Schon seit langer Zeit nahm er in unserer Stadt eine angesehene Stellung ein; er wurde von allen geachtet, war reich und als wohltätig bekannt. Er hatte ein ansehnliches Kapital dem Krankenhause wie dem Waisenhause übergeben und tat im geheimen viel Gutes, was erst später, nach seinem Tode, bekannt wurde. Er zählte ungefähr fünfzig Jahre, hatte ein strenges Aussehen und war sehr wortkarg; mit seiner jungen Frau, von der er drei unmündige Kinder hatte, war er seit zehn Jahren verheiratet.
Am Abend darauf saß ich bei mir zu Hause, als plötzlich meine Tür sich öffnete und dieser Herr bei mir eintrat. Ich muß hierbei bemerken, daß ich nicht mehr in meiner früheren Wohnung lebte; als ich den Abschied eingereicht hatte, nahm ich mir eine Wohnung mit Bedienung bei einer alten Dame, einer Beamtenwitwe. Der Umzug in diese Wohnung war nur darum geschehen, weil ich Afanassij noch am selben Tage, gleich nach dem Duell, in die Kompagnie zurückschickte, denn ich schämte mich nach dem Vorgefallenen, ihm in die Augen zu sehen, – so sehr ist ein weltlich erzogener Mensch verbildet, daß er sich sogar einer gerechten Tat schämen kann.
„Ich habe Ihnen schon einigemal und in verschiedenen Häusern mit großem Anteil zugehört,“ sprach der bei mir eintretende Herr, „so daß ich wünschte, endlich mit Ihnen persönlich bekannt zu werden, um mich noch eingehender mit Ihnen zu unterhalten. Können Sie mir diesen großen Gefallen erweisen?“ – „Mit dem größten Vergnügen, und ich rechne es mir zu einer ganz besonderen Ehre an,“ antwortete ich ihm darauf, selbst aber erschrak ich, solch einen Eindruck hatte das auf mich gemacht. Denn wie gern man mich auch angehört und wie sehr man mir allgemeine Anteilnahme gezeigt hatte, so war doch noch niemand mit solchem Ernst und aus innerer Überzeugung an mich herangetreten. Dieser aber kam sogar zu mir in die Wohnung. Er setzte sich. „Ich erkenne eine große Charakterstärke in Ihnen,“ fuhr er fort, „denn Sie haben sich nicht gefürchtet, der Wahrheit zu dienen, und das noch in einer Sache, in der Sie riskierten, die Verachtung aller auf sich zu ziehen.“ – „Ihr Lob scheint mir etwas zu groß,“ sagte ich zu ihm. – „Nein, durchaus nicht,“ antwortete er mir, „glauben Sie, solch eine Handlung zu begehen, ist viel schwerer, als Sie denken. Damit haben Sie mich in Erstaunen gesetzt, und darum bin ich zu Ihnen gekommen. Beschreiben Sie mir, bitte, wenn meine Neugier Sie nicht verletzt, was Sie in diesem Moment empfanden, als Sie sich entschlossen, bei dem Duell um Entschuldigung zu bitten, wenn Sie sich dessen noch erinnern können. Halten Sie meine Frage nicht für leichtfertig, denn wenn ich Ihnen solch eine Frage stelle, so habe ich dabei einen geheimen Zweck, den ich in der Folge Ihnen mitteilen werde, wenn es Gott gefallen sollte, uns einander noch näher zu führen.“
Die ganze Zeit, während der er sprach, sah ich ihm gerade in die Augen, und plötzlich fühlte ich zu ihm ein unbegrenztes Vertrauen, und gleichfalls empfand ich auch meinerseits eine ganz ungewöhnliche Neugier, denn ich fühlte, daß er in seiner Seele ein ungewöhnliches Geheimnis barg.
