Ganz zuerst mußte er zu Chochlakoffs gehen. Er beeilte sich, schneller hinzukommen, um sich nicht bei Mitjä zu verspäten. Frau Chochlakoff war schon seit drei Wochen krank; der eine Fuß war ihr, weiß Gott wodurch, ein wenig geschwollen. Sie lag zwar nicht zu Bett, verbrachte aber doch die Zeit in ihrem Boudoir halbliegend auf der Chaiselongue, stets in ein reizendes, doch nichtsdestoweniger wohlanständiges Deshabillé gehüllt. Aljoscha hatte bemerkt, daß sie trotz ihrer Krankheit gerade jetzt angefangen hatte, ganz besonders Toilette zu machen: es waren ihm die vielen duftigen Spitzen, Plissees und Volants an ihren Toiletten aufgefallen, und er glaubte mit harmlosem Lächeln, die Ursache dieser Veränderung erraten zu haben, doch verscheuchte er sofort alle ähnlichen Gedanken als müßig, – verscheuchte sie, nicht ohne Unwillen über sich selbst. In den letzten zwei Monaten hatte sie nämlich, unter den übrigen Bekannten ihres Hauses, auch der junge Perchotin besucht. Aljoscha war seit vier Tagen nicht mehr bei Chochlakoffs gewesen, und als er jetzt eintrat, wollte er geradeswegs zu Lise gehen, denn er war nur ihretwegen gekommen. Sie hatte die Zofe schon am vorhergehenden Tage zu ihm geschickt, mit der dringenden Bitte, so bald als möglich zu ihr zu kommen, da sie ihn in einer „sehr wichtigen Angelegenheit“ sprechen müsse, – was aus gewissen Gründen Aljoscha nicht wenig interessierte. Doch während nun die Zofe zu Lisa ging, um ihn anzumelden, erschien mittlerweile der Diener mit der Bitte Frau Chochlakoffs – die inzwischen erfahren hatte, daß er gekommen war –, „nur auf einen Augenblick“ bei ihr vorzusprechen. Aljoscha überlegte, was er tun sollte, und sagte sich, daß es besser sei, zuerst die Bitte der Mama zu erfüllen, da sie sonst immer wieder zu Lise schicken werde. Frau Chochlakoff ruhte in einem ganz besonders schönen Gewande auf der Couchette in ihrem Boudoir und schien erregt zu sein.
„Jahrhunderte, ganze Jahrhunderte habe ich Sie nicht mehr gesehen! Eine ganze Woche ist es her, schämen Sie sich! ach! nein, richtig, – Sie waren ja vor vier Tagen, am Mittwoch, noch hier. Sie wollen jetzt wieder zu Lise! Ich bin überzeugt, daß Sie auf den Fußspitzen zu ihr schleichen wollten, damit ich es nicht hörte. Ach, lieber, lieber Alexei Fedorowitsch, wenn Sie wüßten, wie sie mich jetzt beunruhigt! Doch davon später. Zwar ist das die Hauptsache, doch trotzdem lassen Sie uns später darüber sprechen. Lieber Alexei Fedorowitsch, ich vertraue Ihnen meine Lise ganz und gar an. Nach dem Tode des Staretz Sossima – gib seiner Seele, Herr, Frieden und Ruh! (sie bekreuzte sich) – nach seinem Tode kommen Sie mir immer wie ein Einsiedler vor, so allerliebst Ihnen auch dieser neue Anzug steht. Wo haben Sie nur hier einen so vorzüglichen Schneider gefunden? Doch nein, nein, das ist nicht die Hauptsache, davon später. Verzeihen Sie, daß ich Sie zuweilen Aljoscha nenne, ich bin doch eine alte Frau,“ sagte sie mit kokettem Lächeln, „und daher ist mir vieles erlaubt, aber auch davon sprechen wir später. Ach, die Hauptsache, wenn ich nur nicht immer die Hauptsache vergäße! Bitte erinnern Sie mich daran, sobald ich mich wieder verliere, sagen Sie einfach: ‚Und die Hauptsache?‘ Ach, wie soll ich wissen, was jetzt die Hauptsache ist! Seit dem Augenblick, da Lise ihr Gelöbnis zurücknahm – ihr kindisches Gelöbnis, Alexei Fedorowitsch, Sie zu heiraten –, haben Sie natürlich eingesehen, daß alles nur die kindische Phantasie eines kranken Mädchens war, das zu lange im Fahrstuhl gesessen hat, – Gott sei Dank, daß sie jetzt wieder gehen kann! Dieser neue Doktor, den Katjä aus Moskau verschrieben hat – für Ihren unglücklichen Bruder, der morgen ... Ach, sagen Sie doch, was wird morgen sein? Ich sterbe schon beim bloßen Gedanken daran! Hauptsächlich aber vor Interesse ... Ach nein, ich wollte doch sagen, dieser Doktor war gestern bei uns, um Lise zu untersuchen ... Aber das war es ja gar nicht, was ich erzählen wollte. Sehen Sie, ich bin jetzt ganz aus dem Konzept gekommen. Ich beeile mich immer so entsetzlich. Warum ich es aber tue, das weiß ich wirklich nicht. Ich höre schon völlig auf, zu wissen ... Für mich hat sich jetzt alles zu einem einzigen Knäuel zusammengewickelt. Ich fürchte schon, daß Sie die Geduld verlieren und plötzlich hinauslaufen werden, und dann habe ich Sie zum letztenmal gesehen. Ach, mein Gott! Da sitzen wir und reden, und ich habe ganz vergessen ... Kaffee, Julija, Glafira, Kaffee!“
Aljoscha beeilte sich, für Kaffee zu danken. Er sagte, daß er soeben getrunken habe.
