IX. Der Teufel. Iwan Fedorowitschs Alb

Ich bin kein Arzt, und doch muß ich wenigstens einiges zur Erklärung über die Natur der Krankheit Iwan Fedorowitschs sagen. Er befand sich an diesem Abend kurz vor dem Ausbruch eines Nervenfiebers, das sich schon lange in seinem zerrütteten Nervensystem vorbereitet hatte, und dem er nur infolge seiner hartnäckigen Widerstandskraft bis dahin noch nicht erlegen war. Obwohl ich fast nichts von Medizin verstehe, wage ich doch meine Vermutung auszusprechen, daß er vielleicht in der Tat durch übermäßige Willensanspannung den Ausbruch der Krankheit hinausgeschoben hatte, wahrscheinlich sogar in der Hoffnung, sie durch seinen bloßen Willen ganz zu überwinden. Er wußte, daß er nicht gesund war, doch empfand er einen heftigen Widerwillen bei dem Gedanken, in dieser Zeit krank zu werden, gerade in den bevorstehenden schicksalsschweren Stunden seines Lebens, da es hieß, Zeugnis abzulegen, kühn und entschlossen sein Wort zu sagen und „sich vor sich selbst zu rechtfertigen“. Übrigens war er auch schon einmal bei dem berühmten Moskauer Arzt gewesen, den Katerina Iwanowna gerufen hatte. Derselbe hatte ihn aufmerksam angehört und untersucht und darauf gesagt, daß er vielleicht sogar etwas wie – eine Gehirnzerrüttung habe, und war schließlich durchaus nicht erstaunt gewesen über ein gewisses Geständnis, das Iwan Fedorowitsch ihm, seinen Widerwillen und Ekel niederringend, zu guter Letzt gemacht hatte.

„Halluzinationen sind bei Ihrem Zustande sehr leicht möglich,“ hatte der Doktor gemeint, „obgleich man sie noch kontrollieren müßte ... Im übrigen müssen Sie unbedingt sofort, ohne einen Augenblick zu verlieren, mit einer ernsten Kur beginnen, denn sonst könnte es sehr schlimm werden.“ Iwan Fedorowitsch hatte aber den vernünftigen Rat nicht befolgt, hatte sich nicht hingelegt, und auch sonst nichts für seine Gesundheit getan. „Noch kann ich gehen, folglich reichen noch die Kräfte, falle ich hin – dann mag mich pflegen, wer Lust hat,“ dachte er.

So saß er denn jetzt in seinem Zimmer, wußte beinahe selbst, daß er im Fieber phantasierte, und blickte, wie ich schon vorhin sagte, angestrengt zur anderen Wand, als fixiere er dort einen Gegenstand auf dem Diwan. Dort saß plötzlich jemand! Wie und wann er hereingekommen war, das mag Gott wissen, denn als Iwan Fedorowitsch nach der Rückkehr von Ssmerdjäkoff das Zimmer betreten hatte, war niemand in demselben gewesen. Es war das irgendein Herr, oder richtiger, ein russischer Gentleman von der bekannten Sorte, jedenfalls kein sehr junger Mann mehr, einer „qui frisait la cinquantaine“, wie die Franzosen sagen, mit dunklem, ziemlich langem, dichtem, nur stellenweise leicht ergrautem Haar und keilförmig geschnittenem, gleichfalls etwas grau untermischtem Bart. Gekleidet war er in einen kurzen, augenscheinlich vom besten Schneider gearbeiteten, aber jetzt schon ziemlich abgetragenen braunen Rock, in ein Kleidungsstück, das ungefähr vor drei Jahren gearbeitet sein mochte und somit bereits ganz aus der Mode gekommen war, so daß diese Art Röcke von tonangebenden Herren seit etwa zwei Jahren nicht mehr getragen wurden. Die Wäsche, die lange Krawatte in der Art einer Schärpe, kurz, alles war so, wie es eben elegant gekleidete Gentlemen trugen, doch war die Wäsche, wenn man sie etwas näher betrachtete, schon ein wenig schmutzig und die breite Krawatte recht abgenutzt. Die karierten Hosen saßen tadellos, waren aber wiederum zu hell und irgendwie zu eng, jedenfalls trug man schon lange viel weitere, und ebenso war auch der weiße, weiche Filzhut, den der Gast denn doch etwas gar zu unsaisonmäßig mitgeschleppt hatte, nicht mehr zeitgemäß. Mit einem Wort, das Äußere hatte den Anschein von Wohlanständigkeit bei äußerst knappem Taschengelde. Man konnte glauben, daß der Gentleman jener Klasse von arbeitsscheuen Gutsherren angehörte, die zur Zeit der Leibeigenschaft ein faules Leben geführt hatten. Offenbar hatte er etwas mehr von der Welt gesehen und sich in guter Gesellschaft bewegt, hatte früher einmal Verbindungen gehabt und hielt sie vielleicht auch jetzt noch aufrecht, war aber allmählich durch seine Verarmung nach den flotten Jugendjahren und schließlich nach der Aufhebung der Leibeigenschaft zu einer Art von Schmarotzer „guten Tones“ herabgesunken, der sich als ewiger Gast bei alten Bekannten herumtreibt, die ihn dann seines verträglichen Charakters wegen freundlich bei sich leben lassen. Außerdem war er immerhin ein, nun ja, ein anständiger Mensch, den man sogar in der besten Gesellschaft an seinen Tisch setzen konnte, wenn auch, versteht sich, auf einen bescheidenen Platz. Solche Schmarotzer oder Gentlemen mit erträglichem Charakter, die zu erzählen verstehen und zu einer Partie Karten sich gut verwenden lassen (dagegen eine ausgesprochene Abneigung für jede Art von Aufträgen, mit denen man sie belästigen will, empfinden), sind gewöhnlich alleinstehende Menschen, Junggesellen oder Witwer, die mitunter sogar Kinder haben, doch werden diese Kinder dann immer irgendwo fern von ihnen erzogen, gewöhnlich bei irgendwelchen Tanten, deren aber der Gentleman in höherer Gesellschaft fast nie Erwähnung tut, gleichsam als schäme er sich dieser Verwandtschaft. Seiner Kinder entwöhnt er sich mit der Zeit fast ganz, wenn er auch noch hin und wieder, etwa zu seinem Namenstage und zu Weihnachten, Gratulationsbriefe von ihnen erhält und zuweilen sie sogar beantwortet. Die Physiognomie dieses unerwarteten Gastes war nicht gerade gutmütig, aber wiederum harmonisch und jedenfalls – je nach den Umständen – zu jedem liebenswürdigen Ausdruck bereit. Eine Uhr hatte er nicht bei sich, dafür aber trug er eine Schildpattlorgnette an einem schwarzen Bande. Den Mittelfinger der rechten Hand schmückte ein massiver goldener Ring mit einem billigen Opal. Iwan Fedorowitsch schwieg aus Wut und nahm sich vor, überhaupt nicht zu sprechen. Der Gast wartete und saß genau so, wie ein Krippenreiter sitzen würde, der soeben aus dem oberen Stock, in dem man ihm ein Zimmer zugewiesen hat, zum Tee hinabgestiegen ist, um dem Hausherrn bei Tisch Gesellschaft zu leisten, vorläufig aber noch rücksichtsvoll schweigt – da der Hausherr beschäftigt ist oder über irgend etwas mit gerunzelter Stirn nachdenkt, – jedoch zu gleicher Zeit zu jedem liebenswürdigen Gespräche bereit ist, sobald nur der Hausherr damit beginnen will. Plötzlich aber drückte sich in seinem Gesicht eine gewisse Besorgnis aus.