„Sie fragen mich, was ich in jener Minute empfand, als ich meinen Gegner um Verzeihung bat? Ich werde Ihnen besser alles das von Anfang an erzählen, was ich einem anderen nicht erzählen würde.“ Und ich erzählte ihm, was sich mit mir und Afanassij zugetragen, und wie ich mich vor ihm zur Erde niedergeworfen hatte. „Aus alledem können Sie ersehen,“ schloß ich meine Erzählung, „daß es mir schon während des Duells leichter zumute war, da ich ja meinen Weg bereits betreten hatte: jawohl, deshalb war auch alles Weitere gar nicht mehr schwer, sondern leicht und freudvoll für mich.“
Er hatte mich angehört und sah mich freundlich an: „Das alles,“ sagte er, „interessiert mich außerordentlich, und ich werde noch öfter zu Ihnen kommen.“ Seit der Zeit kam er denn auch jeden Abend zu mir, und wir hätten uns gewiß sehr befreundet, wenn er mir nur von sich etwas erzählt hätte. Er erzählte aber von sich kein Wort, sondern fragte immer nur mich aus. Ungeachtet dessen hatte ich ihn sehr lieb gewonnen; ich schilderte ihm alle meine Empfindungen und dachte bei mir: Was gehen mich schließlich seine Geheimnisse an, ich sehe ja ohnedem, daß er ein rechtschaffener Mensch ist. Dazu ist er ein so ernster Mensch, viel älter als ich, und doch kommt er zu mir, einem Jüngling, ohne sich an meinem Alter zu stoßen. Und viel Nützliches lernte ich aus den Gesprächen mit ihm, denn er war ein sehr intelligenter Mensch. „Daß das Leben ein Paradies ist,“ sagte er einmal zu mir, „darüber habe ich schon lange nachgedacht,“ und plötzlich fügte er hinzu: „Das ist es ja, woran ich eigentlich immer denke.“ Darauf sah er mich an und lächelte: „Ich bin mehr als Sie davon überzeugt,“ sagte er, „Sie werden später erfahren, warum.“ Als ich das hörte, dachte ich bei mir: Sicher will er mir was anvertrauen. „Das Paradies ist in jedem von uns verborgen, auch in mir verbirgt es sich jetzt und wenn ich will, wird es morgen in Wirklichkeit in mir erstehen und dann für mein ganzes Leben andauern.“ Ich betrachtete ihn: gerührt und geheimnisvoll sah er mich an, als ob er eine Antwort von mir erwartete. „Was das anbelangt,“ fuhr er fort, „daß jeder Mensch vor allen und in allem schuldig ist, abgesehen von seinen eigenen Sünden, so haben Sie darüber ganz richtig geurteilt, und es ist zu verwundern, wie Sie diesen Gedanken in seinem ganzen Umfange erfaßt haben. Wahrlich, es ist so: daß, sobald nur die Menschen diesen Gedanken begriffen haben werden, das Himmelreich nicht nur in der Vorstellung, sondern in Wirklichkeit beginnen wird.“ – „Aber wann,“ rief ich voll Leid aus, „wann wird das geschehen und wird das überhaupt je geschehen können? Wird das nicht immer nur ein Traum bleiben?“ – „Sehen Sie, da haben Sie schon keinen Glauben daran, Sie prophezeien es nur, aber selbst glauben Sie nicht daran. Ich sage Ihnen, daß dieser Traum, wie Sie es nennen, in Erfüllung gehen wird, glauben Sie es mir. Aber es wird noch nicht so bald geschehen, denn jeder Vorgang vollzieht sich nach seinem Gesetz. Dieser Vorgang ist ein seelischer, ein psychologischer. Um die Welt zu etwas Neuem umzugestalten, ist erforderlich, daß auch die Menschen sich umgestalten und einen anderen Weg betreten. Keine Brüderschaft kann früher sein, als bis tatsächlich ein jeder dem anderen ein Bruder geworden ist. Durch keine Wissenschaft und durch keine äußeren Hilfsmittel werden die Menschen lernen, ihre Rechte und ihre Güter zu verteilen, ohne sich gegenseitig zu kränken. Immer wird Alles für Jeden zu wenig sein, immer werden sie murren, sich gegenseitig beneiden und zu vertilgen suchen. Sie fragen, wann das andere sein wird? Es wird sein, aber zuerst muß die Periode der menschlichen Absonderung und Isolierung überwunden werden.“ – „Welcher Isolierung?“ fragte ich ihn. – „Derselben, die jetzt überall herrscht, besonders in unserem Jahrhundert. Noch ist nicht alles dazu reif, noch ist die Zeit nicht gekommen. Jeder strebt jetzt danach, seine Person abzusondern, ein jeder möchte in sich selbst die Fülle des Lebens erfahren, indessen ergibt sich aus all seinen Anstrengungen nicht die Fülle des Lebens, sondern vollständiger Selbstmord, statt Selbstbestimmung eben: vollständige Isolierung. Alle sondern sich in unserem Jahrhundert zu Einzelexistenzen ab; jeder isoliert sich in seiner Höhle, jeder entfernt sich vom anderen, verbirgt sich und verbirgt, was er hat, und es endet damit, daß er die Menschen abstößt und die Menschen ihn abstoßen. Er scharrt sich ein Kapital zusammen und denkt: „Wie stark bin ich jetzt, jetzt bin ich gesichert,“ und der Unsinnige weiß nicht einmal, daß er, je mehr er ansammelt, desto mehr in eine selbstmörderische Ohnmacht verfällt. Denn er hat sich daran gewöhnt, nur auf sich selbst zu hoffen, und er hat sich als Isolierter vom Ganzen