i) Von der Hölle und vom höllischen Feuer. Eine mystische Betrachtung

Meine Väter und Lehrer, was ist die Hölle? Ich denke, sie ist der Schmerz darüber, daß man nicht mehr zu lieben vermag. Nur einmal wird im unendlichen Sein, außerhalb von Zeit und Raum, einem geistigen Wesen mit seinem Erscheinen auf der Erde die Fähigkeit verliehen, sich zu sagen: „Ich bin, und ich liebe.“ Einmal, nur einmal war ihm der Augenblick tätiger, lebendiger Liebe und dazu ein Leben hier auf Erden gegeben worden, und mit ihm Zeit und Gelegenheit. Dieses glückliche Wesen aber wies diese unschätzbare Gabe von sich, schätzte sie nicht, liebte nicht, spottete der Liebe und blieb gefühllos. Nachdem dieses Wesen gefühllos von der Erde geschieden war, schaute es Abrahams Schoß und redete mit Abraham, wie uns das Gleichnis vom Reichen und von Lazarus lehrt, und schaute das Paradies und konnte zum Herrn eingehen. Da fing es den Abgeschiedenen zu quälen an, daß er zum Herrn kommt, ohne geliebt zu haben, und mit denen zusammen treffen muß, die er zu lieben verschmäht hatte. Denn nun sah er klar und sagte zu sich selbst: „Jetzt habe ich die Erkenntnis, aber wie es mich auch dürstet zu lieben, ich kann meine Liebe jetzt doch nicht mehr betätigen, kann ihr kein Opfer mehr bringen, denn mein Erdenleben ist nun zu Ende, und Abraham wird nicht kommen, um auch nur mit einem Tropfen lebendigen Wassers (das wäre die Verleihung des früheren tätigen Erdenlebens) die Flamme meines Liebesdurstes zu kühlen, in der ich jetzt brenne, nachdem ich auf Erden zu lieben verschmäht hatte. Zeit und Leben gibt es jetzt nicht mehr. Froh wäre ich, mein Leben für andere hinzugeben, aber auch das kann ich ja nicht mehr, denn vorüber ist dieses Leben, das ich der Liebe hätte zum Opfer bringen können, und jetzt liegt ein Abgrund zwischen jenem Leben und diesem Sein.“ Man spricht vom Höllenfeuer im materiellen Sinne; ich will dieses Mysterium nicht erforschen und fürchte mich davor, aber wenn es wirklich eine materielle Flamme geben sollte, so könnte man sich in Wahrheit darüber freuen, denn ich denke daß eine physische Qual doch auf einen Augenblick die viel schrecklichere geistige Qual vergessen macht. Und die Menschen von dieser seelischen Qual zu erlösen, das ist unmöglich, denn es ist keine äußere, sondern eine innere Qual. Und wenn es möglich wäre, sie ihnen zu nehmen, so, denke ich, würden sie nur noch bitterer leiden. Denn wenn die Gerechten aus dem Paradiese beim Anblick ihrer Qualen ihnen auch verzeihen und sie in ihrer unendlichen Liebe zu sich nehmen würden, so würden sie damit ihre Qualen nur vergrößern und die Flamme ihres Durstes nach tätiger Liebe, die ihnen nicht mehr möglich ist, nur noch anfachen. In der Schüchternheit meines Herzens denke ich indessen, daß gerade das Bewußtsein dieser Unmöglichkeit ihnen schließlich zur Erleichterung dienen müßte, denn indem sie die Liebe der Gerechten, ohne sie erwidern zu können, annehmen müssen, werden sie in ihrer Demut und Ergebung ein Abbild der tätigen Liebe, die sie auf der Erde verschmäht haben, oder eine ihr ähnliche Betätigung finden ... Ich bedaure es, meine Brüder und Freunde, daß ich mich darüber nicht klarer auszudrücken vermag, aber wehe denen, die auf Erden sich selbst vernichteten, wehe den Selbstmördern! Ich denke, unglücklicher als diese kann keiner mehr werden. Uns wird verboten, für sie zu beten, und die Kirche wendet sich öffentlich von ihnen ab. Ich aber denke im Geheimen meiner Seele, daß man auch für sie beten kann. Um der Liebe willen wird Christus nicht zürnen. Für diese habe ich innerlich mein ganzes Leben lang gebetet, das vertraue ich euch an, meine Väter und Lehrer, und noch jetzt bete ich für sie jeden Tag.

