Ssmerdjäkoff hatte inzwischen das Krankenhaus schon verlassen. Iwan Fedorowitsch wußte, wo er wohnte: in jenem kleinen, aus rohen Balken gezimmerten, schief gewordenen, alten Häuschen, das nur aus zwei kleinen, durch einen Flur getrennten Zimmern bestand. In dem einen Zimmer hatte sich Marja Kondratjewna mit ihrer Mutter eingerichtet, und im anderen wohnte jetzt Ssmerdjäkoff ganz allein. Unter welchen Bedingungen er dort lebte, ob er ihnen etwas dafür zahlte, oder ob er ihnen nichts zahlte, das mag Gott wissen. Später vermutete man, daß er sich in der Eigenschaft als Marja Kondratjewnas Bräutigam bei ihnen niedergelassen hatte und vorläufig unentgeltlich dort wohnte. Die Mutter wie die Tochter verehrten ihn grenzenlos und hielten ihn, wenigstens im Vergleich zu sich selbst, für ein höheres Wesen.
Iwan Fedorowitsch klopfte an die Tür. Als ihm aufgemacht wurde, sah er sich zuerst in einem kleinen, schmalen Flur, aus dem er auf Marja Kondratjewnas Weisung geradezu in die „gute Stube“ eintrat, die von Ssmerdjäkoff eingenommen wurde. In dieser „guten Stube“ befand sich ein großer Kachelofen, der stark geheizt war. Die Wände schmückten himmelblaue Tapeten, allerdings ganz zerrissene, und hinter ihnen und in den Rissen krabbelte eine erschreckende Menge großer wie kleiner Schaben, so daß man im Zimmer ein unaufhörliches, eintöniges, schließlich einschläferndes Rascheln hörte. Eingerichtet war das Zimmer selbst für eine Bauernstube ganz erbärmlich: zwei Bänke an den Wänden, zwei Stühle neben dem Tisch. Der Tisch aber war, wenn auch aus einfachen Brettern gezimmert, so doch mit einer rosagemusterten Tischdecke bedeckt. Vor jedem der zwei kleinen Fenster stand je ein Blumentopf mit Geranien. In der Ecke hing ein Schrein mit Heiligenbildern. Auf dem Tisch standen ein kleiner, messingner, stark mit Beulen bedeckter Ssamowar und ein Teebrett mit zwei Tassen. Ssmerdjäkoff hatte schon seinen Tee getrunken, und der Ssamowar war erloschen ... Er selbst saß auf der einen Bank am Tisch, saß über ein Heft gebeugt und malte mit der Feder irgendwelche Buchstaben. Ein kleines Tintenfaß stand vor ihm auf dem Tisch, desgleichen ein einfacher Metalleuchter, in dem eine Stearinkerze stak. Iwan Fedorowitsch sagte sich sofort nach dem ersten Blick auf Ssmerdjäkoff, daß jener sich vollkommen erholt hatte. Sein Gesicht war frischer, voller, die Locke über der Stirn war sorgfältig aufgedreht, und die Schläfenhaare waren glatt angekämmt. Er saß in einem bunten wattierten Schlafrock, der aber schon recht alt zu sein schien und ziemlich zerrissen war. Auf der Nase hatte er eine Brille, die Iwan Fedorowitsch früher nie bei ihm gesehen hatte. Dieser eine nichtssagende Umstand verdoppelte geradezu Iwan Fedorowitschs Gereiztheit. „Solch ein Tier, und da sitzt es nun noch mit einer Brille auf der Nase!“ dachte er wütend. Ssmerdjäkoff erhob langsam seinen Kopf und blickte aufmerksam durch die Brille den Eintretenden an; darauf nahm er die Brille ab und erhob sich von der Bank, tat es aber nichts weniger als ehrerbietig, tat es sogar mit einer gewissen Faulheit, als wenn er nur die unumgänglichste Höflichkeit beobachten wollte, ohne die es nun einmal leider nicht geht. Iwan Fedorowitsch erkannte dies sofort. Vor allem fiel ihm Ssmerdjäkoffs Blick auf, der entschieden feindlich, jedenfalls nichts weniger als willkommenheißend und sogar hochmütig war. Er schien förmlich auszusprechen: „Warum schleppst du dich denn wieder her, wir haben doch dazumal alles erledigt, was willst du denn jetzt noch?“
Iwan Fedorowitsch konnte sich kaum beherrschen.
