Aljoscha ging in der Richtung nach der Kathedrale. Dort am Platz lag das Haus der Kaufmannswitwe Morosoff. Gruschenka hatte nämlich am Morgen Fenjä mit der dringenden Bitte zu ihm geschickt, heute noch bei ihr vorzusprechen. Aljoscha hatte von Fenjä auf seine Fragen hin außerdem erfahren, daß ihre Herrin seit gestern in ganz besonderer Aufregung sei. In diesen zwei Monaten nach der Verhaftung Mitjäs war Aljoscha oft in das Haus der Morosowa gegangen, sowohl aus eigenem Antriebe, als auch mit Aufträgen von Mitjä. Am dritten Tage nach jenen Vorgängen in Mokroje war Gruschenka erkrankt, und darauf hatte sie beinahe fünf Wochen lang das Bett gehütet, und von diesen fünf Wochen war sie eine Woche lang besinnungslos gewesen. Sie hatte sich inzwischen stark verändert: ihr Gesicht war abgemagert und hatte in der Farbe noch immer einen etwas gelblichen Ton, obgleich sie schon seit vierzehn Tagen wieder ausgehen durfte. Aljoscha aber schien es, daß ihr Gesicht dadurch noch anziehender wurde. Er liebte es, wenn er bei ihr eintrat, ihrem ersten Blick zu begegnen. Es war, als drückte sich in ihrem Blick jetzt eine gewisse Festigkeit und seelische Tiefe aus. Er verriet eine geistige Umwandlung und eine gewisse ergebene, doch zugleich gütige und feste Entschlossenheit. Auf der Stirn zwischen den Brauen zeichnete sich eine kleine senkrechte Falte ab, die ihrem lieben Antlitz den Ausdruck in sich gesammelter Nachdenklichkeit verlieh, wenn diese Nachdenklichkeit auch zuweilen auf den ersten Blick etwas Schroffes, Strenges haben konnte. Von der früheren Flatterhaftigkeit war auch nicht eine Spur übriggeblieben. Auch wunderte sich Aljoscha darüber, daß trotz des ganzen Unglücks, das sie getroffen hatte – sie, die Braut eines Mannes, der fast im selben Augenblick verhaftet worden war, in dem sie sich einander verlobt hatten –, daß sie trotz allem, was sie bereits durchgemacht und was ihr noch bevorstand, nicht ihre jugendliche Heiterkeit verlor. In ihren früher so stolzen Augen lag jetzt eine gewisse Stille, obwohl ... obwohl in diesen Augen zuweilen ein gewisses böses Feuer aufflammen konnte, wenn eine frühere Sorge sie wieder einmal heimsuchte – eine Sorge, die in ihrem Herzen nicht erstorben, sondern sich noch mächtig vergrößert hatte. Der Gegenstand dieser Sorge war immer ein und derselbe: Katerina Iwanowna. Von ihr hatte Gruschenka während der Krankheit fast ununterbrochen phantasiert. Aljoscha begriff sehr wohl, daß sie Mitjäs wegen unglaublich eifersüchtig auf dessen frühere Braut war, – selbst jetzt noch, obwohl Katerina Iwanowna ihn kein einziges Mal während seiner Gefangenschaft besucht hatte, was ihr zu jeder Zeit freigestanden hätte. Alles das machte Aljoscha seine Aufgabe, sie zu trösten, nur noch schwieriger: denn nur ihm allein vertraute sie alles an, und ihn allein fragte sie beständig um Rat, er aber wußte oftmals wirklich nicht, was er ihr sagen sollte.