Oh, in der Hölle gibt es auch solche, die stolz und grausam gelebt haben, trotz ihrer Erkenntnis der ganzen Wahrheit; sie sind furchtbar, die sich ganz und gar und auf immer dem Satan ergeben haben, und seinem stolzen Geiste. Für diese ist die Hölle etwas Freiwilliges und Unersättliches; sie sind aus eigenem freien Willen Märtyrer, und sie verfluchen sich selbst, indem sie Gott und das Leben verfluchen. Sie nähren sich von ihrem böswilligen Hochmut, wie ein Verhungernder in der Wüste sein Blut aus dem eigenen Körper aussaugt. Sie sind unersättlich bis in alle Ewigkeit. Sie weisen die Vergebung Gottes zurück und fluchen Gott, der sie ruft. Den lebendigen Gott können sie nicht ohne Haß erkennen, und sie verlangen, daß man das Leben Gottes vernichte, daß Gott sich selbst und seine ganze Schöpfung vernichte. Und sie werden ewig im Feuer ihres Zornes schmachten und nach Tod und Nichtsein verlangen. Doch nie wird der Tod ihnen Erlösung bringen.

Hier endigt die Handschrift Alexei Fedorowitsch Karamasoffs. Ich wiederhole, daß sie nicht vollständig, sondern nur bruchstückartig ist. Die lebensgeschichtlichen Nachrichten umfassen nur die erste Jugend des Staretz. Seine Bekenntnisse und Meinungen sind wohl zu einem Ganzen zusammengestellt, doch sind sie zu ganz verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Anlässen ausgesprochen worden. Alles, was der Staretz in seinen letzten Stunden geredet hat, ist nicht Wort für Wort wiedergegeben. Man erhält nur einen Begriff von Geist und Art seiner Unterhaltung, der sich aus dem Zusammenhange mit seinen früheren Gesprächen, die in der Handschrift Alexei Fedorowitschs angegeben sind, ganz von selbst ergibt. Der Tod des Staretz kam in der Tat ganz unerwartet. Wenn auch alle, die an jenem Abend versammelt waren, wußten, daß sein Tod nahe war, so hatten sie doch keineswegs erwartet, daß er so plötzlich eintreten werde. Im Gegenteil, seine Freunde waren, wie ich schon vorhin bemerkte, überzeugt, da sie ihn in dieser Nacht so munter und gesprächig sahen, daß sein Gesundheitszustand sich gebessert habe, und wäre es auf kurze Zeit. Wie sie später mit Verwunderung berichteten, hatten sie noch fünf Minuten vorher sein nahes Ende nicht geahnt. Doch plötzlich fühlte er, sagten sie, einen starken Schmerz in der Brust: er erbleichte und preßte seine Hand aufs Herz. Alle erhoben sich von ihren Plätzen und drängten sich zu ihm heran; er aber, obgleich er litt, sah sie noch alle mit einem Lächeln an, ließ sich vom Sessel auf den Fußboden gleiten und kniete nieder; darauf beugte er sein Haupt bis auf die Erde, breitete die Arme aus, und als hätte er in freudiger Begeisterung die Erde geküßt und dazu gebetet, wie er selbst gelehrt hatte, so ging sein Geist ruhig und freudig in die Ewigkeit ein. Die Nachricht von seinem Tode verbreitete sich sofort in der Einsiedelei und gelangte auch ins Kloster. Diejenigen, die ihm am nächsten gestanden, und diejenigen, denen es ihrem Range nach zukam, kleideten die Leiche nach altem Brauch. Die ganze Brüderschaft versammelte sich darauf in der Hauptkirche. Und schon vor Tagesanbruch hatte sich das Gerücht vom Tode des Staretz auch in der Stadt verbreitet. Schon am Morgen sprach die ganze Stadt vom Ereignis, und eine Menge Menschen strömte hin zum Kloster. Aber davon will ich im nächsten Buche erzählen, jetzt jedoch möchte ich nur im voraus erwähnen, daß noch nicht ein Tag vergangen war, als sich etwas ganz Unerwartetes ereignete, etwas, das im Kloster wie in der Stadt einen so sonderbaren Eindruck hinterließ, daß man selbst jetzt noch, nach so vielen Jahren, in unserem Städtchen eine außerordentlich lebhafte Erinnerung an diesen für viele so aufregenden Tag bewahrt.

Share on Twitter Share on Facebook