„Hör mal,“ sagte er hastig zu Iwan Fedorowitsch, „entschuldige, wenn ich störe, aber ich will dich ja nur daran erinnern: Du gingst doch zu Ssmerdjäkoff, um ihn über Katerina Iwanowna auszufragen, und nun bist du doch fortgegangen, ohne das Gewünschte erfahren zu haben, du hast es wohl vergessen ...“

„Ach, ja, richtig!“ entschlüpfte es Iwan, und die Sorge verfinsterte sein Gesicht. „Ja, ich vergaß es ... Übrigens ist das jetzt gleichgültig, ich habe doch alles auf morgen hinausgeschoben,“ murmelte er vor sich hin. „Du aber laß dir gesagt sein,“ wandte er sich plötzlich gereizt auffahrend an den Gast, „– ich hätte mich dessen soeben ganz von selbst erinnern müssen, denn gerade das bedrückte mir das Herz! Warum mischst du dich so vorwitzig ein? So könnte ich dir ja glauben, daß du mich darauf gebracht hast, und nicht, daß ich selbst darauf verfallen bin!“

„So glaub’s doch nicht, wenn du’s nicht willst,“ schlug der Gentleman, leise auflachend, freundlich vor. „Was ist denn das für ein Glaube, den man erzwingt? Zudem helfen doch in Glaubensdingen Beweise überhaupt nicht, besonders keine materiellen. Thomas glaubte nicht darum, weil er den auferstandenen Christus sah, sondern weil er schon früher zu glauben gewünscht hatte. Da haben wir jetzt zum Beispiel die Spiritisten ... ich habe sie sehr gern ... denk nur, sie sind überzeugt, daß sie dem Glauben nützen, weil die Teufel ihnen aus jener Welt ihre Hörner zeigen. ‚Das ist doch schon ein materieller Beweis dafür, daß es jene Welt gibt,‘ heißt es. Jene Welt und materielle Beweise – oje, oje! Und schließlich, selbst wenn der Teufel bewiesen ist, so ist doch noch längst nicht gesagt, daß damit auch Gott bewiesen ist! Ich will in die idealistische Gesellschaft eintreten, werde dort bei ihnen Opposition machen, das heißt sozusagen: ‚Bin Realist, aber kein Materialist‘, he–he!“

„Höre,“ sagte Iwan Fedorowitsch und erhob sich plötzlich von seinem Platz. „... Ich bin jetzt ganz wie ... es scheint mir, daß ich phantasiere ... selbstverständlich tue ich es ... im Fieber ... du kannst dort reden was du willst, mir ist alles gleich! Du wirst mich heute nicht mehr so in Wut bringen, wie das vorige Mal. Nur schäme ich mich irgendeiner ... Ich will im Zimmer umhergehen ... Zuweilen sehe ich dich nicht, und dann höre ich auch nicht einmal deine Stimme, ganz wie das vorige Mal, aber ich errate immer irgendwie, was du da brummst, denn du bist ich, ich, ich selbst rede und nicht du! Nur weiß ich nicht, ob ich das vorige Mal schlief, oder ob ich dich im Wachen sah? Ach was, ich werde das Handtuch mit kaltem Wasser anfeuchten und mir auf die Stirn legen, vielleicht vergehst du dann ...“

Iwan Fedorowitsch ging in die Ecke, nahm ein Handtuch, tat, wie er gesagt hatte, und begann dann mit dem nassen Handtuch um den Kopf im Zimmer auf und ab zu schreiten.

„Es gefällt mir, daß wir uns so ohne weiteres auf Du und Du stellen,“ begann wieder der Gast.

„Dummkopf!“ Iwan lachte. „Soll ich etwa anfangen zu dir ‚Sie‘ zu sagen? Ich bin jetzt bei guter Laune, nur in der Schläfe fühle ich noch einen Schmerz ... und im Oberkopf ... Aber philosophiere bitte nicht, wie das vorige Mal. Wenn du dich von hier nicht fortpacken kannst, so schwatz wenigstens etwas Amüsanteres. Kram doch deine Klatschgeschichten heraus, du bist doch ein Schmarotzer, da wärst du ja beim Klatschen in deinem Element. Daß man so einen Albdruck nicht loswerden kann, das ist doch wirklich ...! Aber ich fürchte dich nicht, ich werde dich überwinden! Man wird mich nicht in die Irrenanstalt bringen!“

„C’est charmant: ‚Schmarotzer‘. Ja, ich bin gerade in meiner Art, was ich bin. Was bin ich denn sonst auf der Erde, wenn nicht ein Schmarotzer? Übrigens – bei der Gelegenheit: Ich höre dich und, offen gestanden, ich wundere mich ein wenig: Bei Gott, es scheint, daß du allmählich anfängst, mich für ein Etwas, für etwas in der Tat Vorhandenes zu halten, und nicht nur für deine bloße Phantasie, wie du das vorige Mal hartnäckig behauptetest ...“

„Keinen Augenblick akzeptiere ich dich als reale Wahrheit,“ schrie Iwan zornig und wild. „Lüge bist du, meine Krankheit bist du, du bist nichts als ein Fiebergespinst! Nur weiß ich nicht, womit ich dich vernichten könnte ... Ich sehe schon, man wird sich eine Zeitlang quälen müssen. Du bist meine Halluzination. Du bist die Verkörperung meines Ich, übrigens nur eines Teiles meines Ich ... meiner Gedanken und Gefühle, aber nur der niedrigsten und dümmsten. Von diesem Gesichtspunkte aus könntest du mich sogar interessieren, wenn ich nur Zeit hätte, mich mit dir abzugeben ...“

„Erlaube, erlaube, ich werde dich sofort überführen: Vorhin, bei der Straßenlaterne, als du plötzlich Aljoscha anfuhrst und schriest: ‚Das hast du durch ihn erfahren! Woher weißt du, daß er zu mir kommt?‘ Damit meintest du doch mich. Folglich glaubtest du doch eine kleine Sekunde lang, glaubtest du also doch, daß ich wirklich bin,“ sagte der Gentleman mit weichem Lachen.

„Ja, das war eine Schwäche der Natur ... Ich weiß nicht, schlief ich das vorige Mal, oder ging ich umher? Vielleicht sah ich dich damals nur im Traum und gar nicht in Wirklichkeit ...“

„Aber warum warst du denn vorhin so unfreundlich zu ihm, zu Aljoscha, meine ich? Er ist doch ein lieber Junge; ich bin vor ihm noch wegen des Staretz Sossima schuldig.“

„Schweig! Kein Wort von Aljoscha! Wie wagst du es überhaupt, du Lakai!“ Iwan Fedorowitsch lachte wieder.

„Du schimpfst und lachst dabei, – das ist ein gutes Zeichen. Übrigens bist du heute viel liebenswürdiger zu mir als das vorige Mal, aber ich begreife ja auch, woher das kommt: Dieser große Entschluß ...“

„Schweig von dem Entschluß!“ schrie ihn Iwan zornig an.

„Ich verstehe, verstehe schon. C’est noble, c’est charmant. Du gehst morgen hin, um deinen Bruder zu verteidigen, und opferst dich selbst ... C’est chevaleresque ...“

„Schweig! – oder ich gebe dir einen Fußtritt!“

„Zum Teil wird mich das freuen, denn mein Zweck wäre dann erreicht: Gibst du mir einen Fußtritt, so glaubst du folglich an meine Realität, denn einem Fiebergespinst verabreicht man doch keine Fußtritte. Aber weißt du, Scherz beiseite: Mir kann’s ja schließlich egal sein, schimpf nur zu, wenn du Lust hast, aber es ist doch immer besser, etwas höflicher zu sein, wäre es auch nur mir gegenüber. Denn sonst: ‚Dummkopf‘ und ‚Lakai‘ – nun, sag doch selbst, was sind denn das für Worte?“

„Indem ich dich schimpfe – schimpfe ich mich selbst!“ sagte Iwan und lachte wieder kurz auf. „Du bist ich, ich selbst, bloß mit einer anderen Fratze. Du sprichst genau das, was ich schon bei mir denke ... und bist überhaupt nicht imstande, mir etwas Neues zu sagen!“

„Wenn meine Worte mit deinen Gedanken übereinstimmen, so gereicht mir das natürlich nur zur Ehre,“ antwortete der Gentleman zuvorkommend und doch mit persönlicher Würde.

„Bloß nimmst du immer nur meine schlechten Gedanken, und vor allem – die dummen. Dumm und gemein bist du. Furchtbar dumm bist du. Nein, ich kann dich nicht ertragen! Was soll ich tun, was soll ich tun?“ murmelte Iwan wutknirschend.