Besorgt trat er bei ihr ein. Sie war vor einer halben Stunde von Mitjä aus dem Gefängnis zurückgekehrt, und allein schon aus der schnellen Bewegung, wie sie von ihrem Lehnstuhl am Tisch aufsprang und ihm entgegeneilte, konnte er ersehen, wie ungeduldig sie ihn erwartet haben mußte. Auf dem Tisch lagen Spielkarten, die zu „Schafskopf“ ausgegeben waren. Auf dem Lederdiwan an der anderen Seite des Tisches war ein Bett aufgemacht, auf dem in Schlafrock und Nachtmütze, sichtlich krank und geschwächt, doch trotzdem freundlich lächelnd, halb liegend – Herr Maximoff saß. Dieses heimatlose, alte Kerlchen war damals, vor zwei Monaten, zusammen mit Gruschenka aus Mokroje zurückgekehrt, und seit der Zeit war er auch bei ihr geblieben. Als sie durch Regen und Schmutz endlich bei ihr angekommen waren, hatte er sich durchnäßt und eingeschüchtert auf diesen Diwan gesetzt und sie schweigend mit schüchtern bittendem Lächeln angesehen. Gruschenka, die von Leid und von dem Fieber der beginnenden Krankheit völlig zerschlagen war, hatte ihn in der ersten halben Stunde vor lauter Anordnungen und Sorgen ganz vergessen. Plötzlich hatte sie sich dann seiner wieder erinnert, sich zu ihm gewandt und ihn einmal durchdringend angesehen: da hatte er in seiner Verwirrung nichts anderes zu tun gewußt, als ganz verloren und mitleiderregend zu lächeln. Gruschenka hatte Fenjä gerufen und für ihn etwas zu essen bestellt. An jenem ganzen Tage war er ohne sich zu rühren, mäuschenstill, auf demselben Platz sitzen geblieben, so daß Fenjä, als es dunkel geworden war, ihre Herrin gefragt hatte:
„Wird er denn auch zur Nacht hier bleiben?“
„Ja, mach ihm auf dem Lederdiwan ein Bett auf,“ hatte Gruschenka gesagt.
Später erfuhr sie von ihm auf ihr Befragen, daß er „gerade jetzt“ nicht wußte, wo er eigentlich bleiben sollte. „Herr Kalganoff, mein-mein Wohltäter, hat mir direkt gesagt, daß er mich nicht mehr empfangen könne, und er-er hat mir fünf Rubel geschenkt.“
„Nun, Gott mit dir, dann bleibe hier,“ entschied Gruschenka in ihrem Kummer und lächelte ihm mitleidig zu. Dem Alten schnitt dieses Lächeln wie ein Messer ins Herz, und seine Lippen erzitterten wie von verhaltenen Tränen. Und so blieb der obdachlose Freischlucker bei Gruschenka. Selbst während ihrer Krankheit verließ er sie nicht. Fenjä und ihre Großmutter, die Gruschenkas Köchin war, schickten ihn nicht fort, sondern gaben ihm täglich gut zu essen und machten ihm abends das Bett auf dem Diwan auf. Späterhin gewöhnte sich Gruschenka an ihn, und wenn sie von Mitjä zurückkehrte (den sie sofort täglich besuchte, sobald sie sich nur, nach der Krankheit, hinauswagen durfte), setzte sie sich immer zu Maximoff an den Tisch und begann dann, um den Kummer zu verscheuchen, mit „Maximuschka“ über alle möglichen dummen Dinge zu scherzen, nur um nicht an ihr Leid denken zu müssen. Bei der Gelegenheit stellte es sich heraus, daß „Maximuschka“ auch kleine Geschichten zu erzählen verstand, und so wurde er ihr zu guter Letzt ganz unentbehrlich. Empfing sie doch außer Aljoscha, der nicht einmal an jedem Tage kommen konnte, keinen Menschen. Ihr „Kaufmann“ lag zu der Zeit schwerkrank danieder, er „ging hinüber“, wie man in der Stadt sagte, und er starb auch bald darauf, – eine Woche nach der Gerichtssitzung, die über Mitjäs Schicksal entschied. Eines Tages, drei Wochen vor seinem Tode, ließ er in der Vorahnung seines nahen Endes seine Söhne mit ihren Frauen und Kindern zu sich rufen und befahl ihnen, bei ihm zu bleiben. Was aber Gruschenka betraf, so verbot er den Dienstboten aufs strengste, sie noch zu ihm zu lassen, falls sie aber käme, sollte man ihr sagen: „Er läßt sagen, Sie mögen lange in Freuden leben und ihn ganz vergessen.“ Indessen schickte Gruschenka fast täglich zu ihm, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen.
