V. Der plötzliche Entschluß

Sie saß mit ihrer Großmutter in der Küche, beide wollten sie gerade schlafen gehen. Im Vertrauen auf Nasar Iwanowitsch hatten sie die Küchentür wieder nicht verriegelt.

Da stürzte Mitjä hinein, warf sich auf Fenjä und packte sie an der Kehle.

„Sage sofort, wo sie ist, mit wem ist sie in Mokroje!“ brüllte er außer sich.

Beide Weiber schrien auf.

„Ach, ich werde alles sagen, ach, Täubchen Dmitrij Fedorowitsch, werde gleich alles sagen, nichts verheimlichen,“ stammelte schnell, doch mit steifer Zunge, die tödlich erschrockene Fenjä, „sie ist nach Mokroje zum Offizier gefahren.“

„Zu was für einem Offizier?“ brüllte Mitjä.

„Zu ihrem früheren Offizier, zu demselben, zu ihrem früheren, den sie vor fünf Jahren gehabt hat, der sie verlassen hat und fortgefahren ist,“ stotterte, immer noch sich überstürzend, Fenjä so schnell, wie sie nur konnte.

Dmitrij Fedorowitschs Hände, mit denen er ihren Hals zusammengepreßt hatte, sanken herab. Er stand schweigend vor ihr, bleich wie ein Toter, doch an seinen Augen sah man, daß er alles mit einem Male begriffen hatte, alles, alles bis aufs Letzte hatte er begriffen und alles Unausgesprochene erraten. Doch war es der armen Fenjä natürlich nicht um diese Beobachtungen zu tun – ob er alles begriffen hatte oder nicht. Wie sie bei seinem Eintritt auf der Truhe gesessen hatte, so blieb sie auch jetzt sitzen; sie zitterte am ganzen Körper – hielt nur die Hände wie zum Schutz vor sich erhoben, und schien in dieser Stellung erstarrt zu sein. Der Blick ihrer angsterweiterten Pupillen war regungslos auf sein Gesicht geheftet. Seine beiden Hände waren rot von Blut, und auf der Stirn und der rechten Wange war sein Gesicht gleichfalls mit Blut besudelt; er hatte sich wahrscheinlich beim Laufen mit den blutigen Händen den Schweiß von der Stirn gewischt. Fenjä war einer Ohnmacht nahe. Die alte Matrjona, die zuerst mit einem Schrei aufgesprungen war, starrte ihn gleichfalls wie eine Irrsinnige an. Dmitrij Fedorowitsch stand ungefähr eine Minute lang, und dann setzte er sich, ohne recht zu wissen, warum, neben Fenjä auf einen Stuhl nieder.

Er saß und sah vor sich hin: er schien nicht zu denken, sondern gleichsam nur erschrocken, durch den Schreck gelähmt zu sein. Es war ihm alles so klar wie der Tag: dieser Offizier – er wußte von ihm, hatte von ihm gehört, wußte ja alles ganz genau, Gruschenka hatte ihm selbst alles erzählt. Er wußte auch, daß dieser Offizier ihr vor einem Monat einen Brief geschrieben hatte. Also einen Monat, einen ganzen Monat hatte sich alles im geheimen hinter seinem Rücken abgespielt, einen ganzen Monat, bis zur Ankunft dieses neuen Menschen – er aber hatte nicht einmal an ihn gedacht! Wie war das nur gekommen, wie war das möglich gewesen, daß er nicht mehr an ihn gedacht hatte? Wie war es doch nur gekommen, daß er damals diesen Offizier so ganz vergessen hatte? – gleich nachdem sie es ihm erzählt hatte? Das war die Frage, die wie ein Ungeheuer vor ihm stand. Und er schaute es an, dieses Ungeheuer, und der Schreck rief in ihm ein Gefühl wie Kälte hervor.