„Heiß ist es hier bei dir,“ sagte er, noch an der Tür stehend, und riß den Mantel auf.
„Nehmt ihn ab,“ erlaubte gnädig Ssmerdjäkoff.
Iwan Fedorowitsch zog den Mantel aus und warf ihn auf die andere Bank, ergriff mit etwas zitternden Händen einen Stuhl, schob ihn mit einem Ruck an den Tisch und setzte sich. Ssmerdjäkoff war es gelungen, sich bereits früher als Iwan wieder zu setzen.
„Vor allen Dingen – sind wir allein?“ fragte Iwan Fedorowitsch streng und heftig. „Kann man uns nicht im anderen Zimmer hören?“
„Niemand wird was hören. Habt ja selber gesehen, daß ein Flur zwischen ist.“
„Hör mal, mein Lieber: was war es, was du damals faseltest, als ich dich im Krankenhause verließ? Was kautest du da von –: wenn ich nicht aussagen würde, daß du ein Meister im Vortäuschen von epileptischen Anfällen wärst, so würdest auch du dem Untersuchungsrichter unser ganzes Gespräch, das wir am Vorabend beim Hoftor hatten, gar nicht mitteilen? Was meintest du mit diesem ‚unser ganzes Gespräch‘? Drohtest du mir etwa? Was hast du damit sagen wollen? Daß ich mich mit dir verbündet hätte oder verabredet, und dich etwa jetzt fürchten könnte?“
Iwan Fedorowitsch sprach es fast jähzornig; er gab dabei mit Absicht deutlich zu verstehen, daß er jeden Winkelzug verachtete sowie jedes vorsichtige Heranschleichen, vielmehr mit offenen Karten spielen wollte. In Ssmerdjäkoffs Augen blitzte es boshaft auf, und das linke kleine Äuglein zwinkerte wieder, als wollte es prompt zur Antwort geben: „Also offene Karten willst du? – schön, soll geschehen, so offen wie du nur willst.“
„Was ich dazumal mit selbigem meinte und aussprach, war, daß Ihr sehr wohl diesen Mord voraussaht und dennoch abreistet, alsomit Euren leiblichen Vater wohlweislich opfertet und Euch selber fortbegabt, damit die Menschen nicht was Schlechtes von Euren Gefühlen dächten, vielleicht aber auch noch von manchem übrigen. – Selbiges war es, was ich dazumal der Obrigkeit nicht zu sagen Euch versprach.“
Ssmerdjäkoff sprach es zwar langsam und hatte sich augenscheinlich ganz in der Gewalt, doch in seiner Stimme lag jetzt bereits etwas Festes und Sicheres, Boshaftes und frech Herausforderndes. Geradezu unverschämt fixierte er Iwan Fedorowitsch, so daß es diesem einen Moment vor den Augen flimmerte.
„Wie? Was? Bist du verrückt geworden oder noch bei Sinnen?“
„Vollkommen alleweil bei Sinnen.“
„Aber wie sollte ich denn das wissen, daß er ermordet werden würde?“ schrie plötzlich Iwan Fedorowitsch ihn an, indem er heftig mit der Faust auf den Tisch schlug. „Und was heißt das: ‚vielleicht aber auch noch von manchem übrigen‘? – sprich, Schurke!“
Ssmerdjäkoff schwieg und fuhr fort, immer mit demselben frechen Blick Iwan Fedorowitsch zu fixieren.
„Sprich, du stinkender Hund, von was für ‚manchem übrigen‘?“ schrie dieser laut.
„Mit selbigem manchem übrigen meinte ich soeben, daß Ihr dazumal selber sehr den Tod Eures Vaters wünschtet.“
Iwan Fedorowitsch sprang auf und schlug ihn aus aller Kraft auf die Schulter, so daß Ssmerdjäkoff an die Wand zurückprallte. In einem Augenblick war sein ganzes Gesicht von Tränen überströmt, und er sagte nur: „Schämt Euch, Herr, einen schwachen Menschen so zu schlagen!“ worauf er seine Augen mit seinem baumwollenen, blaukarierten, gänzlich vollgeschnaubten Schnupftuch bedeckte und sich in stilles Weinen versenkte. Das dauerte eine gute Weile an.
„Genug jetzt! Hör auf!“ befahl schließlich Iwan Fedorowitsch barsch und setzte sich wieder auf den Stuhl. „Bring mich nicht um meine letzte Geduld.“
Ssmerdjäkoff nahm endlich seinen vollgeschnaubten Lappen von den Augen. Jeder Zug seines runzlichen Gesichts drückte die soeben erlittene Kränkung aus.