„Bei wem?“
„Bei Agrafena Alexandrowna.“
„Bei ... bei dieser Person? Ach, sie allein hat ja alle zugrunde gerichtet, doch übrigens, ich weiß nicht, jetzt sagt man, sie sei heilig geworden, nur finde ich, daß sie es dann etwas spät geworden ist. Besser wäre gewesen, sie wäre es früher geworden, als es not tat, denn jetzt, was für einen Nutzen kann das jetzt noch bringen? Schweigen Sie, schweigen Sie, Alexei Fedorowitsch, ich will Ihnen nur so viel sagen, daß ich wahrscheinlich nichts sagen werde. Dieser schreckliche Prozeß ... Ich werde unbedingt hinfahren, ich bereite mich schon vor, man wird mich im Lehnstuhl hineintragen. Ich kann die ganze Zeit sitzen, – Sie wissen doch, daß ich als Zeugin vorgeladen bin? Wie soll ich nur reden? Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Man muß doch einen Eid ablegen, nicht wahr?“
„Ja, aber ich glaube nicht, daß Sie so werden erscheinen können.“
„Ich kann doch sitzen! Ach, Sie bringen mich wieder aus dem Konzept. Dieser Prozeß, dieser entsetzliche Prozeß, und dann gehen alle nach Sibirien, andere heiraten wiederum, und alles vergeht so schnell, so schnell, und alles verändert sich, und schließlich ist nichts, alle sind Greise und blicken ins Grab. Nun, meinetwegen, mögen sie doch, ich bin müde. Diese Katjä – cette charmante personne, sie hat alle meine Hoffnungen vernichtet! Jetzt wird sie einem Ihrer Brüder nach Sibirien folgen, und Ihr anderer Bruder wird dann wieder ihr folgen und in der nächsten Stadt wohnen, und alle werden sie sich gegenseitig quälen. Das bringt mich um meinen letzten Verstand. Und vor allen Dingen dieses Gerede! In allen Petersburger und Moskauer Zeitungen ist darüber millionenmal gesprochen worden. Ach ja, denken Sie sich, auch von mir ist dabei die Rede, es heißt, ich sei die, ‚liebe Freundin‘ Ihres Bruders gewesen! – ich will kein häßliches Wort aussprechen, nur denken Sie sich so etwas, können Sie sich das vorstellen!“
„Das ist unmöglich! Wo hat man das geschrieben?“
„Ich werde es Ihnen sofort schwarz auf weiß zeigen. Gestern erhielt ich es – gestern las ich es selbst zum erstenmal. Sehen Sie hier, in der Petersburger Zeitung ‚Gerüchte‘. Dieses Blatt wird erst seit einem Jahr herausgegeben – da abonnierte ich auf dasselbe, denn ich liebe sehr Gerüchte, und das habe ich jetzt davon: Da, sehen Sie, was das für ‚Gerüchte‘ sind! Hier, sehen Sie hier, lesen Sie das.“
Sie reichte Aljoscha ein Zeitungsblatt, das unter ihrem Kissen gelegen hatte, und zeigte ihm die Stelle.