„Mein Freund, ich will immerhin Gentleman sein und auch als solcher genommen werden,“ begann der Gast in einem Anfall echt schmarotzerhaften, schon im voraus nachgebenden und gutmütigen Ehrgeizes. „Ich bin arm, aber ... das heißt, ich will nicht sagen, daß ich gerade sehr ehrenhaft sei, aber ... es ist doch in der Gesellschaft gewöhnlich als Axiom angenommen, daß ich ein gefallener Engel sei. Aber, bei Gott, ich kann mir noch immer nicht recht vorstellen, auf welche Weise ich einmal ein Engel hätte sein können. Wenn ich es aber wirklich einmal gewesen sein sollte, so muß das jedenfalls schon so lange her sein, daß es, denke ich, keine Sünde sein kann, wenn ich es vergessen habe. Jetzt ist es mir nur um den Ruf eines anständigen Menschen zu tun, und ich lebe, wie es gerade kommt, indem ich mich bemühe, angenehm zu sein. Ich liebe die Menschen aufrichtig – oh, man hat mich in vielen Dingen unglaublich verleumdet! Hier, hienieden, wenn ich zeitweilig wieder einmal zu euch übersiedle, fließt mein Leben dahin, als ob es nun auch was Wirkliches wäre, und das ist es gerade, was mir am meisten gefällt. Denn ich selbst leide doch auch, ganz so wie du, unter dem Phantastischen, und darum liebe ich euren irdischen Realismus. Hier bei euch ist alles bezeichnet, alles ist festgesetzt, hier gibt es Formeln, hier gibt es Geometrie, bei uns aber sind immer nur irgendwelche unbestimmte Gleichungen! Hier gehe ich umher und sinne. Ich liebe das Sinnen. Und zudem werde ich hier auf Erden abergläubisch, – bitte lach nicht: Gerade das gefällt mir, daß ich abergläubisch werde. Ich nehme hier alle eure Angewohnheiten an: es macht mir Spaß, in die öffentliche Badstube zu gehen – kannst du dir das vorstellen? – und ich liebe es, mit Kaufleuten und Popen Schwitzbäder zu nehmen. Meine einzige Schwärmerei ist, mich zu verkörpern – aber endgültig und unwiderruflich – in irgendeine dicke, sieben Pud schwere Kaufmannsfrau und an alles zu glauben, woran sie glaubt. Mein Ideal ist – in die Kirche zu gehen und dort von ganzem und reinem Herzen einem Heiligen ein Licht stellen zu können. Bei Gott, so ist es. Dann hätten meine Leiden ein Ende. Ach, richtig, und dann habe ich noch an etwas Gefallen gefunden, das ist: mich hier bei euch zu kurieren. Im Frühling herrschten die Pocken, da ging ich denn ins Findelhaus und ließ mich gegen die Pocken impfen, – nein, wenn du wüßtest, wie zufrieden ich an jenem Tage war! Ich spendete sogar zehn Rubel für unsere malträtierten slawischen Brüder! ... Aber du hörst mir ja gar nicht zu. Weißt du, du bist heute gar nicht wie sonst.“ Der Gentleman verstummte für eine Weile. „Ich weiß, du bist gestern zu jenem Doktor gegangen ... nun, wie steht es mit deiner Gesundheit? Was hat dir der Doktor denn gesagt?“

„Schafskopf!“ schnitt Iwan kurz ab.

„Dafür bist du doch so klug. Willst du wieder schimpfen? Ich habe ja nicht gerade aus Teilnahme gefragt, sondern nur so. Meinetwegen, brauchst ja weiter nicht zu antworten. Jetzt kommt wieder die schöne Jahreszeit, in der das Rheuma zu zwicken anfängt ...“

„Schafskopf,“ sagte Iwan nochmals.

„Das ist wohl alles, scheint es, was du zu sagen weißt. Ich aber holte mir im vorigen Jahr so einen Rheumatismus, daß ich noch jetzt an ihn zurückdenken muß.“

„Kann denn der Teufel auch Rheumatismus haben?“

„Warum denn nicht, wenn ich mich zuweilen verkörpere. Verkörpere ich mich, so muß ich auch alle Folgen auf mich nehmen. Satanas sum et nihil humani a me alienum puto.“

„Wie, was? Satanas sum et nihil humani ... das ist nicht dumm für einen Teufel!“

„Freut mich, daß ich es dir endlich recht gemacht habe.“

„Aber das hast du ja gar nicht von mir genommen!“ – Iwan blieb ganz betroffen stehen. – „Das ist mir niemals in den Kopf gekommen, das habe ich nie gehört oder gedacht ... Das ist sonderbar ...“

„C’est du nouveau, n’est-ce pas? Diesmal will ich ehrlich sein und es dir erklären. Also höre: Im Traum, und besonders, wenn man Albdrücken hat, nun, sagen wir, sei es infolge eines verdorbenen Magens oder sonst aus einem Grunde, sieht der Mensch zuweilen dermaßen künstlerische Träume, so komplizierte und reale Wirklichkeit, solche Ereignisse oder sogar eine ganze Welt von Ereignissen, die mit dermaßen feinen Intrigen und unerwarteten Details verknüpft sind, angefangen von unseren höchsten Erscheinungen bis zum letzten Hemdknopf, daß, ich schwöre dir, selbst Ljeff Tolstoj es nicht fertigbrächte, sich so etwas auszudenken. Und dabei sind es durchaus nicht nur Schriftsteller, die solche Träume sehen, zuweilen sind es sogar die simpelsten Leute, Beamte, Popen ... In dieser Beziehung gilt es, noch manches Rätsel zu lösen. Ein Minister gestand mir sogar schlankweg, daß alle seine besten Ideen ihm während des Schlafes kämen. Nun, und so ist es denn auch jetzt. Wenn ich auch nur deine Halluzination bin, so rede ich doch, wie es auch unterm Albdruck vorkommt, mitunter ganz originelles Zeug. Ich sage sogar Dinge, die dir bis jetzt noch nicht in den Kopf gekommen sind, somit sind es denn nicht deine Gedanken, die ich ausspreche, während ich doch nur dein Alb bin und weiter nichts.“

„Du lügst. Dein Ziel ist gerade, mich zu überzeugen, daß du etwas Selbständiges bist und nicht mein Alb, und da bestätigst du nun selbst, daß du ein Traum bist!“

„Mein Freund, heute habe ich eine besondere Methode gewählt, ich werde sie dir später erklären. Wart, wo blieb ich denn eigentlich stehen, wovon sprach ich doch? Ach so! Also ich hatte mich damals erkältet, nur war das nicht bei euch, sondern noch dort ...“

„Wo dort? Sag, wirst du noch lange bei mir bleiben, kannst du nicht fortgehen?“ rief Iwan verzweifelt aus.

Er gab das Gehen auf, setzte sich wieder auf den gegenüberstehenden Diwan, stützte die Arme auf den Tisch und preßte die Fäuste an die Schläfen. Das nasse Handtuch hatte er sich schon vom Kopf gerissen und gereizt fortgeschleudert: es hatte natürlich nicht geholfen.

„Deine Nerven sind zerrüttet,“ bemerkte der Gentleman in unterhaltend-nonchalanter, doch vollkommen freundschaftlicher Weise, „du ärgerst dich sogar deswegen über mich, weil ich mich habe erkälten können. Indessen geschah es auf die natürlichste Weise. Ich eilte damals gerade zu einer diplomatischen Soiree bei einer höheren Petersburger Dame, die Frau Minister werden wollte. Nun, versteht sich: Frack, weiße Binde, Handschuhe, und dabei befand ich mich noch Gott weiß wo. Kurz, um auf die Erde zu gelangen, stand mir noch bevor, den Raum zu durchfliegen ... das ist natürlich nur ein Augenblick, aber ... braucht doch selbst ein Lichtstrahl von der Sonne bis zur Erde ganze acht Minuten, und da nun, stell dir vor, im Frack und in ausgeschnittener Weste! Allerdings können Geister nicht erfrieren, aber da ich mich nun schon einmal verkörpert hatte, so ... Mit einem Wort, man ist zuweilen leichtsinnig, und ich schoß ab. Aber dort im Weltenraum, in diesem Äther oder Wasser, wenn du willst, – ‚und schied das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste‘ und so weiter – dort herrscht doch solch eine Kälte ... das heißt, was sag ich, Kälte! – das kann man doch überhaupt nicht mehr Kälte nennen – stell dir vor: hundertfünfzig Grad unter Null! Du kennst doch den bekannten Scherz der Dorfmädel: Bei dreißig Grad Kälte fordern sie einen Neuling auf, mit der Zunge über ein Beil zu fahren, die friert natürlich sofort an, und der Tölpel reißt sich die ganze Haut von der Zunge ab. Aber das ist doch bloß bei dreißig Grad, und nun denk dir hundertundfünfzig! Da brauchte man ja nur einen Finger ans Beil zu legen, und, ich denke, er wäre – wie nie gewesen ... wenn ein Beil nur dorthin gelangen könnte ...“

„Kann denn ein Beil dorthin gelangen?“ fragte Iwan Fedorowitsch ganz gedankenlos in der Zerstreutheit.

Er spannte seine ganze Kraft an, um seinen Fiebertraum nicht für Wirklichkeit zu halten und nicht endgültig in Wahnsinn zu verfallen.

„Ein Beil?“ fragte der Gast verwundert.

„Nun ja, was würde dort mit einem Beil geschehen?“ bestand Iwan Fedorowitsch eigensinnig und gereizt auf seiner Frage.