„So hast du Schurke damals geglaubt, daß ich zusammen mit Dmitrij Fedorowitsch meinen Vater erschlagen wollte?“
„Eure Gedanken konnte ich dazumal nicht wissen,“ sagte Ssmerdjäkoff gekränkt, „und somit hielt ich Euch auf, als Ihr durch das Fußpförtchen eintreten wolltet, um Euch über selbigen Punkt zu erforschen.“
„Was zu erforschen? Wie?“
„Um doch diesen selbigen Umstand zu erforschen: wollt Ihr nun, oder wollt Ihr nicht, daß Euer Vater bald erschlagen würde.“
Was Iwan Fedorowitsch am meisten empörte, war dieser hartnäckig beibehaltene freche Ton, den Ssmerdjäkoff auf einmal angenommen hatte und nicht mehr verändern zu wollen schien.
„Du bist es, der ihn erschlagen hat!“ rief Iwan plötzlich auffahrend.
Ssmerdjäkoff lächelte verächtlich.
„Daß nicht ich es getan habe, das wißt Ihr doch selber ganz genau. Und ich glaubte, daß mit einem klugen Menschen sich gar nicht mehr darüber noch zu reden lohnt.“
„Aber warum, sag, warum war damals in dir ein solcher Verdacht auf mich aufgetaucht?“
„Wie ich Euch schon mannigfach gesagt habe, einzig von wegen meiner Angst. War ich doch dazumal in so einer Verfassung, daß ich in der Angst alle beargwöhnte. Aus selbigem Grunde beschloß ich dann, desgleichen auch Euch zu erforschen, dieweil wenn auch Ihr dasselbige wie Euer Bruder Dmitrij wünscht, dachte ich, so weiß ich, daß ich alsomit verloren bin, daß die Sache so gut wie geschehen ist, und ich mit eins wie eine Fliege untergehe.“
„Hör mal, vor zwei Wochen sprachst du anders.“
„Ich habe aber vor zwei Wochen im Hospital ganz genau dasselbe gemeint. Bloß glaubte ich alleweil, daß Ihr auch ohne überflüssige Wörter verstehen würdet und ein offenes Gespräch selber nicht wünschtet, wie eben ein sehr kluger Mensch.“
„Sieh mal einer an! Aber antworte, antworte, ich bestehe darauf! Wodurch, sage, wodurch habe ich damals in deiner gemeinen Seele einen so niedrigen Verdacht erwecken können?“
„Totschlagen – so hättet Ihr das selber auf keine Manier getan, und Ihr hättet es auch nicht gewollt. Aber wollen, daß ihn ein anderer totschlage – so wolltet Ihr dies sogar sehr.“
„Und wie ruhig, wie ruhig er es noch sagt! Aber warum hätte ich denn das wünschen sollen, zu welch einer Teufelei hätte ich das nötig gehabt?“
„Wie denn so, zu was nötig? Aber die Erbschaft?“ griff Ssmerdjäkoff geradezu giftig auf, und seinen Augen sah man die Rachelust an. „Dann hättet Ihr doch, wie jeder Eurer Brüder, etwa vierzigtausend Rubel auf einen Ruck bekommen, vielleicht noch viel mehr; hätte aber Fedor Pawlowitsch selbige Dame geheiratet, so hättet Ihr mitsamt Euren Brüdern nicht einen einzigen Rubel gesehen, dieweil Agrafena Alexandrowna die ganzen Kapitalien sofort nach der Trauung auf ihren Namen hätte verschreiben lassen, sintemal sie äußerst wenig dumm sind. Und war es denn dazumal weit von der Trauung? Nur ein Härchen: selbige Dame hätten bloß gebraucht, so mit dem kleinen Fingerchen vor Fedor Pawlowitsch zu machen, und sie wären ihr noch im selbigen Moment mit heraushängender Zunge in die Kirche nachgelaufen.“
Iwan Fedorowitsch wurde es zur Folterqual, sich zu beherrschen.