Sie war nicht nur verstört, sie schien plötzlich ganz gebrochen zu sein. Vielleicht hatte sich infolge dieser Zeitungsgeschichte tatsächlich alles in ihrem Kopf zu einem Knäuel zusammengeballt. Die Zeitungsente war allerdings unmißverständlich – und nicht weniger verfänglich. Sie mußte die arme Dame sehr empfindlich kränken, doch zum Glück war Frau Chochlakoff an diesem Tage nicht fähig, nur an eine Sache zu denken, und so konnte sie bereits nach einer Minute die Zeitung mit allen Klatschereien vergessen und sich mit anderem beschäftigen. Aljoscha wußte, daß man in ganz Rußland über den berühmten Karamasoffschen Prozeß sprach, und er hatte in diesen zwei Monaten unter anderen richtigen Nachrichten auch ganz unglaubliche Lügengeschichten gelesen, sowohl über die Karamasoffs im allgemeinen, wie auch speziell über sich. Z. B. hatte es an einer Stelle geheißen, daß er, Aljoscha, aus Angst, nach dem Verbrechen des Bruders Einsiedler geworden sei und sich als Trappist von der Welt abgeschlossen habe; in einem anderen Blatt war diese Nachricht in Abrede gestellt und geschrieben worden, er habe zusammen mit seinem Staretz Sossima die Klosterkasse aufgebrochen und bestohlen und sei dann entflohen. Die jetzt erwähnte Nachricht in den „Gerüchten“ war wie gewöhnlich betitelt: „Aus Skotoprigonjewsk [26] (so heißt nämlich unser Städtchen – leider! Ich habe seinen Namen lange genug verheimlicht). Zum Prozeß Karamasoff.“ Es war nur eine kürzere Nachricht, und über Frau Chochlakoff war direkt nichts gesagt – überhaupt waren keine Namen genannt. Es wurde mitgeteilt, daß der Vatermörder, den man jetzt unter allgemeinem Aufsehen zu richten sich anschicke, Hauptmann a. D. dieses und dieses Linienregiments, in seinem faulen Leben nichts anderes getan habe – abgesehen davon, daß er schon von Natur ein Verbrecher sei und für die Leibeigenschaft eintrete –, als daß er seine Zeit mit Liebeleien verbracht. Besonders aber hätte er „Damen, die sich in der Einsamkeit langweilten“, gefesselt. Nun hätte sich eine von ihnen, „eine von den sich langweilenden Witwen“, die sich jünger machte, obgleich sie bereits Mutter einer erwachsenen Tochter war, dermaßen in ihn verliebt, daß sie ihm noch zwei Stunden vor dem Verbrechen dreitausend Rubel angeboten hätte, allerdings unter der Bedingung, daß er mit ihr nach Sibirien entfliehe, um dort in den Goldgruben Geld zu suchen. Der Bösewicht aber, so hieß es weiter, habe vorgezogen, seinen Vater zu erschlagen und ihn um genau dreitausend Rubel zu berauben, in der Hoffnung, ungestraft zu entkommen und nicht mit den „vierzigjährigen Reizen“ seiner gelangweilten Witwe nach Sibirien ziehen zu müssen. Diese in scherzhaftem Ton gehaltene Korrespondenz schloß, wie es sich gehört, mit Äußerungen edlen Unwillens über die Unsittlichkeit des Vatermordes und der Leibeigenschaft. Nachdem Aljoscha alles interessiert gelesen hatte, faltete er das Blatt zusammen und gab es Frau Chochlakoff zurück.
„Das bin doch ich!“ rief sie sofort ganz verzweifelt aus. „Ich, ich habe ihm doch kaum eine Stunde vor dem Morde gesagt, er solle in die Goldgruben fahren, – und jetzt schreiben sie plötzlich ‚vierzigjährige Reize‘! Habe ich es denn deswegen getan? Das ist absichtlich so geschrieben! Möge ihm der ewige Richter die vierzigjährigen Reize ebenso verzeihen, wie ich ihm verzeihe, aber abgesehen davon – das ist doch ... Wissen Sie auch, wer das geschrieben hat? Das ist ja Ihr Freund Rakitin!“
„Das wäre möglich,“ sagte Aljoscha, „zwar habe ich nichts davon gehört ...“
„Er ist es bestimmt, ich weiß es genau, er, er ganz allein! Ich habe ihm doch die Tür gewiesen ... Sie kennen doch schon die ganze Geschichte?“
„Ich weiß, daß Sie ihn gebeten haben, hinfort Ihr Haus nicht mehr zu betreten, weswegen aber – das habe ich ... wenigstens von Ihnen, noch nicht gehört ...“
„Aha, dann haben Sie es also von ihm gehört? Nun was, ist er sehr empört über mich?“
„Ja, aber über wen zieht er denn nicht her? Doch warum Sie ihm eigentlich verboten haben, Sie zu besuchen, das habe ich auch von ihm nicht erfahren können. Überhaupt sehe ich ihn jetzt nur sehr selten. Ich stehe mich nicht besonders mit ihm.“