Und plötzlich begann er zu sprechen. Er wandte sich zu Fenjä und sprach leise und sanft: wie ein ruhiger und lieber Knabe sprach er zu ihr, ganz als hätte er völlig vergessen, wie sehr er sie erschreckt, beleidigt und gepeinigt hatte. Er fragte sie mit erstaunlicher, in seiner Verfassung unglaublicher Logik, und Fenjä, die zwar immer noch scheu auf seine blutigen Hände schielte, antwortete mit gleichfalls erstaunlicher Bereitwilligkeit auf jede Frage, die er an sie stellte, als wenn sie sich beeilen wollte, ihm die ganze „wahrhaftige Wahrheit“ zu sagen. Allmählich fing sie geradezu mit einer gewissen Freudigkeit an, ihm auch Ungefragtes zu erzählen, doch tat sie es nicht etwa, um ihn zu quälen, sondern als wollte sie sich beeilen, ihm von Herzen dienstlich zu sein. Sie erzählte ihm alles, was am Tage geschehen war, erzählte ausführlich von Aljoschas und Rakitins Besuch, wie sie, Fenjä, Wache gestanden hatte, wie ihre Herrin abgefahren war, und vorher noch Aljoscha durch das Fenster einen Gruß an ihn, Mitjenka, bestellt hatte, daß er nicht vergessen solle, „daß sie ihn ein Stündchen lang geliebt habe“. Als Mitjä von diesem Gruß hörte, lächelte er, und auf seinen bleichen Wangen erschien eine helle Röte. Da fragte ihn Fenjä, deren ganze Angst wieder vergangen war:

„Aber was haben Sie denn für Hände, Täubchen Dmitrij Fedorowitsch, sie sind ja ganz blutig!“

„Ja,“ sagte Mitjä mechanisch, blickte zerstreut auf seine Hände und vergaß sie sofort wieder, und mit ihnen auch Fenjäs Frage. Er versank wieder in Schweigen. Er war nun schon seit etwa zwanzig Minuten in der Küche. Sein erster Schreck war vergangen, doch wurde er ersichtlich von einem verzweifelten Entschluß beherrscht. Er erhob sich vom Stuhl und lächelte nachdenklich.

„Herr, was ist denn mit Ihnen geschehen?“ fragte Fenjä, die wieder auf seine Hände wies, – sie sagte es so mitleidig, als wäre sie jetzt im Leid der einzige ihm nahestehende Mensch.

Mitjä warf nochmals einen Blick auf seine Hände.

„Das ist Blut, Fenjä,“ sagte er und blickte sie mit einem sonderbaren Ausdruck an, „das ist Menschenblut. Gott, warum ist es nur vergossen worden! Aber ... Fenjä ... hier gibt es einen Zaun“ (er blickte sie an, als wollte er ihr ein Rätsel aufgeben), „ein hoher Zaun, der dem Ansehen nach schrecklich aussieht, aber ... morgen, wenn der Tag erwacht, ‚wenn die Sonne sich goldrot erhebt‘, dann ... dann wird Mitjä Karamasoff über diesen hohen Zaun springen ... Du weißt nicht, Fenjä, welchen Zaun ich meine, nun, tut nichts ... einerlei, wirst es morgen erfahren und dann alles begreifen ... jetzt aber leb wohl! Ich will nicht stören, werde mich fortschaffen, werde verstehen, mich rechtzeitig fortzuschaffen ... Ach, lebe, lebe, du meine Freude! Hast mich ein Stündchen geliebt, so vergiß denn auch fernerhin nicht Dmitrij Karamasoff, Mitjenka ... Sie nannte mich doch immer Mitjenka, weißt du noch, Fenjä?“

Mit diesen Worten verließ er plötzlich die Küche. Doch dieses Fortgehen erschreckte Fenjä noch mehr, als es sein unerwartetes Wiedererscheinen getan hatte, trotz der zusammengepreßten Kehle. –