„Gut,“ sagte er endlich, „wie du siehst, bin ich nicht aufgesprungen, habe ich dich nicht geprügelt, nicht dich totgeschlagen. Sprich weiter: Also deiner Meinung nach hatte ich meinen Bruder Dmitrij dazu bestimmt, auf ihn also hätte ich gerechnet?“
„Wie solltet Ihr denn nicht auf Dmitrij Fedorowitsch rechnen? Dieweil wenn sie den Vater erschlagen, gehen sie aller Adelsrechte verlustig, aller Titel und alles Besitzes und werden nach Sibirien verschickt. Alsomit wäre dann auch ihr Teil nach dem Tode des Vaters Euch und Eurem Brüderchen Alexei Fedorowitsch zugefallen, also grad zur Hälfte, alsomit hättet Ihr dann nicht nur vierzig-, sondern gleich sechzigtausend Rubel geerbt. Wie solltet Ihr nun da nicht alleweil auf Euren Bruder Dmitrij Fedorowitsch rechnen!“
„Nun, weiß Gott, ich erdulde viel von dir! Höre, du verächtliches Subjekt: selbst wenn ich damals auf irgend jemanden gerechnet hätte, so wäre das allenfalls auf dich gewesen, nicht aber auf Dmitrij, und ich schwöre dir, ich ahnte sogar eine Niedertracht von dir ... damals ... ich erinnere mich noch vorzüglich meines Eindrucks!“
„Selbiges habe auch ich eine Sekunde lang gedacht, nämlich daß Ihr auf mich rechnetet,“ sagte Ssmerdjäkoff mit spöttischem Lächeln, „so daß Ihr durch selbiges dazumal noch mehr Unrecht tatet, denn wenn Ihr solch einen Argwohn auf mich hattet und zu gleicher Zeit doch verreistet, so war es doch alsomit geradezu, als wolltet Ihr mir sagen: Du kannst den Vater erschlagen, ich fahre fort, um dich nicht daran zu verhindern.“
„Hund! Das hast du nur so aufgefaßt!“
„Und das kam alles nur durch dieses Tschermaschnjä. Erbarmt Euch! Immer wieder bat Euch Euer Vater, nach Tschermaschnjä zu fahren, Ihr aber weigertet Euch, das Haus auf die paar Tage zu verlassen und selbige Bitte zu erfüllen. Und plötzlich, einzig auf mein dummes Wort hin, seid Ihr einverstanden, hinzufahren! Und was hattet Ihr nur dazumal für einen Grund, darauf einzugehen, nach Tschermaschnjä zu fahren? Wenn Ihr also nicht nach Moskau, sondern ganz grundlos nur auf mein eines Wort hin nach Tschermaschnjä fuhrt, so hieß das doch, daß Ihr etwas von mir erwartetet.“
„Nein, ich schwöre es, nein!“ schrie Iwan wutknirschend.
„Wie denn nicht? Sonst wär’s doch ganz und gar nicht angegangen, daß Ihr, als Sohn Eures Vaters, mich nicht auf der Stelle auf selbige hiesige Polizeiwacht gebracht oder mich durchgepeitscht hättet ... oder wenigstens ohne mir ein paar Maulschellen zu langen. Ihr aber gingt noch, ganz umgekehrt, ohne auch nur eine Spur von Wut, sofort hin und tatet nach meinem dummen Wort, akkurat, was ich gesagt hatte, und fuhrt auch richtig fort, was doch ganz ungereimt war, wenn Ihr selbigen Verdacht auf mich hattet, und es alsomit Eure Pflicht war, hierzubleiben und das Leben Eures Vaters hinfort zu beschützen ... Wie sollte ich nun da nicht selbiges denken?“
Iwan saß mit finsterer Stirn da, die Fäuste wie im Krampf auf die Knie gestützt.
„Ja, schade, daß ich dir keine Ohrfeigen gab!“ Er lächelte bitter. „Dich auf die Polizei zu bringen, ging leider nicht an: es hätte mir niemand geglaubt, und ich hätte doch nichts beweisen können. Was aber die Ohrfeigen betrifft ... ach, schade, daß ich damals nicht darauf verfallen bin! Wenn sie auch verboten sind, so hätte ich doch mit Vergnügen deine Fratze zu Brei geschlagen.“
Ssmerdjäkoff betrachtete ihn fast mit Hochgenuß.