abgetrennt, er hat seine Seele gelehrt, nicht an die Hilfe der Menschen zu glauben, weder an die der Menschen, noch an die der Menschheit, und er zittert nur davor, daß er sein Geld und die durch dasselbe erworbenen Rechte verlieren könnte. Der Menschengeist will allgemein heutzutage nicht einsehen, daß die wahre Sicherheit des Individuums nicht in seiner persönlichen isolierten Kraft besteht, sondern im Zusammenhang mit der Gesamtheit der Menschen. Aber gewiß wird es so sein, und die Stunde wird kommen, wo diese furchtbare Isolierung aufhören wird, und man wird plötzlich begreifen, wie unnatürlich es gewesen ist, sich voneinander abzusondern. Und der Geist der Zeit wird ein anderer sein, und man wird an ihm erkennen, wie lange man in der Finsternis gelebt hat, ohne das Licht zu erblicken. Dann wird auch das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen ... Bis zu der Zeit aber muß dieses Zeichen behütet werden, und wenn es auch nicht anders geht, so muß doch von Zeit zu Zeit wenigstens ein Mensch durch sein Beispiel die Seele aus dieser Isolierung befreien und ihr den Weg zur allgemeinen Bruderliebe zeigen, und wenn er auch damit sich dem aussetzt, daß er als Geistesschwacher verschrien wird – wenn nur der große Gedanke nicht stirbt!“
In solchen begeisterten und flammenden Gesprächen verbrachten wir unsere Abende miteinander. Ich vernachlässigte sogar die Gesellschaft und erschien nur mehr selten in ihr, zumal es auch aufhörte, Mode zu sein, sich mit mir zu beschäftigen. Ich sage das nicht, um damit die Gesellschaft zu verurteilen, denn man fuhr fort, mich zu lieben und gegen mich freundlich zu sein, doch muß man nicht vergessen, wie sehr die Mode die Gesellschaft beherrscht. An meinem geheimnisvollen Gast aber hing ich schließlich mit Begeisterung, denn abgesehen von den Genüssen, die mir die Unterhaltung mit ihm bereitete, fühlte ich, daß er sich mit irgendeinem Gedanken trug und sich vielleicht zu irgendeiner großen Tat vorbereitete – vielleicht gefiel es ihm, daß ich äußerlich für sein Geheimnis keine Neugier bekundete, weder direkt noch indirekt ihn danach fragte. Aber es schien mir, daß ihn selbst immer mehr und mehr der Wunsch quälte, mir etwas anzuvertrauen. Es war schon ein ganzer Monat vergangen, seitdem er mich besuchte: „Wissen Sie auch,“ fragte er mich da, „daß man viel über uns in der Stadt spricht und sich darüber wundert, daß ich Sie so oft besuche? Aber mögen sie, bald wird sich doch alles offenbaren.“ Zuweilen überfiel ihn plötzlich eine außerordentliche Aufregung, und dann stand er jedesmal auf und ging fort. Zuweilen wiederum sah er mich lange und durchdringend an, und ich dachte schon: „Jetzt wird er gleich etwas sagen –“ und plötzlich ging er dann auf etwas ganz Gleichgültiges und Alltägliches über. Oft beklagte er sich auch über Kopfschmerzen. Und einmal, ganz unerwartet kam es: als er lange begeistert über etwas gesprochen hatte, erbleichte er plötzlich, sein Gesicht verzerrte sich, und er starrte mich an.
„Was haben Sie,“ fragte ich erschrocken, „ist Ihnen schlecht?“ Er hatte sich kurz vorher wieder über Kopfweh beklagt.
„Ich ... wissen Sie ... ich ... habe einen Menschen ermordet.“
Er sprach es aus und lächelte, selbst aber war er weiß wie Kreide. Warum lächelt er? fuhr es mir durchs Herz, ohne das Gehörte noch ganz begriffen zu haben. Und ich fühlte, wie auch ich erbleichte.
„Was sagen Sie da?“ rief ich ihm zu.
„Sehen Sie,“ antwortete er mir mit einem schwachen Lächeln, „wie schwer mir wurde, das erste Wort zu sagen. Jetzt habe ich es getan und damit den Weg betreten. Und nun möge es kommen!“
Lange wollte ich ihm nicht glauben, und nicht mit einem Male konnte ich ihm alles glauben. Erst als er drei Tage nacheinander bei mir gewesen war und mir alle Einzelheiten mitgeteilt hatte, glaubte ich es. Ich hielt ihn für wahnsinnig, aber schließlich mußte ich mich doch von der Tat überzeugen lassen, wenn auch mit großer Verwunderung und großem Schmerz. Er hatte vor vierzehn Jahren ein furchtbares Verbrechen begangen an einer jungen und schönen Frau, der Witwe eines Gutsbesitzers, die in unserer Stadt ein eigenes Haus besaß, in das sie gelegentlich einkehrte. Er fühlte zu ihr eine große unbezwingliche Liebe, gestand ihr diese Liebe und wollte sie bereden, ihn zu heiraten. Aber ihr Herz gehörte schon einem anderen, einem hohen und angesehenen Offizier, der damals im Felde stand, und dessen baldige Ankunft sie erwartete. Sie schlug daher seinen Antrag ab und bat ihn, sie nicht mehr zu besuchen. Da war er, der alle Zimmer ihres Hauses gut kannte, in der Nacht vom Garten aus und über das Dach, mit unerhörter Kaltblütigkeit und alles aufs Spiel setzend, zu ihr eingedrungen. Ein so außergewöhnliches Unternehmen, mit der größten Kaltblütigkeit