„Was mit einem Beil im Weltenraum geschehen würde? Quelle idée! Wenn es irgendwohin weiter fortgeriete, so, denke ich, würde es alsbald anfangen, etwa in der Gestalt eines Trabanten um die Erde zu kreisen, ohne selbst zu wissen, warum. Die Astronomen würden den Auf- und Untergang des Beiles genau feststellen und alles Weitere berechnen. Man würde es in den Kalender eintragen, und das wäre schließlich alles.“

„Du bist dumm, ganz furchtbar dumm!“ sagte Iwan widerwillig. „Sei doch wenigstens etwas klüger, wenn du faselst, sonst werde ich nicht mehr zuhören. Du willst mich durch Realismus besiegen, willst mich überzeugen, daß du bist. Ich aber will nicht glauben, daß du bist! Und ich werde es auch nicht!“

„Aber ich fasele doch gar nicht, das ist doch alles wahr. Leider pflegt die Wahrheit immer etwas wenig geistreich zu sein. Du erwartest, wie ich sehe, entschieden etwas Großes und vielleicht sogar Wundervolles von mir. Das ist sehr schade, denn ich gebe doch nur das, was ich kann ...“

„Philosophiere nicht, Esel!“

„Wo ist denn da Philosophie, wenn meine ganze rechte Seite wie gelähmt war und ich nur noch krächzend ach und weh stöhnen konnte! War natürlich bei der ganzen Medizin: die Krankheit festzustellen, verstehen sie vorzüglich, den ganzen Prozeß erzählen sie dir wie an den Fingern her, schön, aber kurieren – das gibt’s nicht. Da stieß ich bei der Gelegenheit auch auf so einen von den begeisterten Studenten. Der sagte mir: ‚Wenn Sie auch sterben werden, so werden Sie dafür doch ganz genau wissen, an welcher Krankheit Sie, im Grunde genommen, gestorben sind!‘ Und dann noch Ihre neue Angewohnheit, zu Spezialisten zu schicken: ‚Wir stellen nur die Diagnose,‘ heißt es, ‚aber fahren Sie doch zu dem und dem Spezialisten, der wird Sie dann schon kurieren.‘ Der frühere Doktor, der alle Krankheiten kurierte, ist heutzutage ganz und gar verschwunden, aber ganz, sag ich dir, jetzt gibt’s nur noch Spezialisten, die fortwährend in den Zeitungen annoncieren. Nehmen wir an: Deine Nase ist krank. Schön, man schickt dich nach Paris; dort, heißt es, ist ein europäischer Spezialist, der nur Nasen kuriert. Du kommst nach Paris, er untersucht deine Nase: ‚Ich kann Ihnen,‘ sagt er, ‚nur das rechte Nasenloch kurieren, denn die linken Nasenlöcher kuriere ich nicht, das ist nicht meine Spezialität, aber fahren Sie doch, wenn ich mit Ihnen fertig bin, nach Wien, dort wird Ihnen ein besonderer Spezialist das linke Nasenloch kurieren.‘ Was tun? Ich griff zu den Volksmitteln. Ein alter deutscher Doktor riet mir, mich in der Badstube oben auf der Schwitzbank mit Honig und Salz abzureiben. Ich ging natürlich, allein schon, um ein überflüssiges Mal in die Badstube zu kommen, oder richtiger, einzig und allein darum, schmierte mich vom Nacken bis zum Hacken kräftig ein, aber von Nutzen – keine Spur. In meiner Verzweiflung schrieb ich an den Grafen Mattei nach Mailand, der schickte mir ein Buch und Tropfen, – Gott mit ihm. Und stell dir vor: Hoffs Malzextrakt half schließlich! Ich kaufte ihn ganz zufällig, halb aus Versehen, trank anderthalb Glas, und weg war alles, wie mit der Hand, ich hätte sofort tanzen können. Ich beschloß sogleich, ihm meinen Dank durch die Zeitung zu übermitteln. Jawohl: das Gefühl der Dankbarkeit war in mir zu Wort gekommen. Und nun, was glaubst du wohl, daraus entstand wiederum eine neue Geschichte: In keiner einzigen Redaktion wollte man meine ‚Danksagung‘ annehmen! ‚Es würde sich doch zu rückständig ausnehmen,‘ hieß es, ‚niemand wird daran glauben, le diable n’existe point. Lassen Sie es doch anonym drucken.‘ Nun, dachte ich, was ist denn das für ein Dank, wenn er anonym gesagt wird? Ich scherzte noch mit dem Büropersonal: ‚Nur an Gott glauben,‘ sagte ich, ‚ist in unserem Jahrhundert zu rückständig, ich aber bin doch der Teufel, an mich kann man doch –!‘ ‚Sehr wohl,‘ sagten sie, ‚wer glaubt denn nicht an den Teufel, aber es geht trotzdem nicht, es könnte der Richtung schaden. Oder, es sei denn, daß wir es als Scherz brächten?‘ Nun, als Scherz, dachte ich, wird es nicht geistreich sein. So ist es denn nicht gedruckt worden. Und wirst du’s mir glauben, das liegt mir noch immer auf dem Herzen. Selbst meine besten Gefühle, wie zum Beispiel die Dankbarkeit, sind mir formell verboten, und zwar einzig und allein wegen meiner sozialen Stellung.“

„Fängst du schon wieder mit deiner Philosophie an?“ Iwan knirschte innerlich vor Haß.

„Gott bewahre mich davor! Aber es geht doch nicht, man muß sich doch zuweilen auch ein bißchen beklagen dürfen. Ich bin arg verleumdet worden. Da sagst du mir nun in jedem Augenblick, ich sei dumm. Daran erkennt man sofort, daß du noch ein junger Mann bist. Mein Freund, es kommt nicht immer nur auf den Verstand an. Ich habe von Natur ein gutes Herz und heiteres Gemüt, – ‚ich habe ja doch auch schon etliche Vaudevilles ...‘[28] Du scheinst mich ja entschieden für einen altgewordenen Chlestakoff[29] zu halten, indessen ist mein Schicksal ein viel ernsteres. Durch irgendeine zeitweilige Bestimmung, die mir eigentlich bis jetzt noch nicht recht in den Schädel will, bin ich dazu bestimmt, zu ‚verneinen‘, während ich doch aufrichtig gut und zur Verneinung total unbegabt bin. ‚Nein, geh mal und verneine,‘ heißt es da, ‚ohne Verneinung gibt’s keine Kritik. Was aber wäre denn das für eine Zeitung, in der es keine kritische Abteilung gäbe? Ohne Kritik gäbe es nichts als „Hosianna“. Fürs Leben aber ist „Hosianna“ allein zu wenig, dieses „Hosianna“ muß vorher unbedingt durch den Schmelzofen der Zweifel gegangen sein,‘ nun, und so weiter in dem Tone. Übrigens mische ich mich in diese ganze Sache nicht hinein, denn, schließlich, was geht’s mich an: nicht ich habe geschaffen, folglich trage auch nicht ich die Verantwortung. Na ja, da hat man denn also den Sündenbock ausgesucht, ihn gezwungen, in der ‚kritischen Abteilung‘ zu schreiben, und so gab’s dann Leben. Wir begreifen diese Komödie: Ich, zum Beispiel, verlange für mich einfach und geradezu Vernichtung. ‚Nein, du sollst leben,‘ heißt es da, ‚denn ohne dich würde es nichts geben. Wenn alles auf der Welt vernünftig wäre, so würde nichts geschehen. Ohne dich würde sich nichts ereignen, es ist aber nötig, daß es Ereignisse gibt.‘ Und so verbeiße ich denn meinen Ärger und diene, damit es Ereignisse gibt, und schaffe auf Befehl Unvernünftiges. Die Menschen aber –, die nehmen, und dazu noch bei ihrem unstreitigen Verstande, diese ganze Komödie für etwas Ernsthaftes! Darin besteht denn auch ihre Tragödie. Nun, und sie leiden natürlich, aber ... immerhin leben sie doch dafür, leben sie realiter, und nicht nur in der Phantasie! Denn gerade das Leiden – das ist ja das Leben. Was würde es ohne Leiden für Freuden geben, wo bliebe da die Befriedigung? Alles würde sich in ein endloses Gebet verwandeln. Zwar wäre das heilig, dafür aber auf die Dauer doch recht langweilig, denke ich. Nun, und ich? Ich leide, aber ich lebe doch nicht. Ich bin das X in einer unbestimmten Gleichung. Ich bin irgendein Phantom des Lebens, das alle Enden und Anfänge verloren, und schließlich sogar selbst vergessen hat, wie es sich nennen soll. Du lachst ... nein, du lachst nicht, du ärgerst dich schon wieder. Du ärgerst dich fortwährend, du verlangst immer nur Kluges, ich aber kann dir nur sagen, daß ich dieses ganze Weltenraumleben, alle Titel und Ehren hergeben würde, nur um mich in die Seele einer sieben Pud schweren Kaufmannsfrau verkörpern und Gott Lichte stellen zu können.“

„Also auch du glaubst nicht mehr an Gott?“ fragte Iwan mit gehässigem Lachen.