„Im sonstigen gewöhnlichen Leben,“ hub er plötzlich in demselben selbstzufrieden-doktrinären Tone an, in dem er schon einmal, am Tisch Fedor Pawlowitschs stehend, mit Grigorij Wassiljewitsch über den Glauben gestritten und ihn zum besten gehabt hatte, „im sonstigen gewöhnlichen Leben sind Maulschellen heutigentags ganz und gar durchs Gesetz verboten, und so hat alle Welt aufgehört, zu schlagen, was aber die Ausnahmefälle des Lebens angeht, so kann man alleweil sagen, daß man nicht nur bei uns, sondern in der ganzen Welt, und selbst wenn man die französische Republik nimmt, überall ganz genau so fortfährt, alleweil zu schinden, wie zu Adams und Evas Zeiten, und selbiges wird auch nie auf Erden aufhören, Ihr aber habt dazumal selbst nicht einmal in so einem Ausnahmefall zu schlagen gewagt.“
„Wozu lernst du denn jetzt französische Vokabeln?“ fragte Iwan, indem er mit einem Kopfnicken auf das Heft wies.
„Warum sollte ich sie denn nicht lernen, um auf selbige Manier meine Bildung zu erhöhen, wenn ich denke, daß auch ich in jenen glücklichen Ländern Europas vielleicht mal sein werde?“
„Höre jetzt, Teufel, was ich dir sage!“ wandte sich plötzlich Iwan Fedorowitsch mit drohendem Blick und zitternd vor Wut an ihn. „Ich fürchte deine Anschuldigungen nicht! Sage ihnen was du willst über mich. Und wenn ich dich nicht hier auf der Stelle totgeschlagen habe, so geschah das einzig darum, weil ich dich für den Mörder halte und dich noch vor die Schranken bringen will. Ich werde dich schon entlarven!“
„Meiner Meinung nach aber tut Ihr besser, wenn Ihr schweigt. Sintemal, was könnt Ihr denn gegen mich in meiner Unschuld aussagen, und wer wird Euch was glauben? Und wenn Ihr anfangt, werdet Ihr nur das erreichen, daß auch ich dann alles sage; denn wie sollte ich mich nicht selber verteidigen?“
„Du glaubst wohl, daß ich dich jetzt fürchte?“
„Mögen auch die Richter meinen selbigen Worten, die ich Euch hier soeben gesagt habe, nicht glauben, so wird man ihnen doch um so mehr im Publikum glauben, und da werdet Ihr Euch schämen müssen.“
„Das soll wohl wieder heißen: ‚Mit einem klugen Menschen ist auch das Reden ein Genuß?‘ – wie?“ fragte Iwan Fedorowitsch, innerlich wutknirschend.
„Da habt Ihr den Nagel genau auf den Kopf getroffen. Ihr werdet doch alsomit als kluger Mensch nicht Dummheiten machen.“
Iwan Fedorowitsch erhob sich. Er fühlte, wie er am ganzen Körper vor verhaltener Wut zitterte. Er zog seinen Mantel an und verließ, ohne Ssmerdjäkoff noch ein Wort zu sagen, ohne auch nur noch einen Blick auf ihn zu werfen, eilig die Stube. Die kühle Abendluft erfrischte ihn. Es war heller Mondschein. Gedanken und Gefühle wogten in ihm, und doch hatte er die Empfindung, als hielten sie ihn wie unter einem Alb gefangen. „Soll ich unverzüglich hingehen und Ssmerdjäkoff anzeigen? Was aber soll ich denn sagen? Er bleibt trotz allem unschuldig. Er wird dann nur noch mich beschuldigen. Ja, in der Tat, warum wollte ich denn damals nach Tschermaschnjä fahren? Warum, warum nur?“ fragte sich Iwan Fedorowitsch. „Ja, natürlich, ich erwartete etwas, und er hat recht ...“ Und wieder erinnerte er sich zum tausendstenmal, wie er in der letzten Nacht im Vaterhause zur Treppe geschlichen war und gelauscht hatte; doch diese Erinnerung bereitete ihm jetzt solche Folterpein, daß er stehen blieb, als wäre er von einem Speer durchbohrt worden. „Ja, ich erwartete es damals, das ist wahr! Ich wollte, ja, ja, ich wünschte, daß dieser Mord geschehe! Wie, habe ich wirklich diesen Mord gewollt? – habe ich ihn gewollt? Ssmerdjäkoff muß totgeschlagen werden! ... Wenn ich jetzt nicht wage, Ssmerdjäkoff zu erschlagen, so lohnt sich ja überhaupt nicht mehr, weiter zu leben! ...“