„Endlich!“ rief sie freudig, als sie Aljoscha erblickte, warf die Karten sofort hin und begrüßte ihn freundschaftlich. „Maximuschka hat mir die ganze Zeit Angst gemacht, er behauptete, du würdest nicht kommen. Ach Gott, wenn du wüßtest, wie nötig du mir bist. Setz dich hierher an den Tisch. Nun, was soll ich bestellen? Kaffee?“
„Ja, meinetwegen,“ sagte Aljoscha und rückte mit dem Stuhl an den Tisch, „ich habe guten Appetit.“
„Das freut mich; Fenjä, Fenjä, schnell Kaffee!“ rief Gruschenka. „Er kocht schon lange und wartet nur auf dich. Fenjä, bring auch die kleinen Pasteten, aber die ganz heißen! Nein, Aljoscha, ich muß dir doch noch erzählen, was ich heute wegen dieser Pastetchen für ein Donnerwetter über mich habe ergehen lassen müssen. Ich brachte ihm nämlich eine ganze Portion davon ins Gefängnis, er aber, was glaubst du wohl, er stieß sie mir zurück und aß sie nicht. Eines davon schleuderte er sogar auf den Fußboden und zerstampfte es mit dem Fuß zu Brei. Darauf sagte ich ihm: ‚Ich werde sie beim Wächter lassen; wenn du sie dann nicht bis zum Abend aufgegessen hast, so bedeutet das, daß du von deiner Bosheit satt geworden bist!‘ und damit ging ich. Wir haben uns doch schon wieder gezankt. Sobald ich nur hinkomme, zanken wir uns.“
Das alles sprudelte aus Gruschenka in einem Augenblick hervor. Maximoff wurde sofort ängstlich, lächelte und schlug die Augen nieder.
„Worüber habt ihr euch denn diesmal gezankt?“ fragte Aljoscha.
„Ja, weißt du, das hätte ich mir nie gedacht, daß wir uns deswegen zanken könnten! Denk dir nur, er war auf den ‚Früheren‘ eifersüchtig! – ‚Warum unterstützest du ihn?‘ fragte er mich, ‚du hast also jetzt angefangen ihn zu unterstützen!‘ Immer muß er eifersüchtig sein, nein wirklich, ohne Eifersucht geht es schon gar nicht! Ob er schläft oder ißt – eifersüchtig ist er immer. Selbst auf Kusjma wurde er in der vorigen Woche eifersüchtig.“
„Aber er wußte doch schon lange von dem ‚Früheren‘?“
„Na selbstverständlich wußte er davon! Vom ersten Tage an hat er es gewußt! heute aber fällt es ihm plötzlich ein, darüber zu schimpfen. Man schämt sich nur zu wiederholen, was er sagt, es ist gar zu blöd! So ein Dummkopf! Als ich fortging, kam gerade Rakitka zu ihm. Vielleicht ist es Rakitka, der ihn aufhetzt, wie? Was meinst du?“ fügte sie wie zerstreut hinzu.
„Er liebt dich, das ist es, liebt dich sehr. Und dazu ist er jetzt sehr gereizt!“
„Wie sollte er denn nicht gereizt sein, wenn sich morgen alles entscheidet! Ich ging heute gerade in der Absicht hin, um ihm wegen morgen ein Wort von mir aus zu sagen, denn glaub mir, Aljoscha, ich kann noch gar nicht daran denken, was morgen sein wird! Du sagst, er sei gereizt, und ich soll etwa nicht gereizt sein? Und er kommt jetzt mit dem Polacken! So ein Dummkopf! Es fehlte nur, daß er noch auf Maximuschka eifersüchtig wird.“
„Meine Frau hat sich meinetwegen auch immer mit Eifersucht geplagt,“ bemerkte vorsichtig Maximoff seinerseits.
„Ach du!“ – Gruschenka lachte unwillkürlich. „Auf wen war sie denn deinetwegen eifersüchtig?“
„Auf die Stubenmädchen.“
„Ach, schweig, Maximuschka, ich bin heute nicht zum Lachen aufgelegt, mich kann heute eher die Wut packen. Auf die Pastetchen spitz dich lieber nicht, ich erlaube dir jetzt nicht davon zu essen, sie würden dir schlecht bekommen. Und auch Likör bekommst du nicht. Da muß man nun auch noch diesen pflegen! Wirklich, ganz als ob mein Haus eine Armenanstalt wäre,“ sagte sie lachend.