„Das heißt, wie soll ich dir sagen, wenn du nur im Ernst ...“

„Gibt es einen Gott oder gibt es keinen?“ schrie Iwan plötzlich wie in tierischer Wut auf.

„Ah, so fragst du im Ernst? Mein Lieber, bei Gott, ich weiß es nicht. Sieh, da habe ich ein großes Wort ausgesprochen.“

„Du weißt es nicht und siehst doch Gott? Nein, du bist nicht ein Ding für dich, du bist – ich, du bist ich und sonst nichts! Schmutz bist du, nichts als meine Phantasie bist du!“

„Das heißt, wenn du willst, bin ich mit dir ganz derselben ... Philosophie, – das wäre der richtige Ausdruck, und auch im übrigen das Richtige und Gerechte. Je pense donc je suis, das weiß ich bestimmt, und was das übrige um mich herum betrifft, alle diese Welten, Gott, und sogar der Teufel selbst, – das alles ist für mich nicht bewiesen: ob es an und für sich, sozusagen selbständig besteht, oder einzig und allein meine Emanation ist, die folgerichtige Entwicklung meines Ich, das zeitweilig und individuell existiert ... mit einem Wort: ich breche lieber kurz ab, denn es scheint, daß du sogleich aufspringen und mich prügeln willst.“

„Könntest du nicht lieber irgendeine Anekdote erzählen!“ fragte Iwan krankhaft gequält.

„Das kann ich sehr wohl. Ich habe gerade eine Anekdote, die gut zu unserem Thema paßt, oder vielmehr keine Anekdote, sondern so eine Legende. Da wirfst du mir nun Unglauben vor: ‚siehst und glaubst doch nicht.‘ Aber, mein Freund, ich bin ja doch nicht allein so, dort bei uns sind jetzt alle ganz konfus geworden, und das nur infolge eurer Wissenschaft. Solange es noch Atome gab, fünf Sinne, vier Elemente, nun, da hielt sich alles noch irgendwie im Leim. Atome gab es ja auch in der Alten Welt. Als man aber bei uns erfuhr, daß ihr dort bei euch das ‚chemische Molekül‘ und das ‚Protoplasma‘ entdeckt habt, und weiß der Teufel, was sonst noch, – da fühlte man sich bei uns sozusagen wie begossen und wurde kleinlaut. Der denkbar größte Blödsinn hub an. Vor allem – Aberglauben, Klatsch! Klatsch gibt es ja bei uns ebensoviel wie bei euch, sogar noch ein wenig mehr – und dann zum Schluß die Anzeigen! Bei uns gibt es doch auch so eine Abteilung zur Kenntnisnahme gewisser ‚Nachrichten‘. Nun also, diese verrückte Legende, noch aus dem Mittelalter – aus unserem, nicht aus eurem –, und denk nur, selbst bei uns glaubt niemand an sie, außer den sieben Pud schweren Kaufmannsfrauen, das heißt wiederum unsere Kaufmannsfrauen, nicht eure. Alles, was bei euch ist, ist auch bei uns – das will ich dir mal aus purer Freundschaft aufdecken, obgleich es eines unserer Geheimnisse und euch mitzuteilen verboten ist. Also diese Legende handelt vom Paradiese. Es war einmal, heißt es, hier bei euch auf der Erde so ein Denker und Philosoph, der ‚alles verneinte, Gesetze, Gewissen, Glaube‘, vor allen Dingen aber – das zukünftige Leben. Er starb, glaubte directement in Finsternis, Tod und Nichtsein zu geraten, aber siehst du wohl, da steht vor ihm – das zukünftige Leben. Er wunderte sich und ward ungehalten. ‚Das widerspricht meinen Überzeugungen,‘ sagte er. Nun, und dafür wurde ihm dann der Prozeß gemacht, und er wurde verurteilt ... das heißt, sieh mal, du mußt mich entschuldigen, ich gebe doch nur das wieder, was ich gehört habe, und es ist ja nur eine Legende ... Also man verurteilte ihn zu folgendem: in der Finsternis eine Quadrillion Kilometer zu durchwandern (bei uns rechnet man doch jetzt nach Kilometern), und erst wenn er diese Quadrillion Kilometer hinter sich hat, soll ihm das Paradiesestor geöffnet und alles verziehen werden ...“

„Aber was habt ihr in jener Welt sonst noch für Qualen, außer dieser Quadrillion?“ unterbrach ihn Iwan, plötzlich ganz eigentümlich belebt.

„Was für Qualen? Ach, frage lieber nicht danach! Früher gab es noch dies und das, jetzt dagegen hat man sich fast nur auf die abstrakten, auf die geistigen Qualen verlegt, so – ‚Gewissensbisse‘ und ähnlicher Blödsinn. Das ist gleichfalls von euch eingeführt, infolge der ‚Milderung‘ eurer Sitten. Und wer hat dabei gewonnen? Gewonnen haben nur die ‚Gewissenlosen‘, denn was können ihnen Gewissensbisse anhaben, wenn sie überhaupt kein Gewissen besitzen? Dafür müssen jetzt die anständigen Leute darunter leiden, die noch etwas Gewissen und Ehre im Leibe haben ... Das sind so die Reformen auf unvorbereitetem Boden, und die dazu noch nach anderen Einrichtungen kopiert werden, – nichts als Schaden kommt dabei heraus! Da ist doch das frühere Feuerlein eine ganz andere Sache ... Nun also, dieser zur Quadrillion Verurteilte stand, sah und legte sich dann quer auf den Weg hin: ‚Ich will nicht gehn, aus Prinzip werde ich nicht gehn!‘ Nimm die Seele eines russischen Atheisten und mische sie mit der Seele des Propheten Jonas, der drei Tage und drei Nächte lang im Bauche des Walfischs schmollte, – da hast du den Charakter dieses Denkers, der sich quer über den Weg legte.“

„Auf was legte er sich denn dort hin?“

„Nun, es wird doch wahrscheinlich etwas dagewesen sein, auf was man sich hinlegen konnte. Du lachst doch nicht?“

„Bravo!“ rief Iwan, immer noch in derselben angespannten Belebung. Er hörte mit auffallendem Interesse zu. „Nun, was? und liegt er auch jetzt noch?“

„Das ist’s ja, daß er nicht mehr liegt. Er lag fast tausend Jahre lang, da stand er plötzlich auf und ging.“

„So ein Esel!“ rief Iwan unwillkürlich aus und lachte nervös auf – schien aber dabei immer noch alle Sinne wie im Krampfe anzuspannen, um sich über ein gewisses Etwas klar zu werden oder zu kombinieren. „Kommt denn das nicht auf eins hinaus, ob man ewig liegt oder eine Quadrillion Kilometer geht? Das wäre doch ein Marsch von einer Billion Jahren?“

„Sogar noch viel mehr! Schade, ich habe keinen Bleistift und kein Papier bei mir, sonst könnte man es sofort berechnen. Aber er ist ja schon längst angekommen, und hier erst beginnt die Anekdote.“

„Wie das – angekommen? Wo hat er denn die Billion Jahre hergenommen?“

„Du denkst nun wieder an unsere jetzige Erde! Aber diese Erde hat sich doch vielleicht selbst schon billionenmal wiederholt. Nun, sie hat sich eben ausgelebt, ist vereist, ist gesprungen, auseinandergeplatzt, in kleine Stücke zersprengt, hat sich in ihre Grundelemente zerlegt, dann ward wieder ‚eine Feste zwischen den Wassern‘, und so weiter, dann wieder ein Komet, wieder eine Sonne, aus der Sonne wieder eine Erde, – aber diese Entwicklung hat sich doch vielleicht schon unzählige Mal wiederholt, und immer genau in ein und derselben Form, alles bis aufs Tüpfelchen genau so wie es war. Eine Langweile, sag ich dir, die geradezu kränkend unanständig ist ...“