„Nun, dann werde ich Ihnen alles sagen und beichten, es ist ja nichts mehr daran zu ändern ... Ich trage nämlich selbst ein wenig Schuld an der ganzen Sache. Aber nur ein wenig, ganz, ganz wenig, so daß davon vielleicht überhaupt nicht die Rede sein kann. Sehen Sie, mein Liebling“ (auf Frau Chochlakoffs Lippen erschien plötzlich ein liebes, schelmisches und doch recht rätselhaftes Lächeln), „sehen Sie, ich vermute ... Sie verzeihen mir doch, Aljoscha, ich rede jetzt mit Ihnen wie eine Mutter ... ach nein, nein, im Gegenteil, wie mit meinem Vater ... denn Mutter paßt hierbei ganz und gar nicht ... Also sagen wir, ich rede zu Ihnen, als wenn Sie der Staretz Sossima wären, und ich ihm beichtete, ja, das wäre der beste Vergleich: Ich habe Sie doch vorhin schon einen Einsiedler genannt. Nun, also dieser arme Junge, Ihr Freund Rakitin – Gott, ich kann mich wirklich kaum über ihn ärgern! Ich ärgere mich, ja, gewiß, aber im Grunde doch nicht sehr! Kurz, dieser leichtsinnige junge Mann läßt es sich plötzlich – denken Sie sich nur! – läßt es sich plötzlich, glaube ich, einfallen, sich in mich zu verlieben. Erst später, viel später bemerkte ich es, zuerst aber, also ungefähr vor einem Monat, begann er mich häufiger zu besuchen, er kam sogar fast täglich, er hatte mir auch früher schon seine Aufwartung gemacht. Ich vermutete zuerst natürlich noch nichts ... und dann kam es plötzlich wie eine Erleuchtung über mich, und ich fing an einiges zu bemerken – zu meiner größten Verwunderung, wie Sie sich denken können. Wie Sie wissen, empfange ich seit einiger Zeit Herrn Perchotin, Pjotr Iljitsch, Sie haben ihn doch so oft hier angetroffen. Nicht wahr, er ist doch ein ernster, würdiger Mann, trotz seiner jungen Jahre? Er kommt ungefähr in drei Tagen nur einmal – und doch könnte er weit öfter kommen. Und immer ist er elegant gekleidet. Ich liebe überhaupt sehr unsere Jugend, Aljoscha, besonders, wenn es talentvolle, wohlerzogene Menschen sind, wie zum Beispiel Sie. Er aber hat, glauben Sie mir, einen fast staatsmännischen Verstand! Und wie wundervoll er spricht. Ich werde unbedingt meinen ganzen Einfluß verwenden, um ihm die Stellung zu verschaffen, die seinen Fähigkeiten zukommt. Das ist doch ein zukünftiger Diplomat! An jenem entsetzlichen Tage hat er mich so gut wie vom Tode errettet, als er in der Nacht herkam! Nun, Ihr Freund Rakitin aber kommt immer in so greulichen Stiefeln und schiebt sie dann noch obendrein so weit auf dem Teppich vor ... mit einem Wort, er begann schon einige Andeutungen zu machen, und einmal drückte er mir beim Abschied ganz unglaublich fest die Hand. Kaum aber hatte er mir so schmerzhaft die Hand gepreßt, als mein Fuß krank wurde. Rakitin hatte auch früher schon Pjotr Iljitsch bei mir angetroffen, und glauben Sie mir, immer gingen sie wie die Kampfhähne aufeinander los, immer versuchte Rakitin, ihn irgendwie anzugreifen. Ich betrachtete sie dann nur stillschweigend und dachte mir mein Teil. Und da, eines schönen Tages saß ich allein, das heißt ich lag damals hier auf der Couchette, und plötzlich wird mir Michail Iwanowitsch Rakitin gemeldet. Er kommt, und stellen Sie sich so etwas vor – er überreicht mir ein Gedicht, das er auf meinen kranken Fuß gemacht hat, er hat das ‚kranke Füßchen‘ in Versen besungen! Warten Sie, wie war es doch:
‚Ach, wie ist doch dieses Füßchen,
Das jetzt krank sein soll, entzückend ...‘
oder so ähnlich, ich kann alles eher, als Verse behalten. Ich habe das Gedicht hier irgendwo, ich werde es Ihnen später zeigen. Und wissen Sie, es war darin nicht nur vom Füßchen die Rede, sondern es handelte sich um eine belehrende Idee, nur habe ich vergessen, um welch eine eigentlich. Nun, ich lobte natürlich das Gedicht, und er war offenbar sehr geschmeichelt. Da aber erscheint plötzlich Pjotr Iljitsch, und Michail Iwanowitsch wird finster wie die Nacht. Ich bemerkte sofort, daß er ihm sehr ungelegen kam, da er wahrscheinlich nach dem Gedicht noch anderes hatte sagen wollen. Und da nahm ich denn das Gedicht und zeigte es Pjotr Iljitsch, ohne zu sagen, wer es verfaßt hatte. Ich bin aber überzeugt, überzeugt sage ich Ihnen, daß er sofort erriet, wer der Dichter war, obgleich