h) Kann man Richter über seinesgleichen sein? Vom Glauben bis ans Ende

Vergiß vor allem nicht, daß du niemandes Richter sein kannst. Es kann niemand auf Erden eher ein Richter eines Verbrechers sein, als bis er eingesehen hat, daß er genau solch ein Verbrecher ist wie dieser, der vor ihm steht, und daß er am Verbrechen des vor ihm Stehenden mehr als Alle schuld ist. Wenn er das erkannt hat, dann erst kann er Richter sein. Wie unsinnig das auch scheinen mag, so ist es doch die einzige Wahrheit. Denn wäre ich selbst gerecht, so stünde vielleicht vor mir kein Verbrecher. Vermagst du aber das Verbrechen des vor dir stehenden und des von deinem Herzen verurteilten Verbrechers auf dich zu nehmen, so tue es, ohne zu zögern, und leide für ihn; ihn selbst aber entlasse ohne jegliche Vorwürfe. Und wenn das Gesetz dich selbst zum Richter über ihn bestimmt, so sollst du in diesem Sinne wirken, denn er wird fortgehen und sich viel bitterer noch verurteilen, als das Gericht es vermocht hätte. Geht er aber deiner Güte unempfindlich fort und lacht er über dich, so ärgere dich nicht darüber, denn das bedeutet nur, daß seine Zeit noch nicht gekommen ist. Und sollte sie auch nie für ihn kommen, so ist es gleichgültig. Wenn nicht er, so wird ein anderer erkennen und erleiden und wird sich selbst verurteilen und beschuldigen, und so wird dem Recht Genüge getan werden. Glaube daran, glaube unverbrüchlich daran, denn gerade hierin liegt die ganze Zuversicht und der ganze Glaube der Heiligen.

Wirke unermüdlich. Wenn du in der Nacht aus dem Schlafe erwachst und dir sagen mußt: „Ich habe nicht getan, was ich hätte tun sollen,“ so erhebe dich sofort und tue es. Wenn dich böse und gefühllose Menschen umgeben und über dich lachen und dich nicht hören wollen, so falle vor ihnen nieder und bitte sie um Vergebung, denn du bist in Wahrheit selbst schuld daran, daß sie dich nicht anhören wollen. Wenn du aber mit den Verbitterten nicht mehr reden kannst, so diene ihnen schweigend und in Demut, ohne je deine Hoffnung zu verlieren. Wenn aber alle dich verlassen und mit Gewalt dich von sich stoßen und dich von allem ausschließen, so falle zur Erde nieder und küsse die Erde, netze sie mit deinen Tränen, und die Erde wird aus deinen Tränen Frucht bringen, obgleich dich niemand gesehen noch gehört hat in deiner Einsamkeit. Glaube bis ans Ende, und wenn es auch sein sollte, daß alle sich vom Glauben abwendeten und nur du allein treu bliebest, so bringe auch dann deine Opfer und lobe Gott. Und wenn sich dann noch einer wie du zu dir gesellt – siehe, dann ist bei euch die ganze Welt, die Welt der lebendigen Liebe: umarmt euch beide in Begeisterung und lobet Gott, denn, wäre es auch nur in euch beiden, so hat sich doch die Wahrheit Gottes bewährt.

Wenn du selbst sündigst und zu Tode betrübt bist wegen deiner Sünden, oder wenn du plötzlich in Sünde verfällst, so freue dich über den anderen, über den Gerechten, freue dich, daß, während du sündigtest, er gerecht blieb.

Wenn die Bosheit der Menschen dich bis zum Unmut und unerträglichen Kummer aufreizt, so daß in dir der Wunsch sich erhebt, Rache an den Bösewichtern zu nehmen, so fürchte dich am meisten vor diesem Gefühl, gehe sofort und suche dir Qualen, als wenn du allein an der Bosheit der Menschen schuldig wärest. Nimm die Qualen auf dich und erleide sie, und dein Herz wird sich beruhigen, und du wirst verstehen, daß du selbst schuld hast, denn du hättest als einziger Reiner den Bösewichtern leuchten können, und du hast nicht geleuchtet. Wenn du aber hättest leuchten können, so hättest du mit deinem Licht anderen den Weg erleuchtet, und derjenige, der die böse Tat vollführt hat, hätte sie in deinem Lichte unterlassen. Und selbst, wenn du ihnen geleuchtet hättest, und wenn du siehst, daß du die Menschen mit deinem Licht nicht retten kannst, so verzweifle nicht an der Kraft des himmlischen Lichtes; glaube daran, daß es sie, wenn nicht jetzt, so doch später retten wird. Wenn aber auch sie nicht gerettet werden, so werden es ihre Kinder, denn dein Licht stirbt nicht, wenn auch du schon gestorben bist. Der Gerechte geht dahin, doch sein Licht bleibt. Sie bekehren sich ja immer erst nach dem Tode des Bekehrers. Das Menschengeschlecht erkennt seine Propheten nicht an und läßt sie umkommen, aber seine Märtyrer liebt es und diejenigen, die seinetwegen gepeinigt wurden. Du arbeitest für das Ganze, du schaffst für das Kommende. Lohn suche du nie, denn ohnehin ist dein Lohn hier auf Erden groß: diese Freudigkeit im Geiste erlangt nur der Gerechte. Fürchte nicht den Vornehmen und nicht den Mächtigen, und sei immer ein Weiser und Begeisterter.

Halte Maß und halte die Frist ein und lerne erkennen. Wenn du allein bleibst, so bete. Liebe die Erde und bedecke sie mit deinen Küssen. Küsse die Erde unermüdlich, liebe unersättlich, liebe alle und liebe alles, suche die Begeisterung und die Ekstase der Liebe. Benetze die Erde mit deinen Tränen der Freude und liebe diese deine Tränen. Und halte diese deine Begeisterung hoch, denn sie ist ein großes Geschenk Gottes, das nicht vielen verliehen wird, sondern nur den Auserwählten.

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