„Schön, schön, aber was geschah dann, als er ankam?“

„Tja, kaum hatte sich ihm das Paradies erschlossen, kaum war er eingetreten, – versteh: noch war er keine zwei Sekunden im Paradiese gewesen ... nach der Uhr berechnet, nach der Uhr (obgleich seine Uhr, meiner Meinung nach, in seiner Tasche sich inzwischen schon in ihre Grundelemente hätte auflösen müssen) – also, wie gesagt, er war noch keine zwei Sekunden im Paradiese gewesen, als er schon ausrief, daß man für diese zwei Sekunden nicht nur eine Quadrillion, sondern quadrillionmal eine Quadrillion Kilometer gehen könne, auch wenn man diese womöglich noch in die quadrillionste Potenz erhöbe! Mit einem Wort, er sang sein ‚Hosianna‘, verstand aber darin nicht maßzuhalten, so daß dort einige von etwas edlerer Gesinnungsart ihm in der ersten Zeit nicht einmal die Hand reichen wollten. Der war ihnen denn doch gar zu eifrig zu den Konservativen übergegangen. Eine russische Natur. Wie gesagt: eine Legende. Als was gekauft, als das verkauft. Das also wäre noch so ein Beispiel von den bei uns verbreiteten Begriffen über diese Dinge.“

„Jetzt habe ich dich gefangen!“ rief Iwan plötzlich mit geradezu kindlicher Freude aus, als hätte er sich endlich einer bestimmten Sache erinnert. „Diese Anekdote von den Quadrillion Jahren, – die habe ich mir selbst ausgedacht! Ich war damals siebzehn Jahre alt, ich war noch im Gymnasium ... ich hatte damals diese Anekdote verfaßt und erzählte sie darauf einem Mitschüler, Korowkin hieß er, das war in Moskau ... Diese Anekdote ist so charakteristisch, daß ein anderer Autor ganz ausgeschlossen ist! Ich hatte sie nur fast vergessen ... aber jetzt habe ich mich ihrer unbewußt wieder erinnert, – sie ist mir ganz von selbst wieder eingefallen, ich selbst habe mich ihrer erinnert, und nicht du hast sie mir erzählt! Wie man sich eben zuweilen einer Sache unbewußt erinnert, wie einem plötzlich tausend Dinge einfallen, selbst wenn man zum Schafott geführt wird ... sie ist mir im Traum wieder eingefallen. Und dieser Traum bist du! Ja, nichts als ein Traum bist du, du existierst überhaupt nicht!“

Der Gentleman lachte:

„Gerade die Heftigkeit, mit der du mich ablehnst, sagt mir, daß du trotzdem an mich glaubst.“

„Nicht im geringsten! Kein Hundertstel glaube ich!“

„Aber ein Tausendstel doch. Die homöopathischen Bruchteile sind ja vielleicht gerade die stärksten. Gestehe nur, daß du, nun, sagen wir, ein Zehntausendstel doch glaubst ...“

„Keinen Augenblick!“ fuhr Iwan jähzornig auf. „Übrigens ... wünschte ich, an dich zu glauben!“ fügte er plötzlich sonderbar hinzu.

„Aha – a! Das ist mir mal ein Eingeständnis! Aber ich bin gutmütig, ich werde dir auch hierbei helfen. Also höre: Ich habe dich gefangen, nicht du mich! Ich habe dir absichtlich deine eigene Anekdote erzählt, die du so gut wie vergessen hattest, damit du jeglichen Glauben an mich verlörest.“

„Du lügst! Der Zweck deines Erscheinens ist, mich zu überzeugen ... daß du bist.“

„Stimmt. Aber das Schwanken, das Zweifeln, die Unruhe, der Kampf des Glaubens mit dem Unglauben, – das ist doch für einen gewissenhaften Menschen, wie du zum Beispiel, mitunter eine solche Qual, daß er sich lieber erhängt. Gerade weil ich weiß, daß du ein Körnchen Glauben an mich hast, tröpfelte ich dir jetzt eine gehörige Portion Unglauben ein, indem ich dir diese Anekdote erzählte. Ich lenke dich jetzt zwischen Glauben und Unglauben abwechselnd hin und her, und verfolge dabei natürlich meinen besonderen Zweck. Wie gesagt: eine neue Methode. Denn sobald du endgültig jeden Glauben an mich verloren haben wirst, wirst du sofort anfangen mir ins Gesicht zu versichern, daß ich kein Traum sei, sondern wirklich existiere. Ich kenne dich doch. Und dann werde ich eben mein Ziel erreichen. Mein Ziel aber ist ein edles. Ich werde nur ein winziges Körnchen Glauben in dich werfen, und daraus wird eine Eiche erwachsen, – und noch dazu solch eine Eiche, daß du, mit diesem Baume in der Brust, dich noch zu den Einsiedlern und den makellosen Jungfrauen wirst gesellen wollen, denn im geheimen willst du das, sogar sehr. Wirst noch Heuschrecken essen und dich in die Wüste schleppen!“

„Ah! So mühst du Folterknecht dich um mein Seelenheil?“

„Man muß doch wenigstens irgend einmal auch ein gutes Werk tun. Aber ärgern tust du dich – hü! Das tust du wahrlich, wie ich sehe.“

„Narr! ... Doch sag’: hast du schon einmal auch solche versucht, die nur von Heuschrecken leben, siebzehn Jahre lang in der Wüste beten, mit Moos bewachsen?“

„Mein Täubchen, das ist ja das einzige, was ich bis jetzt getan habe! Die ganze Erde und alle Welten vergißt du, sag ich dir, wenn du dich einmal an einen solchen geheftet hast! Ein solcher Brillant ist denn doch gar zu kostbar. Eine einzige solche Seele ist mitunter ein ganzes Sternbild wert! – wir haben doch unsere eigene Arithmetik. So ein Sieg ist dann auch etwas teuer! Stehen doch einige von ihnen in ihrer Entwicklung, bei Gott, nicht unter dir, wenn du mir das auch nicht glauben wirst. Solche Abgründe von Glauben und Unglauben können sie in ein und demselben Augenblick erfassen, daß, Hand aufs Herz, man zuweilen meint, es fehlte nur noch ein Härchen, und der Mensch fliegt hinab – ‚kopfüber mit den Beinen in die Höh‘, wie der Schauspieler Gorbunoff sagt.“

„Nun, und? Bist mit langer Nase abgezogen?“

„Mon ami,“ bemerkte der Gast belehrend, „mit einer langen Nase abzuziehen, ist mitunter immerhin besser, als ganz ohne Nase, wie noch vor kurzem ein kranker Marquis, den wahrscheinlich ein Spezialist behandelt hatte, in der Beichte seinem Geistesvater, einem Jesuiten, gestand. Ich war zugegen – ganz allerliebst, sag ich dir! ‚Pater,‘ ruft er, ‚gebt mir meine Nase wieder!‘ und schlägt sich vor die Brust. – ‚Mein Sohn,‘ antwortet der alte Fuchs salbungsvoll, ‚alles geschieht nach den unerforschlichen Ratschlüssen der Vorsehung, und großes Leid zieht zuweilen einen großen, wenn auch uns Menschen zuerst unsichtbaren Vorteil nach sich. Wenn ein strenges Geschick Sie Ihrer Nase beraubt hat, so ergibt sich daraus für Sie wenigstens der Vorteil, daß Ihnen hinfort niemand mehr wird sagen können, Sie seien mit einer langen Nase abgezogen.‘ – ‚Heiliger Pater, das ist kein Trost!‘ ruft der verzweifelte Marquis, ‚ich würde im Gegenteil überglücklich sein, mein ganzes Leben lang jeden Tag mit einer langen Nase abzuziehen, wenn sie nur an der richtigen Stelle säße.‘ – ‚Mein Sohn,‘ sagt der Pater seufzend, ‚man darf nicht alle Erdengüter zugleich verlangen, das wäre schon Murren wider die Vorsehung, die Sie selbst hierbei nicht vergessen hat: denn wenn Sie so zum Herrn emporschreien, wie Sie es soeben getan haben, daß Sie mit Freuden bereit wären, Ihr ganzes Leben lang mit langer Nase abzuziehen, so hat die Vorsehung mittelbar auch diesen Ihren Wunsch schon im voraus erfüllt: denn indem Sie Ihre Nase verloren, zogen Sie doch gewissermaßen mit einer langen Nase ab ...‘“