„Ich-ich weiß, daß ich Ihre Wohltaten gar nicht verdient habe, daß ich sie gar nicht wert bin,“ sagte Maximoff mit traurigem Stimmchen. „Sie-Sie sollten lieber Ihre Wohltaten anderen zuteil werden lassen, die es mehr verdient haben, die nötiger sind als ich.“
„Ach, Maximuschka, jeder ist nötig, und woran soll man denn erkennen, wer nötiger ist? ... Wenn es doch diesen Polacken überhaupt nicht geben würde! Jetzt ist es auch ihm eingefallen, krank zu werden. Ich war auch bei ihm, Aljoscha. Jetzt werde ich ihm zum Trotz Pastetchen schicken, ich hätte ihm nichts geschickt, da mir aber Mitjä so ungerechte Vorwürfe gemacht hat, so schicke ich sie ihm jetzt erst recht, zum Trotz! ... Ach, da kommt Fenjä mit einem Brief! Natürlich! Wußt ich’s doch! Wieder von den Polacken, wieder betteln sie um Geld!“
Es war tatsächlich ein Brief von Pan Mussjälowitsch, ein sehr langes und verschnörkeltes Schreiben, in dem er bat, ihm drei Rubel zu leihen. Dem Briefe war noch ein anderer Zettel beigelegt: es war ein Revers mit der Bescheinigung des Empfanges und der Verpflichtung, das Geld in drei Monaten wiederzugeben – von beiden Panen unterschrieben. Solcher Briefe mit Reversen hatte Gruschenka von ihrem „Früheren“ inzwischen eine Menge erhalten. Das hatte gleich nach ihrer Krankheit begonnen, vor etwa zwei Wochen. Sie wußte, daß beide während ihrer Krankheit gekommen waren, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Der erste Brief, den sie von ihm erhalten hatte, war sehr lang gewesen: auf einem Bogen Postpapier größten Formats geschrieben, mit einem riesengroßen Familiensiegel, im Sinn ungemein dunkel gehalten, in ungeheuer hochtrabendem Stil, so daß Gruschenka sich kaum bis zur Mitte des Briefes durchgearbeitet und ihn dann fortgeworfen hatte, ohne von diesem ganzen kunstvollen Wortbau etwas verstanden zu haben. Auch war es ihr doch damals nicht um die Polen zu tun gewesen. Nach diesem ersten Brief war am anderen Tage ein zweiter Brief gefolgt, mit der Bitte Pan Mussjälowitschs, ihm auf eine ganz kurze Frist zweitausend Rubel zu leihen. Gruschenka hatte auch auf diesen Brief nichts geantwortet. Darauf war eine ganze Reihe von Briefen gefolgt, täglich je einer, alle gleich würdig und gedrechselt, nur daß in ihnen die erbetene Summe, die stufenweise herabsank, schließlich bei hundert anlangte, dann bei fünfundzwanzig, fünfzehn, zehn Rubel, und eines Tages erhielt Gruschenka einen Brief, in dem sie um einen einzigen Rubel gebeten wurde – wiederum unter Zusendung eines Reverses, den beide unterschrieben hatten. Da hatten sie ihr leid getan, und sie hatte sich plötzlich in der Dämmerung entschlossen, selbst zu ihnen zu gehen.
Sie hatte beide Polen in der größten Misere vorgefunden, ohne Essen, ohne Holz, ohne Zigaretten und bei der Hauswirtin tief verschuldet. Die zweihundertfünfzig Rubel, die sie in Mokroje gewonnen hatten, waren sehr bald (und unbekannt wofür) draufgegangen. Indessen wurde sie zu ihrer nicht geringen Verwunderung von beiden Panen fabelhaft aufgeblasen und selbstbewußt empfangen, mit der größten Beobachtung der Etikette und mit hochtrabenden Reden. Gruschenka hatte ihnen daraufhin nur ins Gesicht gelacht und ihrem „Früheren“ zehn Rubel gegeben. Und gleich darauf war sie zu Mitjä gegangen, dem sie den ganzen Vorfall lachend erzählt hatte, und dieser hatte gleichfalls darüber gelacht. Doch seit dem Tage ließen die stolzen Pane ihr keine Ruhe: täglich bombardierten sie sie mit Briefen, die alle immer dieselbe verschnörkelte Bitte um Geld enthielten, und sie schickte ihnen jedesmal ein paar Rubel. Und nun plötzlich war es Mitjä eingefallen, deswegen eifersüchtig zu werden.
„Ich war so dumm, auf dem Wege zu Mitjä auf einen Augenblick zu ihm zu gehen, denn er ist doch jetzt gleichfalls erkrankt, mein früherer Pan,“ begann Gruschenka wieder eilig und geschäftig, „und ich erzählte es Mitjä lachend, um ihn zu zerstreuen: ‚Denk nur,‘ sagte ich, ‚mein Pole wollte mir wieder auf der Gitarre vorspielen und die alten Lieder singen, wahrscheinlich in der Hoffnung, das würde mich rühren und mich bestimmen, ihn zu heiraten.‘ Und da springt Mitjä plötzlich wie rasend auf, und das Schimpfen geht los ... Jetzt schicke ich aber zum Trotz den Polen die Pastetchen! Fenjä, wen haben Sie da geschickt, wieder das kleine Mädchen? Hier, gib ihr diese drei Rubel, und dann kannst du noch so zehn Pastetchen in Papier einschlagen und mitschicken. Du aber, Aljoscha, mußt unbedingt Mitjä erzählen, daß ich ihnen Pastetchen geschickt habe.“
„Das werde ich bestimmt nicht tun,“ sagte Aljoscha lächelnd.