er auch jetzt noch immer sagt, er hätte es nicht erraten, – aber das tut er ja absichtlich. Nun, Pjotr Iljitsch lachte sofort hell auf und dann begann er zu kritisieren: ganz erbärmliche Verschen wären das, sagte er, die kann höchstens ein Seminarist verbrochen haben, und, wissen Sie, er sagte es mit so einer Sicherheit – und so überlegen urteilte er! Da aber geriet Ihr Freund, anstatt gleichfalls zu lachen, geradezu außer sich. Gott, ich glaubte schon, sie würden handgemein werden. ‚Ich habe dieses Gedicht verfaßt,‘ sagte er plötzlich. ‚Ich habe es nur zum Scherz geschrieben,‘ sagt er, ‚denn im allgemeinen halte ich es für eine Unwürdigkeit, Gedichte zu schreiben ... Nur ist mein Gedicht gut. Ihrem Puschkin will man für seine Gedichte über die Frauenfüßchen ein Denkmal errichten, mein Gedicht drückt aber noch eine besondere Idee aus. Im übrigen,‘ sagt er, ‚sind Sie ja schließlich doch nur ein Anhänger der konservativen Partei, der gegen die Aufhebung der Leibeigenschaft ist. Sie,‘ sagte er, ‚wissen überhaupt nichts von Humanität, von den zeitgenössischen Gefühlen fühlen Sie überhaupt nichts, die menschliche Entwicklung hat Sie überhaupt noch nicht berührt, Sie sind nur ein höherer Beamter, der Schmiergelder nimmt!‘ Da aber unterbrach ich ihn, das war zuviel! Pjotr Iljitsch aber blieb ganz ruhig und kühl: er blickte ihn nur spöttisch an, hörte ihm gleichmütig zu und machte dann seine Entschuldigung. ‚Ich wußte nicht, daß Sie der Verfasser sind,‘ sagte er. ‚Wenn ich es gewußt hätte, so hätte ich das Gedicht gelobt und nicht getadelt ... Die Dichter,‘ sagte er, ‚sind heutzutage alle sehr empfindlich ...‘ Kurz, eine Menge ähnlicher spöttischer Bemerkungen unter dem Anschein der höflichsten Entschuldigungen. Er hat mir später selbst erklärt, daß es Spötteleien waren, zuerst glaubte ich, er meinte es wirklich ernst damit. Ich lag hier, wie ich auch jetzt hier liege, und dachte so bei mir: was soll ich tun, soll ich nun Michail Iwanowitsch die Tür weisen dafür, daß er in meinem Hause so meine Gäste zu beleidigen wagt? Und, glauben Sie mir, ich lag, ich bedeckte die Augen mit der Hand und dachte bei mir: Soll ich es tun oder soll ich es nicht tun? Und ich konnte mich nicht entscheiden, und ich quälte mich, und das Herz klopfte: Soll ich oder soll ich nicht? Die eine Stimme sagte ja, die andere nein. Kaum aber hatte die Stimme nein gesagt – da tat ich es. Und gleich darauf fiel ich in Ohnmacht. Nun, da gab es dann natürlich eine große Aufregung. Darauf erhob ich mich und sagte Michail Iwanowitsch, es täte mir leid, ihm sagen zu müssen, daß ich ihn nicht mehr in meinem Hause empfangen könne. Und das war alles. Ach, Alexei Fedorowitsch, ich weiß ja selbst, daß es nicht gut von mir war, daß es eine erlogene Handlung von mir war, ich ärgerte mich ja gar nicht über ihn, aber es hatte mir plötzlich geschienen – daß es so plötzlich kam, war ja das ganze Verhängnis – es hatte mir geschienen, daß es sich sehr schön machen würde, wenn ich es sagte ... Nur glauben Sie mir, diese Szene war wirklich aufrichtig von mir, ich weinte sogar, und später habe ich noch tagelang darüber geweint ... Nur weiß ich nicht mehr, wie ich eines schönen Tages nach dem Essen plötzlich den ganzen Vorfall vergaß. Und da stellte er denn seine Besuche ein, seit zwei Wochen habe ich ihn nicht mehr gesehen, und so habe ich mich schon gefragt: Sollte er denn wirklich überhaupt nicht mehr kommen? Das war noch gestern. Und da erhalte ich plötzlich abends die ‚Gerüchte‘. Ich las sie und schlug die Hände zusammen! Wer soll denn das geschrieben haben, wenn nicht er? Er ist von mir nach Haus gegangen, hat sich hingesetzt und geschrieben, abgeschickt, und nun haben wir es hier gedruckt! Das war ja doch vor zwei Wochen! Ach, Aljoscha, es ist schrecklich, was ich rede! Und immer gar nicht davon, wovon ich eigentlich reden will! Es spricht sich ganz von selbst.“
„Ich habe heute leider sehr wenig Zeit, ich muß mich beeilen, um noch rechtzeitig zu meinem Bruder ins Gefängnis zu kommen,“ stotterte Aljoscha und machte gleichzeitig den Versuch, sich von der lebhaften Dame zu verabschieden, doch wurde er sofort von ihr unterbrochen.
