowitschs. Einen Moment glaubte er schon, daß jener irrsinnig geworden sei.

„Was hast du? Ich bin nicht wahnsinnig,“ sagte Dmitrij Fedorowitsch, und sein Auge blickte aufmerksam und fast triumphierend den Bruder an. „Ja, ich schicke dich zum Vater und weiß, was ich tue: Ich glaube an ein Wunder.“

„An ein Wunder?“

„An ein Wunder der Vorsehung Gottes. Gott kennt mein Herz. Er sieht meine ganze Verzweiflung. Er sieht alles. Sollte Er wirklich das Grauenvolle zulassen? Aljoscha, ich glaube an ein Wunder, geh!“

„Ich werde gehen. Wirst du hier warten?“

„Ja. Ich weiß, daß du nicht so bald zurückkommen wirst, das kann man doch nicht gleich, nach dem ersten Wort! Er ist jetzt betrunken. Ich werde hier sitzen und warten, drei Stunden, vier Stunden, fünf, sechs, sieben Stunden ... Nur mußt du wissen, daß du heute, und wenn auch um Mitternacht, zu Katerina Iwanowna gehen wirst, mit oder ohne Geld, um ihr zu sagen: ‚Er schickt Ihnen seinen Abschiedsgruß.‘ Ich will, daß du es ihr gerade mit diesen Worten sagst: ‚Abschiedsgruß‘.“

„Mitjä! Plötzlich aber kommt Gruschenka heute ... oder wenn nicht heute, dann morgen ... oder übermorgen?“

„Gruschenka? Werde sehen, werde hineinstürzen und verhindern ...“

„Wenn aber ...“

„Und wenn aber, dann schlage ich tot. So überlebe ich es nicht.“

„Wen willst du erschlagen?“

„Den Alten. Sie werde ich nicht erschlagen.“

„Dmitrij, was redest du!“

„Ich weiß es doch nicht, weiß es selbst nicht ... Vielleicht werde ich ihn auch nicht erschlagen, vielleicht aber doch. Ich fürchte, er wird mir in dem Augenblick zu widerlich werden mit seinem Gesicht. Ich hasse sein Doppelkinn, seine Nase, seine Augen, sein schamloses Gelächter. Ich fühle schon den Ekel. Das ist es, was ich fürchte. Und so werde ich mich denn nicht bezwingen können ...“

„Ich gehe, Mitjä. Ich glaube, daß Gott es lenken wird, nach seinem besseren Wissen, damit das Entsetzliche nicht geschehe.“

„Ich aber werde hier sitzen und auf das Wunder warten. Doch wenn das Wunder nicht geschieht, so ...“

Nachdenklich ging Aljoscha zu seinem Vater.

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