Iwan Fedorowitsch ging darauf, ohne bei sich zu Hause vorzusprechen, geradeswegs zu Katerina Iwanowna und erschreckte sie maßlos: Er war wie trunken, war wie ein Irrsinniger. Er erzählte ihr sein ganzes Gespräch mit Ssmerdjäkoff, er bemühte sich, kein Wort zu vergessen. Er konnte sich nicht beruhigen, wie sehr sie ihm auch zuredete; er ging im Zimmer umher und sprach so sonderbar, oft ganz zusammenhanglos und in abgerissenen, nicht zu Ende gesprochenen Sätzen. Endlich setzte er sich, stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub den Kopf in den Händen. Und plötzlich murmelte er einen sonderbaren Aphorismus:
„Wenn nicht Dmitrij erschlagen hat, sondern Ssmerdjäkoff, so bin ich natürlich mit diesem solidarisch, denn ich habe ihn zur Ausführung seiner Absicht angeregt ... ich habe die Ausführung begünstigt ... Habe ich ihn dazu angeregt? – ich weiß es noch nicht. Wenn aber er erschlagen hat und nicht Dmitrij, so bin natürlich auch ich ein Mörder.“
Als Katerina Iwanowna das gehört hatte, erhob sie sich schweigend von ihrem Platz, ging zu ihrem Schreibtisch, öffnete eine auf ihm stehende Schatulle und entnahm ihr einen Zettel, den sie vor Iwan Fedorowitsch auf den Tisch legte. (Dieser Zettel war jenes Dokument, von dem Iwan Aljoscha als von einem „mathematischen Beweise“ dessen, daß Dmitrij den Vater erschlagen habe, gesprochen hatte.) Es war das ein Brief, den Mitjä in der Trunkenheit geschrieben – am selben Abend, nachdem er am Kreuzwege vor dem Kloster mit Aljoscha zusammengetroffen war. Kurz vorher war es bei Katerina Iwanowna in Aljoschas Gegenwart zu jener Szene gekommen, in der Gruschenka sie so unverzeihlich beleidigt hatte. Mitjä war nach der Trennung von Aljoscha zu Gruschenka geeilt; ob er sie gesehen hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls aber war er sehr spät im Gasthaus „Zur Hauptstadt“ erschienen, wo er sich dann gehörig angetrunken hatte. Darauf hatte er Feder und Papier verlangt und diesen für ihn verhängnisvollen Brief geschrieben. Es war ein schwärmerischer, wortreicher und zusammenhangloser Gefühlserguß, gerade so ein echtes Werk der Trunkenheit. Der Brief erinnerte etwa an die Rede eines Betrunkenen, der, nach Hause gekommen, seiner Frau oder sonst einem Hausgenossen eifrig erzählt, wie man ihn soeben beleidigt habe, was für ein Schuft sein Beleidiger sei, was er selbst dagegen für ein prächtiger Mensch sei, und wie er jenem Schufte heimzahlen werde – alles das unglaublich wortreich und mit Eifer vorgetragen, mit Faustschlägen auf den Tisch und unter trunkenen Tränen. Das Papier, auf dem Mitjä geschrieben hatte, war ein schmutziges Stück gewöhnlichen Schreibpapiers schlechter Qualität, auf dessen Rückseite eine Rechnung stand. Der trunkenen Beredsamkeit hatte das Schreibfeld augenscheinlich nicht genügt, denn Mitjä hatte nicht nur alle Ränder und Ecken beschrieben, sondern die letzten Zeilen sogar noch quer über das bereits Geschriebene gesetzt. Der Brief lautete wie folgt:
„Verhängnisvolle Katjä! Morgen werde ich mir das Geld verschaffen und Dir Deine Dreitausend zurückerstatten. Dann leb wohl, – Du großen Zornes fähiges Weib! Doch leb wohl dann auch meine Liebe! Machen wir ein Ende damit! Morgen werde ich von allen Menschen mir das Geld zu verschaffen suchen, bekomme ich es aber nicht von den Menschen, so – das schwöre ich Dir! – werde ich zum Vater gehn und ihm den Schädel einschlagen und es von ihm unter dem Kissen hervorholen, wenn nur Iwan abreisen würde. Ich werde nach Sibirien zu den Zwangsarbeitern gehen, aber die Dreitausend werde ich Dir zurückgeben. Du aber leb wohl. Ich verneige mich vor Dir bis zur Erde, denn vor Dir stehe ich als Schuft da. Vergib mir, Katjä. Nein, vergib mir lieber nicht: dann wird sowohl mir als auch Dir leichter sein! Lieber Zwangsarbeit als Deine Liebe, denn ich liebe eine andere. Du aber hast sie heute nur zu gut erkannt, wie solltest Du da noch vergeben können!? Ich werde ihn totschlagen, der mich bestohlen hat! Ich gehe fort von Euch allen, gehe weit fort in den Osten, um von niemandem mehr etwas zu wissen. Auch von ihr nicht, denn nicht Du allein bist eine Märtyrerin, auch sie ist eine. Leb wohl!