Genau zehn Minuten danach trat Dmitrij Fedorowitsch bei jenem jungen Beamten, Pjotr Iljitsch Perchotin, bei dem er seine Pistolen versetzt hatte, ein. Es war schon halb neun Uhr und Pjotr Iljitsch, der zu Hause seinen Tee getrunken hatte, war gerade im Begriff, nach sorgfältiger Toilette in das Gasthaus „Zur Hauptstadt“ zu gehen, um dort Billard zu spielen. Mitjä war noch zur rechten Zeit gekommen, um ihn anzutreffen. Als der ihn aber erblickte und die Blutflecken auf dem Gesicht bemerkte, fragte er ihn erschrocken:

„Nanu, was ist denn mit Ihnen passiert?“

„Ich bin wegen meiner Pistolen gekommen und habe Ihnen das Geld gebracht. Ich danke Ihnen. Nur bitte schnell, Pjotr Iljitsch, ich habe es sehr eilig.“

Pjotr Iljitsch jedoch kam aus dem Erstaunen nicht heraus, er wunderte sich immer mehr; in Mitjäs rechter Hand bemerkte er einen Packen Geldscheine, und das Auffallende dabei war, daß er dieses Geld so in der Hand hielt und so damit eintrat, wie sonst niemand Geld zu halten und einzutreten pflegt. Er hatte alle Scheine in der rechten Hand und hielt die Hand gerade vor sich, als wenn er sie jedem zeigen wollte. Der Knabe, den Perchotin als Bedienten bei sich hatte, sagte später aus, daß Mitjä auch ins Vorzimmer so mit dem Gelde eingetreten sei, wahrscheinlich also auch auf der Straße die Hand ebenso gehalten hatte. Es waren alles Hundertrubelscheine, lauter regenbogenfarbene, und er hielt sie mit blutbeschmutzten Fingern. Späterhin, bei dem Verhör, das man anstellte, antwortete Perchotin auf die Frage, wieviel Scheine es gewesen wären, daß er dies nicht genau sagen könne: vielleicht zweitausend Rubel, vielleicht aber auch dreitausend, denn das Paket sei recht groß gewesen, „ziemlich fest“, doch wolle er nicht darauf bestehen, da ein Irrtum in solchen Dingen sehr leicht möglich sei, besonders wenn man nicht häufig so viel Geldscheine, so als Paket in der Hand gehalten, gesehen hat. Was ihm aber an Dmitrij Fedorowitschs Verfassung aufgefallen war, das drückte er später folgendermaßen aus: „Er war damals, wie mir schien, nicht recht bei Sinnen, doch nicht etwa betrunken, sondern – wie soll ich sagen? – er war gleichsam in Ekstase, war sehr zerstreut, zu gleicher Zeit aber sehr – ich möchte sagen: konzentriert, wie wenn er beständig an ein und dasselbe gedacht hätte, wie wenn er etwas vergeblich zu erfassen gesucht hätte und es ihm dabei doch unmöglich gewesen wäre, sich zu etwas zu entschließen. Er beeilte sich sehr, antwortete schroff und sonderbar; in manchen Augenblicken jedoch schien er keineswegs traurig oder bedrückt, sondern sogar heiter zu sein.“ –

„Aber was ist denn mit Ihnen passiert, was haben Sie nur?“ fragte Perchotin nochmals, indem er den Gast immer noch scheu betrachtete. „Haben Sie sich verwundet, sind Sie gefallen? Sehen Sie doch hier, wie Sie aussehen!“

Er ergriff ihn am Ellenbogen und zog ihn vor den Spiegel. Als Mitjä sein mit Blut besudeltes Gesicht erblickte, fuhr er zusammen und runzelte zornig die Stirn.

„Ach zum Teufel! Das fehlte gerade noch,“ stieß er brummend hervor, legte schnell das Geld aus der rechten Hand in die linke und griff mit der rechten hastig nach dem Taschentuch in der hinteren Rocktasche. Aber das Tuch war ganz blutdurchtränkt: kein einziger weißer Fleck war zu sehen, und es war nicht nur trocken geworden, sondern war buchstäblich hart getrocknet und wollte sich daher nicht auseinanderfalten lassen. Mitjä schleuderte es wütend fort.