ausgeführt, gelingt ja fast immer. Durch das Dachfenster war er auf den Boden des Hauses gelangt und über eine kleine Bodentreppe zu ihr in die Wohnzimmer gedrungen: er hatte einmal bemerkt, daß die Tür dieser kleinen Treppe durch die Nachlässigkeit der Dienstboten unverschlossen geblieben war. Er hoffte auf diesen Zufall, und siehe da, es war so. Er schlich sich durch die Wohnzimmer bis in ihr Schlafgemach, wo das Lämpchen vor dem Heiligenbilde brannte. Und als ob es beabsichtigt gewesen wäre, waren beide Stubenmädchen ohne Erlaubnis zu einem Namensfeste in der Nachbarschaft fortgeschlichen. Die übrige Dienerschaft schlief in der Gesindestube und in der Küche, die sich in der unteren Etage befand. Beim Anblick der Schlafenden entbrannte in ihm die Leidenschaft, und zu gleicher Zeit wurde sein Herz von einer rachsüchtigen und eifersüchtigen Wut ergriffen, und wie ein Besinnungsloser und Trunkener stürzte er sich auf sie und bohrte ihr das Messer mitten ins Herz, so daß sie nicht einmal aufschreien konnte. Darauf richtete er es mit der teuflischsten und verbrecherischsten Berechnung so ein, daß der Verdacht auf die Dienerschaft fallen mußte. Es widerte ihn nicht an, ihren Geldbeutel zu nehmen, ihre Kommode mit den Schlüsseln, die er unter ihrem Kopfkissen fand, aufzuschließen und ihr nur diejenigen Sachen zu entnehmen, die auch ein dummer Diener genommen hätte, das heißt, die Wertpapiere ließ er liegen und nahm nur das bare Geld, nahm einige schwer goldene Sachen, die anderen aber, die zehnmal wertvolleren doch kleineren Schmuckgegenstände nahm er nicht. Darauf nahm er sich noch etwas zum Andenken, aber davon später. Nachdem das geschehen war, hatte er das Haus auf demselben Wege verlassen. Weder am folgenden Tage, als sich die Nachricht vom Morde verbreitete, noch jemals später, war es jemandem in den Sinn gekommen, den wirklichen Mörder zu verdächtigen! Auch von seiner Liebe zu ihr wußte niemand, denn er war immer verschlossen und wortkarg gewesen, und einen Freund, dem er die Tat hätte mitteilen können, besaß er nicht. Man zählte ihn einfach zu den Bekannten und nicht einmal zu den nahen Vertrauten der Ermordeten, denn er hatte sie in den letzten Wochen gar nicht besucht. Man verdächtigte vielmehr sofort ihren leibeigenen Diener Pjotr, und alle Umstände schienen diesen Verdacht zu bestätigen. Der Diener hatte gewußt, und die Verstorbene hatte es ihm nicht verheimlicht, daß sie auch ihn unter der Anzahl Rekruten, die sie von ihren Leibeigenen zu stellen hatte, in den Militärdienst zu schicken beabsichtigte. Zudem war er unverheiratet und ein schlechter Charakter. Man hatte gehört, wie er aus Wut und angetrunken in einer Kneipe gedroht hatte, sie zu erschlagen. Zwei Tage vor ihrem Tode war er entlaufen und hatte sich in der Stadt herumgetrieben. Am anderen Tage nach dem Morde fand man ihn auf der Landstraße vor der Stadt steif betrunken liegen, mit dem Messer in der Tasche, und dazu war noch seine rechte Handfläche mit Blut befleckt. Er versicherte, daß er Nasenbluten gehabt hätte, aber man glaubte es ihm nicht. Die Mägde gestanden ihre Schuld ein, daß sie auf dem Feste gewesen wären, und daß die Treppentür bis zu ihrer Rückkehr unverschlossen geblieben sei. Und eine Menge ähnlicher Anzeichen ergaben sich noch, so daß man daraufhin den unschuldigen Diener hinter Schloß und Riegel brachte. Doch siehe, schon nach einer Woche erkrankte er an einem Nervenfieber und starb besinnungslos im Krankenhause. Und damit endete die Sache. Man ergab sich dem Willen Gottes, und alle, das Gericht wie die Obrigkeit, waren fest überzeugt, daß den Mord niemand anders als der verstorbene Diener vollführt hätte – der aber war dem Gericht Gottes überliefert worden!
Der geheimnisvolle Gast, der damals schon mein Freund geworden war, sagte mir, daß er zu Anfang gar keine Gewissensbisse empfunden hätte. Wohl litt er sehr, aber nur, weil er das geliebte Weib ermordet hatte, weil sie jetzt nicht mehr lebte, weil er, indem er sie getötet, auch seine Liebe getötet hatte, während die Leidenschaft in seinem Blut noch fortbrannte. An das unschuldig vergossene Blut, an den Mord habe er damals gar nicht gedacht. Der Gedanke, daß sein Opfer die Gattin eines anderen hätte werden können, schien ihm so unmöglich, und daher war er vor seinem Gewissen vollständig überzeugt, daß er anders gar nicht hätte handeln können. Am Anfang quälte ihn ein wenig die Gefangennahme des Dieners, aber dessen Krankheit und Tod beruhigten ihn wieder. Glaubte er doch, daß dieser Tod nicht etwa durch den Schreck oder die Angst erfolgt war, sondern infolge einer Erkältung, die er sich an den Tagen, als er betrunken die ganze Nacht über auf feuchter Erde gelegen, zugezogen hatte. Die gestohlenen Sachen und das Geld