P. S. Ich schreibe einen Fluch, und doch bete ich dich an! Das fühle ich in meiner Brust. Eine einzige Saite ist noch geblieben, und die klingt fort. Besser ist, man reißt das Herz entzwei. Ich werde mich töten, zuerst aber diesen Hund. Ich werde ihm die Drei entreißen, und sie Dir hinwerfen. Wenn ich auch als Schuft vor Dir stehe, so bin ich doch kein Dieb! Erwarte die Dreitausend. Bei dem Hunde unter dem Kissen. Ein rosa Bändchen. Nicht ich bin ein Dieb, sondern ich werde den Dieb, der mich bestohlen hat, erschlagen. Katjä, sieh nicht verachtungsvoll auf mich herab: Dmitrij ist kein Dieb, er wird nur einen Menschen erschlagen! Er hat den Vater getötet und sich selbst zugrunde gerichtet, um aufrecht stehen zu können und Deine stolze Verachtung nicht ertragen zu müssen. Und Dich nicht lieben zu müssen.
PP. S. Deine Füße küsse ich, leb wohl!
PP. SS. Katjä, bete zu Gott, daß mir die Menschen Geld geben mögen! Dann werde ich meine Hände nicht mit Blut besudeln! Gibt man es mir aber nicht – so lade ich eine Blutschuld auf mich! Töte Du mich!
Dein Sklave und Dein Feind
D. Karamasoff.“
Als Iwan dieses „Dokument“ gelesen hatte, erhob er sich taumelnd: Er war überzeugt. So war denn der Bruder der Mörder und nicht Ssmerdjäkoff. Nicht Ssmerdjäkoff – das bedeutete, nicht er, Iwan. Dieser Brief erhielt in seinen Augen fast unbewußt sofort die Bedeutung eines klaren, unanfechtbaren Beweises. Jetzt gab es für ihn keinen Zweifel mehr an Mitjäs Schuld. Bei der Gelegenheit mag noch gesagt sein, daß Iwan niemals der Verdacht gekommen war, Mitjä hätte mit Ssmerdjäkoff zusammen den Mord begangen, ganz abgesehen davon, daß die Tatsachen eine solche Annahme nicht zuließen.
Iwan war vollkommen beruhigt. Am nächsten Morgen dachte er nur noch mit Verachtung an Ssmerdjäkoff und dessen höhnische Worte. Nach ein paar Tagen wunderte er sich sogar darüber, wie ihn die Beschuldigungen dieser Dienerseele so qualvoll hatten kränken können. Er beschloß, ihn zu verachten und zu vergessen. So verging ein Monat. Iwan Fedorowitsch zog weiter bei niemandem Erkundigungen über ihn ein, nur hörte er einmal davon sprechen, daß Ssmerdjäkoff sehr krank und nicht bei vollem Verstande sei. „Der wird mit Irrsinn enden,“ hatte sich einmal unser junger Arzt Warwinskij über ihn geäußert, und Iwan Fedorowitsch hatte sich diesen Ausspruch gut gemerkt. In der letzten Woche dieses Monats aber fing er selbst an, sich gesundheitlich sehr schlecht zu fühlen. Er hatte sich auch schon von dem Doktor, den Katerina Iwanowna aus Moskau verschrieben hatte, und der ein paar Tage vor der Gerichtssitzung angekommen war, untersuchen lassen. Und gerade in dieser Zeit hatten sich seine Beziehungen zu Katerina Iwanowna aufs äußerste zugespitzt. Sie waren wie zwei erbitterte Feinde, die sich nur ineinander verliebt hatten. Katerina Iwanownas Rückfälle in ihre frühere Liebe zu Mitjä, die zwar gewöhnlich nur kurz, doch dafür um so stärker waren, konnten Iwan geradezu rasend machen. Doch eines war dabei sonderbar: Bis zu jener bereits wiedergegebenen Szene bei Katerina Iwanowna, nachdem Aljoscha, von Mitjä kommend, mit ihm zusammen eingetreten war, hatte er, Iwan, sie noch kein einziges Mal während des ganzen Monats einen Zweifel an Mitjäs Schuld aussprechen hören, trotz aller ihrer „Rückfälle“ zu Mitjä, die ihm so maßlos verhaßt