„Ach, du glaubst, daß er sich quält? Das hat er doch absichtlich getan, nur um mich glauben zu machen, er sei eifersüchtig, ihm selbst aber ist es doch ganz gleichgültig,“ sagte Gruschenka bitter.
„Wieso absichtlich getan?“ fragte Aljoscha.
„Das kannst du wohl wieder, trotz deines Verstandes – nicht verstehen, Aljoschenka. Sieh, nicht das kränkt mich, daß er meinetwegen, da ich nun einmal so eine bin, eifersüchtig ist. Es würde mich viel mehr kränken, wenn er nicht eifersüchtig wäre. Ja, so bin ich. Nicht die Eifersucht kränkt mich, ich bin ja auch ein hartherziger Mensch, und ich bin selbst eifersüchtig. Mich kränkt nur, daß er mich überhaupt nicht liebt und jetzt absichtlich den Eifersüchtigen spielt, das ist es! Bin ich denn etwa blind! Da fängt er jetzt plötzlich an, mir von jener, der Katjä zu erzählen: dieses soll sie sein und wiederum jenes und dann noch was, ‚und sie hat sogar einen berühmten Arzt aus Moskau hergerufen, um mich zu retten, hat auch den besten, den berühmtesten Advokaten verschrieben‘ ... Daraus ersehe ich doch, daß er jetzt nur sie allein liebt, wenn er sie so unverschämt in meiner Gegenwart lobt. Er weiß ja selbst ganz genau, daß er sich mir gegenüber vergangen hat, und da will er nun die ganze Schuld auf mich abwälzen. Dann heißt es: ‚Du hast zuerst mit dem Polacken angefangen, folglich kann ich jetzt auch mit Katjka anfangen.‘ Ich kenne doch die Männer! Jetzt will er auf mich allein die ganze Schuld wälzen. Absichtlich hat er diese Eifersuchtsszene gespielt. Absichtlich hat er es getan, das sage ich dir, nur werde ich ...“
Gruschenka sprach nicht aus, was sie würde ... Sie beugte den Kopf auf den Arm, der auf dem Tisch lag, und weinte wie im Krampf.
„Dmitrij liebt Katerina Iwanowna nicht,“ sagte Aljoscha überzeugt.
„Nun, ob er sie liebt oder nicht liebt, das werde ich bald selbst erfahren,“ sagte Gruschenka, in deren Stimme diesmal eine drohende Note klang. Sie erhob wieder den Kopf, und ihr Gesicht war fast entstellt. Es tat Aljoscha weh, zu sehen, wie ihr sanftes, ruhig-heiteres Gesicht finster und böse geworden war.
„Sprechen wir nicht mehr von diesen Dummheiten!“ brach sie plötzlich ab. „Habe ich dich doch nicht deswegen herbitten lassen. Aljoscha, Täubchen, sag doch, was wird morgen sein, morgen? Das ist ja das einzige, was mich quält! Nur mich allein quält das doch. Wenn ich euch alle ansehe, so muß ich mir immer sagen, daß niemand außer mir daran denkt, daß es niemanden von euch allen etwas angeht. Sag, denkst du wenigstens daran? Morgen wird doch sein Urteil gesprochen! Erzähl mir, Aljoscha, wie geht es eigentlich zu in einer Gerichtssitzung? Wie wird man denn richten? Es ist doch der Diener, der erschlagen hat, der Diener Ssmerdjäkoff! Mein Gott! Man wird ihn doch nicht statt des Dieners verurteilen? Und wird denn niemand für ihn eintreten? Und den Diener haben sie wahrscheinlich überhaupt noch nicht vernommen, was?“
„Man hat ihn sehr scharf verhört,“ sagte Aljoscha nachdenklich, „aber sie scheinen alle übereingekommen zu sein, daß nicht er ihn erschlagen habe. Ssmerdjäkoff ist noch immer krank. Er ist es seit jenem Tage, seit dem epileptischen Anfall ... Er ist tatsächlich krank,“ fügte Aljoscha nochmals hinzu.