beunruhigten ihn gleichfalls nicht, denn den Diebstahl hatte er ja nur zur Ablenkung des Verdachts vollführt. Die gestohlene Summe war unbedeutend, und bald darauf gab er diese Summe und noch viel mehr zur Errichtung einer Wohltätigkeitsanstalt in unserer Stadt. Das hatte er alles nur getan, um sein Gewissen über den Diebstahl zu beruhigen – und bemerkenswert ist, daß dies tatsächlich ihn auf lange Zeit beruhigte: wenigstens beteuerte er es mir. Er selbst stürzte sich damals in eine große geschäftliche Tätigkeit, übernahm schwierige und mühevolle Aufträge, die ihn zwei Jahre lang ganz in Anspruch nahmen, und da er einen starken Charakter hatte, so vergaß er das Vorgefallene ganz; wenn es ihm aber einfiel, so bemühte er sich einfach, nicht daran zu denken. Er tat viel für die Armen, und für unsere Stadt. Auch in den Residenzen, Moskau und Petersburg, zeichnete er sich durch seine Wohltätigkeit aus und wurde daher zum Vorstand von Wohltätigkeitsvereinen gewählt. Aber schließlich erlag er doch den vielen Qualen, die fast über seine Kräfte gingen. Da gefiel ihm ein reizendes und kluges Mädchen, und er heiratete sie bald darauf in der Hoffnung, daß das Eheleben ihn seine Qual vergessen machen werde, und daß auf diesem neuen Wege, in eifriger Pflichterfüllung gegen seine Frau und seine Kinder, seine alten Erinnerungen verblassen würden. Aber gerade das Gegenteil seiner Erwartungen traf ein. Schon im ersten Monat seiner Ehe quälte ihn ununterbrochen der Gedanke: „Meine Frau liebt mich – wenn sie es aber wüßte!“ – Als sie sich zum erstenmal guter Hoffnung fühlte und es ihm mitteilte, da wurde alles in ihm aufgewühlt: „Einem Kinde habe ich das Leben gegeben, und einem anderen Menschen habe ich es genommen.“ Es kamen die Kinder: „Wie wage ich es, sie zu lieben, sie zu erziehen und sie zu belehren, wie kann ich ihnen von Tugend reden: ich, der ich doch Blut vergossen habe.“ Die Kinder wuchsen prächtig heran, er wollte sie liebkosen, aber – „ich konnte nicht in ihre hellen unschuldigen Augen sehen, ich war dessen nicht würdig.“ So quälte ihn grausam und bitter das Blut des unschuldig erschlagenen Opfers, das vernichtete, junge Leben. Ihr Blut schrie nach Rache. Schreckliche Träume verfolgten ihn. Aber sein starkes Herz ertrug standhaft die Qualen. „Ich sühne vielleicht meine Schuld durch meine geheimen Qualen.“ Aber auch diese Hoffnung war vergebens: je länger, desto qualvoller wurden seine Leiden. In der Gesellschaft wurde er wegen seines wohltätigen Wirkens hoch geehrt, obgleich ihn alle wegen seines strengen und düsteren Charakters fürchteten. Je mehr sie ihn jedoch achteten, desto unerträglicher wurde es ihm. Er gestand mir, daß er sich habe töten wollen. Doch gleichzeitig tauchte in ihm eine Idee auf, eine Idee, die er zuerst für unmöglich und wahnsinnig hielt, die sich aber zuletzt so in seinem Herzen festsetzte, daß er sich von ihr nicht mehr losreißen konnte. Er gedachte plötzlich hinauszugehen und vor allem Volk zu erklären, daß er einen Menschen ermordet habe. Drei Jahre lang trug er sich mit dieser Idee, in den verschiedensten Arten tauchte sie in ihm auf. Schließlich wurde es bei ihm zur festen Überzeugung, daß seine Seele erst dann, wenn er sein Verbrechen eingestanden haben würde, Heilung und auf immer Ruhe finden werde. Trotz dieser Überzeugung aber empfand er in seiner Seele einen Schrecken bei der Frage, wie das Geständnis auszuführen sei? Da ereignete sich zufällig meine Duellgeschichte. „Dank Ihrem Beispiel,“ sagte er, „habe ich mich jetzt dazu entschlossen.“
Ich blickte ihn an.
„Ist es möglich?“ sagte ich fast erschrocken und schlug die Hände zusammen, „dieser geringe Vorfall hätte Sie zu solch einem Entschluß gebracht?“
„Meinen Entschluß trage ich bereits seit drei Jahren mit mir herum,“ antwortete er mir. „Ihre Tat hat ihm den letzten Anstoß gegeben. Angesichts Ihres Beispiels habe ich mir schon bittere Vorwürfe gemacht, ich habe Sie beneidet,“ sagte er zu mir, und seine Stimme klang hart.
„Man wird Ihnen nicht glauben,“ bemerkte ich, „vierzehn Jahre sind seitdem vergangen.“
„Ich habe Beweise, schlagende Beweise. Ich werde sie vorweisen.“
Ich brach in Tränen aus und küßte ihn.
„Über eines entscheiden Sie nur, über eines!“ rief er (ganz als ob jetzt alles nur von mir abhing): „Meine Frau, meine Kinder! Meine Frau stirbt vielleicht vor Kummer, und die Kinder, wenn sie auch den Adel und das Vermögen nicht verlieren, so bleiben sie doch auf ewig die Kinder eines gestempelten Sträflings. Und das Andenken, welch ein Andenken hinterlasse ich in ihren Herzen?“
Ich schwieg.
„Und sich von ihnen trennen, sie auf immer verlassen? Auf immer, auf immer!“
Ich saß da und wußte keine Antwort. Ich murmelte nur ein Gebet vor mich hin.
„Was sagen Sie?“ Er sah mich fragend an.