„Pfui, wie dumm!“

„Mein Freund, ich wollte dich ja nur erheitern. Aber ich schwöre dir, das ist die echteste Jesuitenkasuistik, und du kannst mir glauben, daß ich Wort für Wort wiederhole, was ich gehört habe. Gerade dieser Fall machte mir viel zu schaffen. Der unglückliche junge Mann kehrte nach Haus zurück und erschoß sich in derselben Nacht; ich wich natürlich nicht von seiner Seite und blieb bis zum letzten Augenblick bei ihm ... Überhaupt bieten mir diese Beichtkästlein der Jesuiten die liebste Zerstreuung in traurigen Lebensstunden. Da will ich dir doch noch einen Fall erzählen, ganz kürzlich erlebte ich ihn. Zum greisen Pater kommt so eine kleine, schmucke Blondine, eine Normannin, von etwa zwanzig Jahren. Ein Stück Natur, sag ich dir, die Formen wie gedrechselt, eine Schönheit – daß ihm der Mund wässert! Sie beugt sich nieder und flüstert dem Pater durch die kleine Öffnung ihre Sünde zu. ‚Was sagen Sie, meine Tochter, sind Sie schon wieder gefallen?‘ ruft der Pater entsetzt. ‚Oh, Sankta Maria, was höre ich: schon mit einem anderen! Aber wie lange wird sich das noch fortsetzen, und schämen Sie sich denn nicht!‘ ‚Ah, mon père,‘ antwortet die Sünderin, in Reuetränen aufgelöst: ‚Ça lui fait tant de plaisir et à moi si peu de peine!‘ Nun, kannst du dir solch eine Antwort vorstellen! Da trat selbst ich zurück: das war der Schrei der Natur selbst, das ist ja, wenn du willst, sogar besser als die leibhaftige Unschuld! Ich erließ ihr denn auch sofort die Sünde und wandte mich schon zum Gehen, war aber sogleich gezwungen, wieder zurückzukehren. Wie ich höre, flüstert ihr der Pater etwas zu: er bestellt sie für den Abend zum Rendezvous! Dabei war er ein Greis, ein Kieselstein – und war doch in einem Augenblick gefallen! Die Natur, die Wahrheit der Natur nahm wieder mal das ihrige! Was, biegst du schon wieder die Nase fort, ärgerst du dich schon wieder? Ich weiß wirklich nicht, womit ich es dir zu Dank machen könnte ...“

„Verlaß mich, du klopfst in meinem Hirn wie ein Albdruck, der nicht loszuwerden ist,“ stöhnte Iwan schmerzgepeinigt – in der Ohnmacht gegen seine Vision. „Du langweilst mich, du bist unerträglich und qualvoll! Viel würde ich dafür geben, wenn ich dich hinauswerfen könnte!“

„Ich rate dir nochmals, mäßige deine Ansprüche, verlange von mir nicht ‚alles Große und Schöne‘, und du wirst sehen, wie freundschaftlich wir uns beide einleben werden,“ sagte der Gentleman eindringlich. „Du ärgerst dich ja im Grunde nur deswegen über mich, weil ich dir nicht irgendwie in rotem Lichte, ‚donnernd und blitzend‘ und mit versengten Schwingen erschienen bin, sondern mich in so bescheidener Gestalt vorgestellt habe. Du bist gekränkt, erstens in deinen ästhetischen Gefühlen und zweitens in deinem Stolze: Wie, denkst du, wie wagt zu einem so großen Manne ein so lumpiger Teufel zu kommen? Nein, in dir steckt doch noch diese romantische Ader, die schon Belinskij so verspottet hat. Was ist da zu machen, junger Mann! Als ich mich vorhin zu dir aufmachte, da dachte ich schon einen Augenblick daran, mich zum Scherz als verabschiedeten Wirklichen Staatsrat vorzustellen, der im Kaukasus gedient hat, mit dem persischen Orden des Löwen und der Sonne auf dem Frack. Aber, offen gestanden, mir fehlte der Mut dazu, denn du hättest mich doch zweifellos schon allein dafür durchgeprügelt, daß ich gewagt habe, mir nur den besagten Stern des Löwen und der Sonne anzustecken und nicht mindestens den Polarstern oder den Sirius. Und immer wieder wirfst du mir vor, daß ich dumm sei. Aber, mein Gott, ich erhebe ja gar keinen Anspruch darauf, mich mit dir, was den Verstand betrifft, irgendwie gleichstellen zu wollen. Als Mephistopheles dem Faust erschien, da sagte er von sich, daß er das Böse wolle, doch stets nur das Gute schaffe. Nun, das mag meinetwegen sein wie es will, ich dagegen bin ganz das Gegenteil. Ich bin vielleicht der einzige Mensch in der ganzen Natur, der die Wahrheit liebt und aufrichtig das Gute wünscht. Ich war zugegen, als das am Kreuz gestorbene Wort in den Himmel einging und mit sich die Seele des ihm zur Rechten verschiedenen Schächers emportrug. Ich hörte das Freudejauchzen der Cherubim, die ‚Hosianna‘ sangen, und den Donnerschrei des Entzückens der Seraphim, von dem der Himmel und das ganze Gebäude der Welten erbebten. Und sieh, ich schwöre dir bei allem, was heilig ist, ich wollte schon in den Chor einstimmen, wollte mit allen Engeln aufjauchzen: ‚Hosianna!‘ Schon drängte es aus der Brust, schon wollte es sich von der Zunge losreißen ... ich bin doch, wie du weißt, sehr sensibel und künstlerisch empfänglich. Aber die gesunde Vernunft – oh, das ist die unheilvollste Eigenschaft meiner Natur – hielt mich auch hier in den pflichtschuldigen Grenzen zurück, und ich versäumte den Augenblick! Denn was, dachte ich im selben Augenblicke, was würde die Folge meines ‚Hosianna‘ sein? Es würde sofort alles in der Welt erlöschen, und kein einziges Ereignis würde sich mehr dort zutragen. Und so war ich denn einzig und allein aus Pflichtbewußtsein in meinem Dienst und infolge meiner sozialen Stellung gezwungen, das Gute in mir zu ersticken und bei den Schweinereien zu bleiben. Die Ehre des Guten nimmt jemand restlos für sich in Anspruch, mir aber ist ausschließlich das Gemeine zugewiesen. Aber ich beneide ihn nicht wegen der Ehre, auf Kosten anderer zu leben, ich bin nicht ehrgeizig. Warum aber bin nur ich allein von allen Lebewesen der Welt den Flüchen aller anständigen Leute geweiht und sogar ihren Fußtritten, denn, wenn ich mich verkörpere, muß ich mitunter auch diese Folgen auf mich nehmen. Ich weiß ja, daß es hierbei ein Geheimnis gibt, aber dieses Geheimnis will man mir um keinen Preis aufdecken, denn es wäre möglich, daß ich dann, wenn ich erraten hätte, um was es sich handelt, mein ‚Hosianna‘ gröhlen würde: und darauf verschwände sofort das notwendige Minus, und in der ganzen Welt höbe ‚Vernünftigkeit‘ an, und damit, versteht sich, hätte alles ein Ende, sogar die Zeitungen und sonstigen Blätter, denn wer würde dann noch auf welche abonnieren. Ich weiß ja, daß ich mich zu guter Letzt aussöhnen, einmal auch meine Quadrillion abgehen und dann das Geheimnis erfahren werde. Bis dahin aber – schmolle ich, verbeiße meinen Ärger und erfülle meine Bestimmung, das ist: Tausende zu verderben, auf daß sich einer rette. Zum Beispiel, wieviel Seelen hieß es da verderben, wieviel ehrenhafte Reputationen verunglimpfen, nur um den einzigen gerechten Hiob zu ergattern, mit dem man mich damals vor Olims Zeiten noch so hundsgemein beschummelt hat! Nein, solange das Geheimnis noch nicht aufgedeckt ist, gibt es für mich zwei Wahrheiten: eine, die dort bei ihnen und mir noch völlig unbekannt ist, und dann die andere, meine Wahrheit. Und noch weiß man nicht, welche von beiden reiner sein wird ... Bist du eingeschlafen?“

„Warum nicht gar!“ stöhnte Iwan haßerfüllt. „Alles, was es nur Dummes in meiner Natur gibt, was ich schon längst überlebt, in meinem Verstande durch- und durchgekaut und wie verwestes Aas fortgeworfen habe, – das trägst du mir wieder vor, als wäre es etwas ganz Neues!“

„Also wieder war’s nicht recht! Und ich glaubte sogar, dich schon allein mit der literarischen Fassung zu gewinnen: Dieses ‚Hosianna‘ im Himmel zum Beispiel, das nahm sich bei mir doch wirklich gar nicht so übel aus? Und dann zum Schluß dieser sarkastische Ton à la Heine, wie, du findest das nicht?“

„Nein, ein solcher Lakai bin ich nie gewesen! Wie hat meine Seele einen solchen Lakai, wie du, hervorzubringen vermocht!“

„Mein Freund, ich kenne einen prächtigen, ganz reizenden russischen Junker: einen jungen Denker und großen Liebhaber der Literatur und Kunst, den Autor eines vielversprechenden Poems, das ‚Der Großinquisitor‘ betitelt ist ... Nur um ihn allein war’s mir zu tun!“

„Ich verbiete dir, auch nur ein Wort vom Großinquisitor zu sagen!“ unterbrach ihn Iwan zornig, heiß errötend vor Scham.