„Hol’s der Teufel! Haben Sie nicht irgendeinen Lappen hier ... zum Abwischen?“

„So haben Sie sich nicht verletzt? Aber wo haben Sie sich denn so mit Blut besudelt? Wollen Sie sich nicht lieber waschen, ach, selbstverständlich, kommen Sie, hier ist der Waschtisch.“

„Waschen? Ja, das ist gut ... nur wohin soll ich denn das tun?“ Und er hielt in einer ganz sonderbaren Hilflosigkeit Perchotin die Geldscheine hin und blickte ihn dabei so fragend an, als müßte jener bestimmen, wohin er sein Geld legen sollte.

„Das Geld? Stecken Sie es doch in die Tasche, oder legen Sie es hier auf den Tisch; es wird schon nicht verloren gehn.“

„In die Tasche? Ja, in die Tasche. Das ist gut. ... Nein, sehen Sie mal, das ist doch alles Unsinn!“ sagte er plötzlich laut, gleichsam aus der Zerstreutheit erwachend. „Sehen Sie: wir wollen zuerst diese Sache erledigen, ich meine die Pistolen, Sie geben sie mir zurück, und hier ist Ihr Geld ... denn ich habe sie sehr nötig ... und Zeit – Zeit habe ich keinen Augenblick. –“ Damit nahm er den obersten Hundertrubelschein und hielt ihn Perchotin hin.

„So viel werde ich nicht herauszugeben haben,“ bemerkte der, „haben Sie nicht kleineres Geld?“

„Nein,“ sagte Mitjä, der wieder das Geldpaket betrachtete, aber er schien es selbst nicht genau zu wissen, und so blätterte er mit den Fingern die ersten zwei, drei Scheine zurück. „Nein, es sind nur solche,“ sagte er und blickte Perchotin wieder fragend an.

„Wie sind Sie denn plötzlich so reich geworden?“ fragte jener. „Warten Sie, ich werde den Jungen zu Plotnikoffs schicken, die schließen ihr Geschäft immer etwas später, – dort wird man es noch auswechseln. He, Mischa!“ rief er in das Vorzimmer.

„Zu Plotnikoff! Das ist großartig!“ rief Mitjä begeistert, als hätte ihn mit einem Male ein großer Gedanke erleuchtet. „Mischa,“ wandte er sich zum eingetretenen Jungen, „lauf zu Plotnikoff und sage, daß Dmitrij Karamasoff sofort hinkommen wird ... Doch hör, hör, daß sie Champagner, sagen wir drei Dutzend Flaschen einpacken, wie damals, als ich nach Mokroje fuhr ... Ich nahm damals vier Dutzend mit“ (damit wandte er sich plötzlich zu Perchotin), „sie wissen schon, hab keine Bange, Mischa, aber hör: daß sie den Käse nicht vergessen, die Straßburger Pasteten, geräucherte Forellen, Schinken und Kaviar, kurz und gut, alles, was sie da haben, so ungefähr für hundert, hundertzwanzig Rubel wie damals ... Aber hör noch: daß sie auch die Süßigkeiten nicht vergessen, Birnen, Wassermelonen, etwa zwei oder drei oder vier, halt, nein, von Wassermelonen genügt eine, dafür aber viel Schokolade, Karamellen, Ziehbonbon – kurz, alles, was ich auch damals nach Mokroje mitnahm, mit dem Champagner zusammen für dreihundert Rubel ... Nun, und auch jetzt soll es genau so viel sein. Aber vergiß nichts, Mischa, wenn du nur Mischa ... Er heißt doch Mischa, nicht wahr?“ unterbrach er sich, zu Perchotin gewandt.