„Gehen Sie,“ antwortete ich, „und sagen Sie es den Leuten. Alles vergeht, nur die Wahrheit allein bleibt bestehen. Ihre Kinder werden heranwachsen und begreifen, wieviel Hochherzigkeit in Ihrem großen Entschlusse gelegen hat.“
Er verließ mich damals, scheinbar ganz entschlossen. Aber länger als zwei Wochen kam er dann wieder jeden Abend zu mir, und immer noch konnte er sich nicht dazu entschließen. Das ermüdete mein Herz. Eines Abends aber kam er und sagte:
„Ich weiß –, daß für mich sofort das Paradies anbrechen wird, sobald ich es gestanden habe. Vierzehn Jahre habe ich in der Hölle gelebt. Ich will das enden. Ich will das Leiden jetzt freiwillig auf mich nehmen und anfangen zu leben. Mit der Unwahrheit kommt man wohl bis ans Ende der Welt, eine Rückkehr gibt es aber nicht mehr. Jetzt wage ich weder meinen Nächsten, noch selbst meine Kinder zu lieben. Mein Gott, vielleicht werden die Kinder einmal begreifen, was mich dieses Leid gekostet hat, und mich nicht verurteilen! Gott ist nicht in der Macht, sondern in der Wahrheit.“
„Alle werden Ihre Tat begreifen,“ sagte ich zu ihm, „wenn nicht sofort, so doch später, denn Sie haben dann der Wahrheit gedient, der höheren Wahrheit, nicht der irdischen ...“
Und wieder ging er fort, als ob er sich darüber beruhigt hätte, und doch kam er am nächsten Tage bleich und erbittert wieder und sagte spöttisch:
„Jedesmal, wenn ich zu Ihnen komme, sehen Sie mich fragend an: ‚Also wieder nicht?‘ Warten Sie, verachten Sie mich nicht zu sehr. Nicht so leicht ist es, wie es Ihnen scheint. Ich werde es vielleicht überhaupt nicht tun. Sie werden mich doch nicht anzeigen, wie?“
Ich aber, oh, nicht, daß ich gewagt hätte, ihn fragend anzusehen, – ich wagte überhaupt nicht, ihn anzusehen! Ich war bis zur Erschöpfung gequält, und meine Seele war voller Tränen. Die Nächte verbrachte ich schlaflos.
„Ich komme soeben,“ fuhr er fort, „von meiner Frau. Begreifen Sie das, was einem eine Frau ist? Als ich fortging, riefen die Kinder mir nach: ‚Adieu, Papa, komme bald wieder, wir wollen dann zusammen unsere Kinderbücher lesen.‘ Nein, das verstehen Sie nicht! Fremdes Leid macht nicht gescheit.“
Seine Augen blitzten, seine Lippen zitterten. Plötzlich schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß alle Sachen darauf klirrten, – diese Heftigkeit sah ich an ihm zum erstenmal.
„Ja, ist es denn nötig?“ schrie er auf, „ist es denn nötig? Niemand ist doch meinetwegen verurteilt worden, niemand meinetwegen in die Zwangsarbeit verschickt worden! Der Diener starb an einer Krankheit. Für das vergossene Blut aber bin ich durch meine eigenen Marter und Qualen übergenug gestraft worden. Und man wird es mir ja überhaupt nicht glauben, trotz aller Beweise! Ist es denn nötig, daß ich es tue, ist es denn nötig? Für das vergossene Blut bin ich bereit, mich mein ganzes Leben lang zu quälen, wenn ich nur meine Frau und meine Kinder nicht vernichte. Ist es denn gerecht, sie zu zerschmettern? Irren wir uns da nicht? Wo ist denn da die Wahrheit? Und werden die Menschen diese Wahrheit verstehen und anerkennen, sie schätzen und ehren?“
„Großer Gott!“ dachte ich bei mir, „an die Achtung der Menschen denkt er in solch einer Minute!“ So leid tat er mir damals, daß ich wohl sein Los hätte teilen mögen, um es ihm zu erleichtern. Ich sah, daß er wie rasend war, und ich erschrak, als ich nicht nur mit dem Verstande allein begriff, sondern auch mit ganzer Seele fühlte, was solch ein Entschluß kostet.
„Entscheiden Sie über mein Geschick!“ sagte er plötzlich zu mir.
„Gehen Sie hin und gestehen Sie,“ flüsterte ich ihm zu. Meine Stimme versagte mir fast, doch flüsterte ich es ihm mit Bestimmtheit zu. Ich nahm vom Tisch das Evangelium in russischer Übersetzung und zeigte ihm Johannes, Kapitel XII, Vers 24: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein, stirbt es aber, so bringt es viele Früchte.“ Diesen Vers hatte ich kurz vor seinem Eintritt gelesen.
Er las ihn: „Das ist wahr,“ sagte er, aber er lächelte bitter. „Ja,“ sagte er, nachdem er lange geschwiegen hatte, „es ist unheimlich, was man in diesem Buche findet. Es ist aber leicht, diese Sprüche anderen vorzulesen. Und wer hat das geschrieben, doch nicht etwa Menschen?“
„Der Heilige Geist,“ sagte ich.
„Sie haben gut reden,“ sagte er und lächelte haßerfüllt. Ich nahm wieder das Buch, schlug es an einer anderen Stelle auf und zeigte ihm Ebräer, Kapitel X, Vers 31. Er las:
„Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“
Er las es und schleuderte das Buch von sich. Er zitterte am ganzen Körper.