„Nun, aber wie steht’s denn mit der ‚geologischen Umwälzung‘? Erinnerst du dich noch? Das ist mir mal ein Dingelchen, das muß ich sagen!“

„Schweig! – oder ich schlage dich tot!“

„Wen, mich willst du totschlagen? Nein, erlaub schon, daß ich mich ausspreche. Deswegen bin ich ja überhaupt gekommen, um mir dieses Vergnügen zu bereiten. Oh, ich liebe über alles die lodernden Gedankenillusionen meiner stolzen, jungen, vor Lebensdurst bebenden Freunde! ‚Dort gibt es neue Menschen,‘ dachtest du noch im vorigen Frühling, als du dich hierher aufmachtest, ‚sie beabsichtigen alles zu zerstören und wieder bei der Menschenfresserei zu beginnen. Die Toren, warum haben sie mich nicht gefragt! Wozu da so mühevoll zerstören! Das ist ja völlig überflüssig! Man brauchte doch nur einfach die Gottidee in der Menschheit zu vernichten, und alles würde nach Wunsch gehen! Das ist es, das allein ist es, womit man beginnen muß. Diese Blinden aber, die verstehen ja überhaupt nichts. Hat die Menschheit sich erst einmal ganz und gar, das heißt, ausnahmslos von Gott losgesagt (und ich glaube daran, daß diese Periode, als Parallele zu den geologischen Perioden, eintreten wird), so wird die frühere Weltanschauung, und vor allem die ganze frühere Sittlichkeit – ohne jede Menschenfresserei ganz von selbst fallen und dem Neuen Platz machen. Die Menschen werden sich zusammentun, um alles aus dem Leben zu ziehen, was daraus nur zu ziehen ist, doch unbedingt einzig und allein zum Zweck des Glückes und der Freude bloß hier in dieser Welt. Der Geist des Menschen wird sich in göttlichem, titanischem Stolz erheben, und dann wird der Menschgott erstehen. Indem er allstündlich und dann bereits grenzenlos die Natur durch seinen Willen und durch die Wissenschaft besiegt, wird er auf diese Weise allstündlich eine so hohe Befriedigung empfinden, daß sie ihm alle früheren Hoffnungen auf die himmlischen Befriedigungen ersetzen wird. Ein jeder wird wissen, daß er ganz und gar, daß er restlos sterblich ist, daß es keine Auferstehung gibt, und er wird den Tod stolz und ruhig wie ein Gott hinnehmen. Schon allein aus Stolz wird er einsehen, daß er nicht darüber zu murren hat, daß das Leben nur einen Augenblick währt, und er wird seinen Bruder lieben ohne die Bedingung der Gegenliebe. Die Liebe wird nur während des Lebensaugenblicks andauern, dafür aber wird das Bewußtsein ihrer Kürze ihr Feuer um ebensoviel verstärken, als es früher in der Hoffnung auf die endlose Liebe im Jenseits verdünnt wurde‘ ... nun und so weiter in der Art. Ganz allerliebst!“

Iwan saß, hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und blickte zu Boden, doch allmählich fing er an, am ganzen Körper zu zittern. Die Stimme fuhr fort.

„Die Frage besteht jetzt also nur darin, dachte mein junger Denker: ob es möglich ist, daß eine solche Periode jemals anbricht, oder ob das ausgeschlossen ist. Wenn sie anbricht, so ist alles gelöst, und die Menschheit wird sich endgültig einrichten. Da dies aber, im Hinblick auf die in der Menschheit eingewurzelte Dummheit, vielleicht noch, nun ja, ganze tausend Jahre zum Durchdringen erfordern wird, so ist einem jeden, der schon jetzt die Wahrheit erkennt, im Grunde gestattet, sich völlig nach eigenem Gutdünken einzurichten, also nach neuen Grundsätzen. In diesem Sinne ist ihm ‚alles erlaubt‘. Und damit noch nicht genug: Selbst wenn diese Periode niemals anbrechen sollte, so ist doch, da es ja Gott und Unsterblichkeit sowieso nicht gibt, diesem neuen Menschen vollkommen erlaubt, Menschgott zu werden, wenn auch nur er allein in der ganzen Welt es wird. Und der kann sich dann in diesem neuen Range, versteht sich, mit leichtem Herzen über jede sittliche Schranke des früheren Knechtmenschen hinwegsetzen, wenn es nötig sein sollte. Für einen Gott gibt es kein Gesetz! Wohin Gott sich stellt – dort ist der Platz schon Gottes. Wohin ich mich stellen werde, dort wird sofort der erste Platz sein ... ‚Alles ist erlaubt‘ und damit – Punktum! Das alles ist ja sehr nett; nur fragt es sich, sollte man meinen, wozu er, wenn er nun einmal gaunern will, – wozu er da noch die Sanktion der Wahrheit haben will? – Aber so ist ja unser zeitgenössischer Russe: Ohne Sanktion kann er sich nicht einmal zu Schurkereien entschließen, dermaßen hat er die Wahrheit liebgewonnen ...“

Der Gast ließ sich offenbar immer mehr durch seine Schönrednerei fortreißen, jedenfalls erhob er die Stimme immer lauter und begann sogar, spöttisch zum Hausherrn hinüberzublicken; er konnte aber seine Rede nicht zu Ende sprechen: Iwan ergriff plötzlich wutbebend das Glas vom Tisch und schleuderte es auf den Redner.

„Ah, mais c’est bête enfin!“ rief jener aus, indem er vom Diwan aufsprang und mit den Fingern die Teespritzer von seinem Rock abknipste. „Da ist ihm Luthers Tintenfaß eingefallen! Selbst hält er mich für einen Traum und wirft dabei mit Teegläsern nach mir! Das ist ja Weiberart! Also hab ich richtig vermutet, daß du dich nur so anstelltest, als hieltest du dir die Ohren zu, in Wirklichkeit aber zuhörtest ...“

Ein starkes und beharrliches Klopfen an den Fensterrahmen wurde plötzlich von draußen her hörbar. Iwan Fedorowitsch sprang vom Diwan auf.

„Hörst du, mach lieber auf,“ rief der Gast aus, „das ist dein Bruder, Aljoscha, mit der allerunerwartetsten und wichtigsten Nachricht, dafür bürge ich dir!“

„Schweig, Betrüger, ich wußte früher als du, daß es Aljoscha ist, ich habe ihn vorausgefühlt und ... selbstverständlich kommt er nicht umsonst ... ich weiß, daß er mit einer ‚Nachricht‘ kommt!“ rief Iwan wie außer sich, wie rasend.

„So mach doch auf, mach auf! Draußen tobt der Schneesturm, er aber ist doch dein Bruder. Monsieur, sait-il aussi le temps qu’il fait? C’est à ne pas mettre un chien dehors ...“

Das Klopfen dauerte fort. Iwan wollte schon zum Fenster stürzen, doch plötzlich war ihm, als wären seine Füße und Arme gefesselt. Er strengte sich aus allen Kräften an, wie um seine Fesseln zu zerreißen, aber vergeblich. Das Klopfen an den Fensterrahmen wurde immer stärker und lauter. Endlich: plötzlich zerrissen die Fesseln, und Iwan Fedorowitsch sprang auf vom Diwan. Er blickte sich wild im Zimmer um. Die beiden Lichter waren fast schon ganz heruntergebrannt, das Glas, mit dem er soeben nach seinem Gast geworfen hatte, stand vor ihm auf dem Tisch, und auf dem Diwan an der gegenüberliegenden Wand saß – niemand. Das Klopfen an den Fensterrahmen dauerte zwar noch fort, aber es war doch lange nicht so laut, wie es ihm kurz vorher im Traume geschienen hatte. Im Gegenteil, es wurde sogar sehr vorsichtig geklopft.

„Das war kein Traum! Nein, ich schwöre es, das war kein Traum, das war, das war doch Wirklichkeit!“ rief Iwan Fedorowitsch aus. Darauf schritt er zum Fenster und öffnete es.

„Aljoscha, ich habe dir doch verboten, zu mir zu kommen!“ rief er wutbebend dem Bruder zu. „Sage in zwei Worten: was willst du? In zwei Worten, verstanden?“

„Vor einer Stunde hat Ssmerdjäkoff sich erhängt,“ antwortete Aljoscha von draußen.

„Geh zur Treppe, ich werde dir sofort aufmachen,“ sagte Iwan und ging zur Eingangstür, um Aljoscha hereinzulassen.

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