„Gott, geh doch du wenigstens zu diesem Advokaten, Aljoscha, und erzähl ihm alles unter vier Augen. Es heißt doch, er sei für dreitausend Rubel aus Petersburg hergekommen.“
„Ja, wir drei haben es zusammen getan, Iwan, Katerina Iwanowna und ich; den Doktor aber hat sie allein für zweitausend aus Moskau verschrieben. Der Advokat Fetjukowitsch hätte wahrscheinlich mehr verlangt, da aber dieser Prozeß in ganz Rußland bekannt geworden ist, da alle Tageszeitungen und Zeitschriften davon sprechen, so hat er um des Ruhmes willen eingewilligt, herzukommen, denn es ist ein gar zu berühmter Fall geworden. Ich habe ihn gestern gesprochen.“
„Nun, und? Hast du ihm alles gesagt?“ fragte sofort Gruschenka erregt.
„Er hörte mich an und sagte nichts. Das heißt, er sagte nur, er habe sich bereits eine bestimmte Meinung gebildet. Er versprach aber, meine Aussagen zu berücksichtigen.“
„Wie das berücksichtigen? Ach, das sind ja doch nur Phrasen! Phrasen von bezahlten Spitzbuben! Sie werden ihn mir nur noch ins Verderben stürzen! Aber der Doktor, wozu hat sie denn den Doktor verschrieben?“
„Als Experten. Sie wollen beweisen, daß Dmitrij verrückt sei und im Wahnsinn, also besinnungslos erschlagen habe.“ Aljoscha lächelte still vor sich hin. „Nur ist Dmitrij damit nicht einverstanden, er wird es um keinen Preis zugeben.“
„Ach, aber das ist doch wahr, wenn er ihn wirklich erschlagen hat!“ rief Gruschenka lebhaft. „Er war ja damals gar nicht bei vollem Verstande, er war ja wirklich wahnsinnig, und ich, ich Scheusal, ich allein war an allem schuld! Nur ist es gar nicht wahr, daß er erschlagen hat, er hat ihn doch gar nicht erschlagen! Und alle beschuldigen sie ihn, alle sagen, er sei es gewesen. Sogar Fenjä hat so ausgesagt, daß schließlich herauskommt, er habe es getan. Und die Aussagen der Kommis von Plotnikoffs, und jener Beamte. Und dann haben noch alle im Gasthause gehört, wie er gedroht hat! Alle, alle sind gegen ihn, und so schwatzen sie jetzt und schnattern wie die Gänse.“
„Ja, die ungünstigen Aussagen haben sich unglaublich vermehrt,“ bemerkte Aljoscha finster.
„Und Grigorij noch dazu, Grigorij Wassiljitsch! Der behauptet ja nach wie vor, daß die Tür offen gewesen sei, behauptet es steif und fest und ohne sich beirren zu lassen! Ich bin selbst einmal zu ihm gegangen, um mit ihm zu sprechen. Er schimpft einen womöglich noch obendrein aus!“
„Ja, Grigorijs Aussage ist vielleicht die verhängnisvollste für Dmitrij,“ meinte Aljoscha.
„Und was das betrifft, daß Mitjä verrückt sei, so ist er ja jetzt wirklich etwas von der Art,“ sagte plötzlich Gruschenka mit einer ganz besonders besorgten und geheimnisvollen Miene. „Weißt du, Aljoschenka, ich wollte eigentlich schon lange mit dir darüber reden: ich gehe jeden Tag zu ihm und muß mich immer mehr über ihn wundern. Sag du mir, was du über ihn denkst: was meinst du, worüber redet er jetzt immer? Zuweilen fängt er an zu sprechen und spricht, spricht – ich weiß nicht wovon, ich denke schon, nun, das wird was sehr Kluges sein, das ist zu hoch für mich, denke ich, bin wahrscheinlich zu dumm dazu. Nur spricht er jetzt immer von einem ‚Kindichen‘, das heißt, von irgendeinem kleinen Kinde, das er immer ‚Kindichen‘ nennt ... ‚Warum,‘ fragte er, ‚warum ist das Kindichen arm? Für das Kindichen muß ich jetzt nach Sibirien gehn, ich habe nicht erschlagen, aber ich muß nach Sibirien gehen!‘ Was das bedeuten soll, was das für ein ‚Kindichen‘ ist, – davon habe ich keine Ahnung! Mir rollten nur die Tränen über die Wangen, als er sprach, denn er sagte das so eigenartig, er wollte wohl selbst weinen. Als er aber sah, daß ich weinte, da küßte er mich plötzlich und bekreuzte mich mit der rechten Hand. Was hat das zu bedeuten, Aljoscha, sag du mir, was ist das für ein ‚Kindichen‘?“
„Rakitin hat sich jetzt angewöhnt, ihn zu besuchen,“ meinte Aljoscha lächelnd, „übrigens ... das kann nicht von Rakitin herrühren. Ich war gestern nicht bei Dmitrij, heute aber werde ich hingehen.“
„Nein, das ist nicht Rakitka, das ist sein Bruder Iwan Fedorowitsch, der ihn verwirrt, seitdem er zu ihm geht, das ist es, was ...“ Gruschenka stockte plötzlich.