„Ein schrecklicher Vers,“ sagte er. „Wahrlich, Sie haben ihn gut ausgesucht!“ Er erhob sich vom Stuhl: „Nun,“ sagte er, „leben Sie wohl, vielleicht werde ich nicht mehr zu Ihnen kommen – im Paradiese werden wir uns wiedersehen. Schon vierzehn Jahre sind es also, daß ich in die Hände des lebendigen Gottes gefallen bin, das kann ich wahrlich von diesen vierzehn Jahren sagen! Morgen werde ich diese Hände bitten, daß sie mich freigeben.“
Ich wollte ihn umarmen und küssen, aber ich wagte es nicht, so verzerrt war sein Gesicht; es wurde mir schwer, ihn anzusehen. Er ging hinaus. „Mein Gott,“ dachte ich, „wohin geht dieser Mensch!“ Ich warf mich auf die Knie hin vor das Muttergottesbild und betete. Es verging wohl eine halbe Stunde, als ich mich endlich mit Tränen in den Augen vom Gebet erhob; es war schon spät abends, gegen Mitternacht. Plötzlich sah ich, wie die Tür sich wieder öffnete und er eintrat. Ich war erstaunt.
„Wo sind Sie gewesen?“ fragte ich ihn.
„Ich,“ sagte er, „... ich habe, glaube ich, etwas vergessen ... mein Taschentuch, glaube ich. Nun, und wenn ich auch nichts vergessen habe, erlauben Sie mir, mich zu setzen ...“
Er setzte sich. Ich stand vor ihm. „Setzen Sie sich gleichfalls.“ Ich setzte mich. So saßen wir etwa drei Minuten, er sah mich starr fixierend an, und plötzlich lächelte er, stand auf, umarmte mich und küßte mich.
„Behalte es im Gedächtnis,“ sagte er, „wie ich zum zweitenmal zu dir gekommen bin. Hörst du, behalte es!“
Zum erstenmal nannte er mich du. Er ging fort. „Morgen,“ dachte ich.
Und so war es auch. Ich aber wußte an jenem Abend nicht, daß er den Tag darauf seinen Geburtstag feierte. In der letzten Zeit war ich gar nicht ausgegangen und hatte es von niemandem erfahren können. An diesem Tage pflegte sich die ganze Stadt bei ihm zu versammeln. Auch dieses Mal gab es eine große Gesellschaft. Und siehe, nach dem großen Festessen, stellte er sich in die Mitte des Zimmers, in den Händen hält er ein Papier – die formelle Anzeige an die Obrigkeit. Da aber alle hohen Gerichtspersonen bei ihm versammelt waren, so las er den Bericht den Anwesenden laut vor, – die ganze Beschreibung seines Verbrechens bis in alle Einzelheiten! „Als einen Auswurf des Menschengeschlechts scheide ich mich selbst aus der Mitte der Menschen, Gott hat mich heimgesucht,“ – damit schloß er seine Anschuldigung. – „Ich will dafür leiden.“ Darauf breitete er die gestohlenen Gegenstände auf dem Tisch aus, die Beweise seines Verbrechens, die er vierzehn Jahre lang bei sich aufbewahrt hatte. Die Goldsachen der Erschlagenen, mit denen er den Verdacht von sich abgelenkt hatte, das Medaillon und das Kreuz, die er ihr vom Halse genommen – im Medaillon das Bild ihres Verlobten; ferner ihr Notizbuch und zwei Briefe: der Brief ihres Verlobten an sie, mit der Nachricht seiner baldigen Rückkehr, und ein Brief von ihr, den sie angefangen, aber nicht beendigt hatte, und der auf dem Schreibtisch liegen geblieben war, um am nächsten Tage abgesandt zu werden. Beide Briefe hatte er an sich genommen – weshalb? Und weshalb hatte er sie vierzehn Jahre lang aufbewahrt, statt sie als Beweisstücke zu vernichten? Und was geschah darauf? Alle gerieten in Verwunderung und in Schrecken, und niemand wollte es glauben, obgleich sie ihm alle mit großer Aufmerksamkeit und Neugier zugehört hatten, wenn auch mehr wie einem Kranken. Nach einigen Tagen wurde denn auch von allen behauptet, daß der unglückliche Mensch seinen Verstand verloren habe. Die Obrigkeit und das Gericht mußten die Sache, ob sie wollten oder nicht, aufnehmen, aber auch sie zögerten: denn obwohl die vorgewiesenen Sachen und die Briefe zu denken gaben, kam man doch zu dem Schluß, daß, wenn die Dokumente sich auch als richtig erweisen sollten, man ihn schließlich nicht nur auf Grund dieser Dokumente verurteilen konnte. Denn die Sachen hätte er ebensogut als ihr Bekannter und Vertrauensmann von ihr erhalten können. Übrigens hörte ich später, daß die Sachen von vielen Bekannten und Verwandten der Ermordeten erkannt worden wären. Aber wieder war es auch dieses Mal der Sache nicht bestimmt, zu einem Abschluß zu kommen. – Fünf Tage nachher erfuhren wir alle, daß er erkrankt war, und man meinte allgemein, es sei ein Herzleiden; auch wurde bekannt, daß seine Frau alle Doktoren zusammenberufen hatte, damit sie ihn auf seinen Geisteszustand hin untersuchten. Deren Urteil aber lautete – Geistesstörung. Ich sagte niemandem etwas von dem, was ich wußte, obgleich man mich über ihn ausfragen wollte; als ich ihn aber zu besuchen wünschte, da überhäufte man mich mit Vorwürfen, besonders seine Gemahlin tat es: „Sie sind es, der ihn so erschüttert hat, wenn er auch schon früher immer finster war, so ist doch allen seine ungewöhnliche Erregung, sein sonderbares Benehmen in jüngster Zeit aufgefallen. Sie haben ihn ins Verderben gestürzt, haben ihn beeinflußt, er hat den ganzen Monat nur bei Ihnen gesessen.“ Und nicht nur seine Frau, nein, alle in der Stadt stürzten sich auf mich und beschuldigten mich. „Das alles haben Sie getan.“ Ich schwieg, und in meinem Herzen freute ich mich; ich erkannte die Gnade Gottes gegen ihn, der sich aus eigener Kraft aufgerichtet hatte. An eine Geistesstörung glaubte ich selbstverständlich nicht. Schließlich ließ man mich zu ihm: er hatte darauf bestanden – um sich von mir zu verabschieden. Ich trat zu ihm ins Zimmer und bemerkte sofort, daß nicht nur seine Tage, sondern seine Stunden gezählt waren. Er war schwach, gelb, und seine Hände zitterten; er atmete schwer, doch sein Blick war freudig und gerührt.