„Da ist es ja! Gott sei Dank, Sie haben mich daran erinnert! Hören Sie, was ist das, ein Affekt?“
„Was für ein Affekt?“ fragte Aljoscha verwundert.
„Ein gerichtlicher Affekt. Das ist so ein Affekt, ich verstehe es selbst nicht zu erklären, aber jedenfalls wird einem dann alles verziehen. Was Sie auch verbrochen hätten – Ihnen wird sofort alles verziehen.“
„Ich verstehe nicht recht, was Sie meinen.“
„Hören Sie, hören Sie: Diese Katjä ... Ach, sie ist ein so liebes, liebes Geschöpf, nur kann ich auf keine Weise herausbekommen, in wen sie nun eigentlich verliebt ist! Vor kurzem saß sie noch bei mir, ich konnte aber nichts erraten. Um so weniger, als sie jetzt selbst anfängt mit mir so oberflächlich zu reden, sie interessiert sich jetzt scheinbar nur noch für meine Gesundheit und sonst für nichts, und so hat sie jetzt auch diesen Ton angenommen. Ich habe mir schon gesagt: Nun, Gott mit ihr, mag sie doch ... Ach ja, richtig, also der Affekt: Dieser Doktor ist jetzt angekommen ... Wissen Sie, daß er schon angekommen ist? Ach, nun, wie sollten Sie es denn nicht wissen, der die Verrückten durchschaut, Sie haben ihn doch selbst hergerufen, das heißt, nein, nicht Sie, sondern Katjä. Immer Katjä! Nun, das ist einfach so: Es sitzt ein ganz gesunder Mensch, der nicht ein bißchen verrückt ist, und plötzlich hat er einen Affekt. Er weiß sehr wohl, was er tut, er ist vollkommen bei Sinnen, doch trotzdem ist er im Affekt. Nun, so ist denn auch Ihr Bruder bestimmt im Affekt gewesen. Das hat man jetzt, vor kurzem, als die neuen Gerichte eingeführt wurden, sofort entdeckt. Das ist wiederum eine Wohltat der neuen Gerichte. Dieser Doktor war auch bei mir, um von mir zu erfahren, wie Ihr Bruder damals, kurz vor dem Morde, an jenem Abend, sich bei mir aufgeführt habe? Wie soll er denn nicht im Affekt gewesen sein? Er kommt herein und schreit: Geben Sie mir Geld, dreitausend Rubel, sofort, – und dann läuft er hinaus und erschlägt den Vater. Ich will nicht, sagt er womöglich noch, ich will nicht erschlagen, doch da ist es schon gegen seinen Willen geschehen. Deswegen wird man ihn jetzt auch freisprechen, weil er im Affekt, sozusagen gegen seinen Willen, erschlagen hat.“
„Aber er hat ja gar nicht den Vater erschlagen,“ unterbrach sie Aljoscha etwas scharf. Unruhe und Ungeduld erfaßten ihn immer mehr.
„Ich weiß, ich weiß, Grigorij hat Ihren Vater erschlagen ...“
„Was, Grigorij? Wieso?“ rief Aljoscha aufs äußerste erregt.