Aljoscha sah sie ganz verdutzt an.
„Wie, Iwan geht zu ihm? Ist er denn jemals bei ihm gewesen? Mitjä hat mir doch selbst gesagt, daß Iwan noch kein einziges Mal bei ihm gewesen sei.“
„Ach ... nun, das war wieder echt von mir! Ich habe mich versprochen!“ Gruschenka war etwas betreten, und sie errötete. „Wart, Aljoscha, schweig, mag es denn auch so sein, habe ich mich einmal verraten, so will ich lieber die ganze Wahrheit sagen: Iwan Fedorowitsch ist bis jetzt nur zweimal bei Mitjä gewesen, das erstemal gleich nach seiner Rückkunft aus Moskau – er kam doch damals sofort wieder zurück, ich war noch nicht einmal gesund geworden. Und das zweitemal ist er vor einer Woche bei ihm gewesen. Mitjä aber hat er befohlen, dir nichts davon zu sagen, und überhaupt niemandem: es sollte ein Geheimnis bleiben.“
Aljoscha saß in Gedanken versunken und schien über etwas zu grübeln. Die Nachricht hatte ihn offenbar nicht wenig stutzig gemacht.
„Iwan hat mit mir kein einziges Mal über Mitjä gesprochen,“ sagte er langsam, „und überhaupt hat er in diesen zwei Monaten wenig mit mir gesprochen, und wenn ich zu ihm gegangen bin, ist er über mein Kommen stets ungehalten gewesen, so daß ich ihn jetzt seit drei Wochen nicht mehr gesprochen habe,“ sagte er gleichsam vor sich hin. „Ja ... Wenn er vor einer Woche bei Mitjä gewesen ist, so – allerdings ... in dieser Woche ist auch mir eine gewisse Veränderung an Mitjä aufgefallen ...“
„Nicht wahr? Nicht wahr?“ griff Gruschenka sofort eifrig auf. „Sie haben ein Geheimnis, sicher ein Geheimnis! Mitjä hat mir selbst gesagt, daß sie ein Geheimnis haben, und weißt du, ein solches Geheimnis, daß Mitjä sich darüber nicht mehr beruhigen kann! Früher war er doch noch so heiter, er ist es ja auch jetzt, nur, weißt du, wenn er so den Kopf schüttelt und auf und ab schreitet und sich so mit der rechten Hand in die Haare fährt und die Haare an der rechten Schläfe zupft, dann weiß ich doch, daß er etwas auf der Seele hat, das ihn beunruhigt ... ich kenne ihn doch! ... Sonst war er immer heiter – auch heute war er es!“
„Du sagtest doch, er sei gereizt gewesen?“
„Ja, gewiß, das war er, aber er war dann auch wieder heiter. Er ist eigentlich immer gereizt, plötzlich aber wird er auf eine Minute ganz heiter, und dann ist er plötzlich wieder gereizt. Und weißt du, Aljoscha, ich muß mich immer nur über ihn wundern: denk doch nur, was ihm bevorsteht, er aber kann zuweilen über die geringsten Dummheiten lachen, ganz als ob er ein kleines Kind wäre.“
„Und ist es wirklich wahr, daß er dir verboten hat, mir etwas von Iwans Besuch zu sagen? Hat er sich wirklich so ausgedrückt: ‚sage ihm nichts davon‘?“
„Ja, genau so: sage ihm nichts davon. Dich fürchtet er ja am meisten, Mitjä meine ich. Denn hier handelt es sich um ein Geheimnis, das hat er mir selbst gesagt ... Aljoscha, Täubchen, geh hin und versuch du herauszubekommen, was es ist? – was sie da für ein Geheimnis haben – und komm dann her und sag es mir!“ wandte sich Gruschenka plötzlich flehend an Aljoscha. „Erlöse mich von der Ungewißheit, sage mir alles, damit ich wenigstens weiß, was mich erwartet! Du weißt nicht, wie das ist, sein verfluchtes Schicksal zu ahnen, und doch nichts zu wissen! Geh, Aljoscha, nur deswegen habe ich dich herbitten lassen!“