„Warten Sie doch,“ unterbrach ihn Perchotin, der ihn unmutig angehört und beobachtet hatte, „bestellen Sie das lieber selbst, wenn Sie hinkommen, der Junge wird doch nur alles verwechseln.“

„Verwechseln, ja, das sehe ich, er wird alles verwechseln. Ach, Mischa, ich wollte dich fast abküssen für den kleinen Dienst ... Wenn du es nicht verwechselst, gebe ich dir zehn Rubel, spring aber schnell hinüber ... Champagner ist die Hauptsache, daß sie den Champagner einpacken und Kognak und Portwein und Rheinwein, kurz, alles wie es damals war ... Sie wissen schon, wie es damals war!“

„Aber so hören Sie doch auf!“ unterbrach ihn Perchotin ungeduldig. „Lassen Sie doch den Jungen endlich hinlaufen, er kann dort das Geld wechseln und sagen, daß sie noch nicht schließen sollen, und Sie gehen dann selbst hin und bestellen persönlich alles, was Sie wollen ... Geben Sie Ihren Hundertrubelschein, marsch, Mischa, lauf, daß deine Beine fliegen!“

Perchotin wollte, wie es schien, den Jungen absichtlich schnell aus dem Zimmer haben, denn dieser stand mit offenem Munde vor dem Gast und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf dessen blutbefleckte Stirn und die blutigen bebenden Hände mit dem Geldpaket und begriff vor Angst und Erstaunen wahrscheinlich kaum die Hälfte von dem, was Mitjä ihm sagte.

„So, jetzt kommen Sie und waschen Sie sich,“ befahl Perchotin kurz. „Legen Sie das Geld auf den Tisch, oder stecken Sie es in die Tasche ... So, nun kommen Sie. Aber ziehen Sie sich doch den Rock aus.“ Und er half ihm, sich seines Rockes zu entledigen, doch plötzlich schrie er auf.

„Was, Donner! Ihr Rock ist ja gleichfalls blutig!“

„Das ... das kommt nicht vom Rock ... Nur ein wenig hier am Ärmel ... und das hier ist, wo das Taschentuch gelegen hat. Es ist aus der Tasche durchgesickert. Ich habe mich bei Fenjä auf das Taschentuch gesetzt, und da ist denn das Blut durchgesickert,“ erklärte Mitjä sofort mit geradezu rührender Vertrauensseligkeit.

Perchotin hörte mit finsterer Stirn zu.

„Das sind ja schöne Geschichten! ... Sie haben wohl eine Prügelei gehabt?“ brummte er.

Darauf begann das Waschen. Perchotin hielt die Kanne und goß das Wasser über. Mitjä beeilte sich und seifte daher die Hände nur wenig ein. (Seine Hände zitterten, wie Perchotin sich später erinnerte.) Da befahl ihm Perchotin sofort, die Hände besser einzuseifen und stärker zu reiben. Er war Mitjä bereits überlegen und wurde es mit jeder Minute mehr. Bei der Gelegenheit will ich noch bemerken, daß der junge Mann von Charakter nichts weniger als schüchtern war.

„Da, unter den Nägeln haben Sie das Blut noch nicht genügend abgerieben; so, jetzt waschen Sie sich das Gesicht, hier, höher, noch höher: bei der Schläfe, beim Ohr ... Und Sie wollen in diesem Hemde fahren? Wohin fahren Sie denn? Sehen Sie doch, die ganze Manschette des rechten Ärmels ist mit Blut – ...“

„Ja, mit Blut,“ bemerkte Mitjä, der die Hand hob, um den Hemdärmelaufschlag zu betrachten.

„So wechseln Sie die Wäsche.“

„Keine Zeit. Ich, sehen Sie, ich werde ...“ fuhr Mitjä, der sich schon Gesicht und Hände getrocknet hatte und sich wieder den Rock anzog, mit derselben Zutraulichkeit fort, „ich werde hier den Hemdärmelrand einfach so umbiegen, man wird es unter dem Rock gar nicht sehen ... So, sehen Sie, nicht wahr?“

„Jetzt sagen Sie, wo Sie sich so zugerichtet haben? Haben Sie sich mit jemandem geprügelt? Im Gasthaus vielleicht? Etwa wieder mit dem Hauptmann, wie damals? Sie haben ihn wohl wieder am Bart gezogen?“ fragte Perchotin vorwurfsvoll. „Oder wen haben Sie sonst noch geprügelt ... oder am Ende gar totgeschlagen?“

„Unsinn!“ sagte Mitjä.