„Selbstverständlich, wer denn sonst? Nachdem ihn Ihr Bruder mit dem Keulenschlage zu Boden gestreckt hatte, lag er bewußtlos am Zaun, dann aber stand er auf, sah, daß die Tür offen war, ging hin und erschlug Ihren Vater.“
„Aber warum, warum?“
„Ganz einfach, weil er einen Affekt hatte. Nach dem Schlage erwachte er, bekam einen Affekt, ging hin und erschlug. Und was das betrifft, daß er diese Tat leugnet, so ist es doch sehr leicht möglich, daß er sich ihrer gar nicht mehr erinnert. Nur sehen Sie: Es wäre viel besser, wenn Dmitrij Fedorowitsch es getan hätte. Und er hat es ja auch getan, ganz abgesehen davon, daß ich sage, Grigorij hätte es getan. Aber es ist ja bestimmt Dmitrij Fedorowitsch gewesen, und das ist auch viel, viel besser! Ach, nicht deswegen besser, weil der Sohn dann den Vater erschlagen hat, das meine ich nicht, Kinder müssen, im Gegenteil, ihre Eltern immer achten, – nur wäre es trotzdem besser, wenn er es getan hätte. Dann haben Sie doch gar keinen Grund mehr, zu weinen, da er doch, ohne zu wissen, was er tat, den Vater erschlagen hat, oder richtiger, er wußte alles, was er tat, wußte aber nur nicht, was mit ihm selbst geschah. Nein, möge man ihn lieber auf Grund des Affektes freisprechen. Das wäre so human, und zudem würde man endlich einmal die Wohltat des neuen Gerichtes einsehen. Denken Sie nur, ich wußte bis jetzt noch nichts davon, als ich aber gestern davon erfuhr, traf es mich dermaßen, daß ich sofort zu Ihnen schicken wollte, um Sie herzubitten. Und dann, wenn er freigesprochen ist, werde ich ihn unverzüglich zu mir zum Diner einladen – ihn und alle meine Bekannten. Dann können wir auf das Wohl der neuen Gerichte trinken. Ich glaube nicht, daß er gefährlich sein wird, und zudem kann ich ja so viel Gäste einladen, daß man ihn im äußersten Fall bändigen könnte. Und dann könnte er in einer kleinen Stadt Friedensrichter werden oder so etwas Ähnliches, denn wer selbst vor Gericht gewesen ist, der kann am besten andere richten. Sagen Sie doch, bitte, wer ist denn jetzt in unserer Zeit nicht im Affekt? Wir sind es doch alle, ohne Ausnahme: Sie, ich, alle, alle, und wieviel andere Beispiele! Da sitzt zum Beispiel ein Mensch, singt eine Romanze, plötzlich gefällt ihm irgend etwas nicht, er nimmt eine Pistole und erschießt den ersten besten, und darauf wird er freigesprochen, und alle verzeihen ihm. Ich habe das vor kurzem gelesen. Und denken Sie, alle Doktoren geben ihm recht. Die Doktoren sprechen jetzt einen jeden frei, einen jeden. Aber ich bitte Sie, selbst Lise ist bei mir im Affekt, noch gestern habe ich ihretwegen geweint, vorgestern gleichfalls. Erst heute erriet ich, daß es bei ihr einfach ein Affekt ist. Ach, Lise machte mir soviel Sorgen! Ich glaube, sie ist ganz von Sinnen. Warum hat sie Sie hergerufen? Sie hat es doch getan, oder sind Sie von selbst zu ihr gekommen?“
„Ja, sie hat mich gerufen, und ich werde jetzt zu ihr gehen,“ sagte Aljoscha, der sich entschlossen erhob.
„Ach, lieber, lieber Alexei Fedorowitsch, das ist ja vielleicht gerade die Hauptsache!“ rief sofort Frau Chochlakoff mit Tränen in den Augen. „Gott ist mein Zeuge, daß ich Ihnen Lise von ganzem Herzen anvertraue, und es hat ja auch schließlich weiter nichts zu sagen, daß sie Sie heimlich hinter meinem Rücken zu sich ruft. Aber Iwan Fedorowitsch, Ihrem Bruder, – verzeihen Sie, daß ich es so offen sage –, nein, dem kann ich meine Tochter nicht so leichten Herzens anvertrauen, wenn ich ihn auch nach wie vor für den ritterlichsten jungen Mann halte. Und denken Sie sich nur, jetzt ist er plötzlich bei Lise gewesen, und ich habe nichts davon gewußt!“
„Wie? Was? Wann?“ fragte Aljoscha äußerst erstaunt. Er setzte sich nicht wieder hin, sondern hörte stehend zu.