„Du glaubst, daß es sich dabei um dich handelt? Dann hätte er doch dir nichts von dem Geheimnis gesagt.“
„Ich weiß nicht, um was es sich dabei handelt. Vielleicht will er es mir sagen, wagt es aber nicht. Er will mich nur vorbereiten. Ein Geheimnis, sagt er, sei es; was für ein Geheimnis aber, das hat er mir nicht gesagt.“
„Aber du, was vermutest du denn?“
„Was soll ich vermuten! Mein Ende ist gekommen, das ist es, was ich vermute. Das haben sie alle drei mir bereitet, denn hier steckt doch Katjka dahinter. Von ihr geht alles aus. ‚Katjä ist dieses und Katjä ist jenes,‘ sagt er, das bedeutet also, daß ich nicht dieses und jenes bin. Das sagt er absichtlich, das schickt er voraus – will mich vorbereiten. Verlassen will er mich, sieh, das ist sein ganzes Geheimnis! Das haben sie sich alle drei ausgedacht – Mitjka, Katjka und Iwan Fedorowitsch. Aljoscha, ich wollte dich schon lange fragen ... vor einer Woche teilte er mir auf einmal mit, daß Iwan Fedorowitsch in Katerina Iwanowna verliebt sein soll, und darum so oft zu ihr hingehe. Hat er mir die Wahrheit gesagt, oder hat er gelogen? Sage es mir auf dein Gewissen, schone mich nicht!“
„Ich werde dir die Wahrheit sagen. Iwan ist nicht in Katerina Iwanowna verliebt, so denke ich wenigstens.“
„Das habe auch ich mir damals gleich gedacht! Er belügt mich einfach wie ein Schamloser, das sehe ich jetzt vollkommen ein! Und darum spielt er auch jetzt den Eifersüchtigen, um dann später alles auf mich abwälzen zu können. Er ist doch ein dummer Junge, er versteht ja nichts zu verheimlichen, er ist doch so aufrichtig ... Aber ich werde ihn, ich werde ihn! ‚Du glaubst,‘ sagt er mir, ‚daß ich ihn erschlagen habe‘ – das sagt er mir, mir, das wirft er mir vor! Nun, Gott mit ihm! Aber diese Katjka wird noch etwas von mir zu hören bekommen vor Gericht! Ich werde ihr dort ein paar Worte sagen ... Oh, dort werde ich alles sagen!“
Und wieder weinte sie verzweifelt.
„Höre, Gruschenka, in einem kann ich dich aufs bestimmteste beruhigen,“ sagte Aljoscha und erhob sich. „Erstens, daß er dich liebt, dich mehr als alles auf der Welt liebt, und zwar dich ganz allein, das kannst du mir glauben. Ich weiß es. Ich weiß es ganz gewiß. Und zweitens erkläre ich dir, daß ich, was das Geheimnis betrifft, ihn nicht ausforschen will. Wenn er es mir heute selbst mitteilt, so werde ich ihm offen sagen, daß ich dir versprochen habe, dich davon zu unterrichten. Und dann werde ich heute noch zu dir kommen, um dir alles zu sagen. Nur ... glaube ich ... daß hier Katerina Iwanowna nicht im Spiele ist, ich glaube vielmehr, daß das Geheimnis etwas ganz anderes betrifft. Davon bin ich fest überzeugt. Und es sieht auch gar nicht danach aus, als ob es sich dabei um Katerina Iwanowna handeln könnte. Wenigstens scheint es mir nicht so. Jetzt aber leb wohl. Auf Wiedersehen.“
Er drückte ihr fest die Hand. Gruschenka weinte immer noch. Aljoscha sah, daß sie seinen Beruhigungen wenig Glauben schenkte, aber auch das war ihr schon eine Erleichterung, daß sie sich einmal hatte aussprechen können. Es tat ihm weh, sie so verlassen zu müssen, doch hatte er keine Zeit, noch länger bei ihr zu bleiben. Es stand ihm vieles bevor, was er noch vor dem Abend auszurichten hatte.