„Es ist vollbracht! lange schon habe ich mich danach gesehnt mit dir zu sprechen, warum kamst du nicht?“
Ich sagte ihm nicht, daß man mich nicht vorgelassen hatte.
„Gott erbarmt sich meiner und ruft mich zu sich. Ich weiß, daß ich sterbe, aber Freude und Friede fühle ich jetzt nach so viel Jahren zum erstenmal in meinem Herzen. Sofort erschloß sich in meiner Seele das Paradies, sobald ich’s nur ausgeführt hatte! Jetzt wage ich wieder, meine Kinder zu lieben und zu liebkosen. Man glaubt mir nicht, weder meine Frau noch meine Richter. Meine Kinder werden mir niemals glauben. Darin sehe ich Gottes Gnade zu meinen Kindern. Ich sterbe und mein Name bleibt für sie unbefleckt. Und ich fühle schon im voraus den ewigen Gott, und mein Herz freut sich wie im Paradiese ... Ich habe meine Schuldigkeit getan ...“
Er konnte nicht weiter sprechen, er atmete schwer, heiß drückte er mir die Hand, und mit glänzenden Augen sah er mich an. Doch lange konnten wir nicht zusammen bleiben; seine Frau kam immer wieder ins Zimmer, um nach uns zu sehen. Doch konnte er mir noch zuflüstern:
„Erinnerst du dich, wie ich das letztemal zu dir kam, um Mitternacht? Ich befahl dir, das zu behalten. Weißt du, warum ich wieder bei dir eintrat? Ich wollte dich erschlagen!“
Ich schrak zusammen.
„Ich kam – damals – von dir. In der Dunkelheit wanderte ich durch die Straßen und kämpfte mit mir. Und plötzlich haßte ich dich so sehr, daß mein Herz es kaum ertragen konnte. ‚Jetzt,‘ dachte ich, ‚ist er der einzige, der es weiß und mein Richter ist, und jetzt kann ich gar nicht mehr meiner Strafe entgehen.‘ Nicht, daß ich fürchtete, du würdest mich verraten, daran habe ich mit keinem Gedanken gedacht, aber ich sagte mir: ‚Wie werde ich ihm noch in die Augen sehen können, wenn ich es nicht morgen tue?‘ Und wenn du auch am Ende der Welt wärest, es wäre mir einerlei, so lebtest du doch, und der Gedanke, daß du lebst und alles weißt und mich verurteilst, dieser Gedanke wäre mir unerträglich gewesen. Ich haßte dich, als wärest du der Grund zu allem, und als wärest du an allem schuld. Ich kehrte damals zu dir zurück, denn ich wußte, auf deinem Tisch lag dein Dolch. Ich setzte mich und bat dich, dich gleichfalls zu setzen, und ich überlegte es mir noch eine Minute lang. Wenn ich dich aber getötet hätte, so wäre ich dieses Mordes wegen zugrunde gegangen, selbst wenn ich von meinem früheren Verbrechen nichts gesagt hätte. Doch daran dachte ich nicht und wollte ich auch in dieser Minute nicht denken. Ich haßte dich und wollte mich für alles an dir rächen. Aber Gott besiegte den Teufel in meinem Herzen. Wisse aber, daß du dem Tode nie näher gewesen bist.“
Nach einer Woche starb er. Seinem Sarge folgte die ganze Stadt. Der Oberpriester hielt eine gefühlvolle Rede. Nach seinem Tode aber wandte sich die ganze Stadt gegen mich, man trieb es sogar so weit, daß man mich nicht mehr empfing. Einige wiederum, und zuerst waren es eben nur einige, später aber wurden es mehr und mehr, fingen an, seinen Aussagen zu glauben; sie kamen zu mir und fragten mich mit großer Neugier und Freude: der Mensch freut sich doch so über den Fall des Gerechten und dessen Schande. Ich aber schwieg und verließ bald darauf die Stadt. Nach fünf Monaten fand mich Gott für würdig, den einzigen festen und wunderbaren Weg zu betreten, und ich segnete den Fingerzeig, der mich auf diesen Weg gewiesen hatte. Doch seiner gedenke ich fortwährend, und ich schließe ihn bis auf den heutigen Tag in meine Gebete ein.