waren. Bemerkenswert ist ferner noch, daß Iwan, obwohl er fühlte, wie er Mitjä mit jedem Tage immer noch mehr haßte, zu gleicher Zeit sich doch klar bewußt war, daß er ihn nicht wegen dieser Rückfälle Katjäs haßte, sondern einzig und allein deshalb, weil er den Vater erschlagen hatte! Das fühlte er, und das wußte er. Nichtsdestoweniger war er ungefähr zehn Tage vor der Gerichtssitzung zu Mitjä gegangen und hatte ihm den Vorschlag gemacht, zu fliehen, – er hatte ihm seinen ganzen Plan auseinandergesetzt. Augenscheinlich hatte er diesen Plan schon lange ausgearbeitet. Hierbei gab es außer dem Hauptgrund, der ihn dazu bewogen hatte, noch eine andere Ursache, aus der er dies tat: Es war das die noch immer nicht vernarbte Streifwunde in seinem Herzen, die von dem einen kleinen Wort Ssmerdjäkoffs zurückgeblieben war: daß es ihm, Iwan, zustatten käme, wenn man den Bruder verurteilte, da er dann statt Vierzig-, Sechzigtausend erben werde. Deshalb hatte er beschlossen, ganze dreißigtausend Rubel allein von seiner Erbschaft zu geben, um dem Bruder die Flucht zu ermöglichen. Als er aber damals von ihm aus dem Gefängnis zurückgekehrt war, hatte ihn eine traurige, düstere Erregung überfallen: Er hatte plötzlich gefühlt, und er war sich des Gefühls immer bewußter geworden, daß er die Flucht nicht nur deswegen wünschte, um für sie die Dreißigtausend zu opfern, damit die Streifwunde in seinem Herzen vernarben konnte, sondern noch aus einem anderen, halb unbewußten Grunde. „Ist es vielleicht nicht, weil in der Seele auch ich ein ebensolcher Mörder bin?“ hatte er sich damals gefragt. Etwas Fernes, doch Brennendes vergiftete seine Seele. Vor allem hatte in diesem ganzen Monat sein Stolz gelitten, doch davon später ...
... Als Iwan Fedorowitsch nach seinem Gespräch mit Aljoscha an seiner Haustür angelangt war und, schon im Begriff, die Klingel zu ziehen, plötzlich sich entschlossen hatte, nochmals – zum drittenmal – zu Ssmerdjäkoff zu gehen, da hatte er unter dem Einfluß eines jäh ihn überkommenden, bebenden Unwillens gehandelt. Es war ihm plötzlich eingefallen, wie Katerina Iwanowna soeben noch in Aljoschas Gegenwart ausgerufen hatte: „Du bist es, du, der mich überzeugt hat, daß er der Mörder ist! Nur dir allein habe ich es geglaubt!“ Als ihm diese Worte wieder einfielen, ergriff es ihn wie ein Kältegefühl, das ihn erstarren machte, und es war ihm, als würden seine Glieder steif: Nie im Leben hatte er ihr so etwas gesagt oder gar sie davon zu überzeugen gesucht, daß Mitjä der Mörder sei, er hatte doch noch in ihrer Gegenwart sich selbst verdächtigt, damals, als er von Ssmerdjäkoff gekommen war. Im Gegenteil, sie hatte ihn daraufhin von der Schuld des Bruders überzeugt: Hatte sie ihm doch das „Dokument“ gezeigt, das Mitjäs Schuld bewies! Und nun plötzlich sagt sie: „Ich bin selbst bei Ssmerdjäkoff gewesen!“ Wann ist sie bei ihm gewesen? Iwan wußte nichts davon. Also war sie dann doch nicht so überzeugt von Mitjäs Schuld! Und was hatte Ssmerdjäkoff ihr sagen können? Unbändiger Zorn erhob sich in seinem Herzen. Er begriff nicht, wie er ihr vor einer halben Stunde diese Worte hatte durchlassen können. Er hatte schon den Griff des Glockenzuges erfaßt, doch plötzlich wandte er sich zurück und begab sich zu Ssmerdjäkoff. „Vielleicht werde ich ihn heute noch erschlagen,“ dachte er bei sich.