„Ich werde Ihnen sofort alles erzählen, habe ich Sie doch vielleicht nur deswegen herrufen lassen, denn ich weiß wirklich nicht mehr, warum ich es eigentlich tat. Also hören Sie: Iwan Fedorowitsch ist nach seiner Rückkehr aus Moskau im ganzen nur zweimal bei mir gewesen, daß erstemal, um als Bekannter seine Visite zu machen, und das zweitemal, das war vor nicht langer Zeit, da hatte er erfahren, daß Katjä bei mir war, und so trat er denn auf einen Augenblick ein. Ich habe natürlich keine Ansprüche darauf, daß er mich oft besuche, da ich ja weiß, wieviel Scherereien er auch ohnedem schon hat, vous comprenez – toute cette affaire et la mort terrible de votre papa. Und da erfahre ich nun plötzlich, daß er wieder hier gewesen sei, nur nicht etwa bei mir, sondern bei Lise! Das war vor ungefähr sechs Tagen. Er war gekommen, hatte fünf Minuten bei ihr gesessen und war dann wieder gegangen. Ich aber erfuhr das erst nach ganzen drei Tagen durch Glafira, so daß es mich sofort stutzig machte. Ich rief Lise unverzüglich zu mir, sie aber lachte nur: er glaubte, sagte sie, daß Sie schliefen, und sprach bei mir vor, um sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen. So war es natürlich auch gewesen. Nur Lise, Lise, o Gott, was sie mir für Sorgen macht! Stellen Sie sich vor, plötzlich hat sie in einer Nacht – das war vor ungefähr vier Tagen, gleich nachdem, als Sie das letztemal hier waren und fortgingen – plötzlich hat sie in der Nacht einen Anfall! Warum habe ich nie solche Anfälle? Darauf hat sie noch am zweiten und dann noch am dritten Tage Anfälle, und dann – gestern war’s – plötzlich dieser Affekt! Mit einemmal schreit sie: ‚Ich hasse Iwan Fedorowitsch, ich verlange von Ihnen, daß Sie ihn überhaupt nicht mehr empfangen, daß Sie ihm verbieten, uns zu besuchen!‘ Ich war einfach starr. Und so plötzlich! Ich sagte ihr nur: Warum sollte ich denn einen so prächtigen jungen Mann nicht empfangen, der außerdem von so fabelhafter Intelligenz ist und nun noch so viel Unglück zu ertragen hat, denn alle diese Geschichten – die sind doch Unglück, aber kein Glück, nicht wahr? Und denken Sie sich, Sie lacht mir daraufhin ganz unverhohlen ins Gesicht und lacht dazu noch so, wissen Sie, so kränkend! Nun, ich sagte mir, du kannst froh sein, daß du sie wenigstens erheitert hast, jetzt werden die Anfälle vergehen, um so mehr, als ich selbst bereits beabsichtigte, Iwan Fedorowitsch wegen seiner sonderbaren Visiten bei meiner Tochter, ohne meine Erlaubnis, zur Rede zu stellen. Heute morgen erwacht Lise, ärgert sich wegen irgendeiner Kleinigkeit über Julija und schlägt sie mit der Hand ins Gesicht. Denken Sie sich – sie gibt ihr eine Ohrfeige! Das ist doch monströs! Aber hören Sie weiter. Plötzlich, nach einer Stunde, umarmt sie Julija, fällt vor ihr nieder und küßt ihr die Füße! Mir aber läßt sie sagen, daß sie überhaupt nicht mehr zu mir kommen werde, daß sie hinfort nie mehr zu mir kommen wolle. Und als ich mich selbst, so gut ich konnte, zu ihr hinbegab, da stürzte sie mir entgegen und bedeckte mich mit Küssen, und küssend drängte sie mich immer weiter zurück, so daß ich schließlich durch die Tür wieder hinaus mußte, aber sie sagte dabei kein Wort, und so war ich denn nicht klüger als zuvor. Jetzt habe ich, lieber Alexei Fedorowitsch, meine ganze Hoffnung auf Sie gesetzt. Das Glück meines ganzen Lebens ist in Ihren Händen. Ich bitte Sie ganz offen, zu Lise zu gehen. Versuchen Sie, etwas von ihr zu erfahren, so wie nur Sie allein das verstehen, und dann kommen Sie her und sagen Sie es mir, mir, der Mutter, denn Sie begreifen doch, daß ich sonst sterbe, einfach sterben muß, wenn sich das noch fortsetzt. Oder ich werde aus dem Hause laufen. Ich kann das nicht mehr ertragen. Ich habe gewiß Geduld, aber ich kann sie doch auch einmal verlieren, und dann ... was wird dann sein? Entsetzlich! Ach, mein Gott, endlich, Pjotr Iljitsch!“ rief plötzlich strahlend Frau Chochlakoff, als sie Perchotin, der sofort nach dem Diener eintrat, erblickte. „Wie Sie sich aber verspätet haben! Nun, setzen Sie sich, bitte, sagen Sie, erlösen Sie mich, nun, wie steht es mit diesem Advokaten? Wohin, wohin gehen Sie, Alexei Fedorowitsch?“
„Ich will zu Lise ...“
„Ach ja! richtig! Aber vergessen Sie nicht, vergessen Sie nicht, um was ich Sie gebeten habe! Hier handelt es sich doch um mein ganzes Leben!“
„Ich werde es nicht vergessen, wenn es nur angeht ... ich habe mich schon so verspätet,“ stotterte Aljoscha, der eiligst verschwinden wollte.
„Nein, bestimmt, bestimmt! Nicht ‚wenn es angeht‘, sonst sterbe ich!“ rief ihm Frau Chochlakoff nach, doch Aljoscha schloß bereits die Tür.