„Wieso Unsinn?“

„Ach, das ist doch ganz überflüssig,“ sagte Mitjä plötzlich lächelnd. „Ich habe soeben eine Alte auf dem großen Platze erdrückt.“

„Erdrückt? Eine Alte?“

„Einen Alten!“ schrie Mitjä lachend, mit offenem Blick in Perchotins Gesicht, und zwar so laut, als wenn jener taub gewesen wäre.

„Teufel noch eins, eine Alte, einen Alten ... Haben Sie jemanden totgeschlagen?“

„Wir haben uns wieder versöhnt. Wir prallten zusammen – und versöhnten uns ... an einem anderen Ort. Wir gingen als Freunde auseinander. Ein dummer Alter ... aber er hat mir verziehen ... jetzt hat er mir bestimmt schon verziehen ... Wäre er aufgestanden, so hätte er mir nicht verziehen,“ fügte Mitjä plötzlich, mit den Augen zwinkernd, hinzu. „Nur, wissen Sie, zum Teufel mit ihm, hören Sie, Pjotr Iljitsch, zum Teufel mit ihm, das ist jetzt ganz überflüssig! Jetzt in dieser Stunde will ich nicht!“ Mitjä brach in bestimmtem Tone kurz ab.

„Ich wollte Sie nur fragen, was für ein Vergnügen es Ihnen macht, mit fremden Menschen anzubinden ... wie Sie auch damals wegen solcher Lappalien mit diesem Hauptmann anbändelten ... zuerst eine Prügelei und dann ein Gelage – das ist Ihr ganzer Charakter! Drei Dutzend Flaschen Champagner! – Was fangen Sie denn damit an?“

„Bravo! Geben Sie jetzt die Pistolen. Bei Gott, ich habe keine Zeit. Ich würde gern mit dir etwas sprechen, mein Täubchen, wie Fenjä sagt, aber ich habe keine Zeit. Und es ist auch nicht nötig, es ist zu spät zum Sprechen. Ah! wo ist denn das Geld, wo habe ich es hingelegt?“ fragte er erstaunt und begann die Hände in die Tasche zu stecken.

„Auf den Tisch haben Sie es doch selbst gelegt ... dort, da liegt es ja. Hatten Sie es vergessen? Sie gehen ja mit Ihrem Gelde wahrlich so um, als wäre es Kehricht oder Wasser. Hier sind Ihre Pistolen. Sonderbar, um sechs versetzten Sie sie für zehn Rubel, und jetzt scheinen Sie ja Tausende in den Fingern zu haben. Wieviel sind es denn, zwei oder drei?“

„Drei, natürlich,“ sagte Mitjä lachend und steckte das Geld in die Hosentasche.

„Aber so werden Sie es doch verlieren. Haben Sie etwa Goldgruben geerbt?“

„Goldgruben? Goldgruben! Hahaha!“ Mitjä lachte, lachte unbändig. „Perchotin, sagen Sie, Liebster, wollen Sie nicht in den Goldgruben nach Gold graben? Dann wird Ihnen eine hiesige Dame sofort Dreitausend vorschießen, damit Sie nur hinfahren. Mir hat sie sie vorgeschossen, dermaßen liebt sie die Goldgruben! Kennen Sie Frau Chochlakoff?“

„Ich bin ihr nicht vorgestellt, aber ich habe sie gesehen und auch von ihr gehört. So hat sie Ihnen diese Dreitausend gegeben? Ist’s möglich?“ Perchotin blickte ihn ungläubig an.

„Wissen Sie, wenn morgen die Sonne goldrot emporsteigt, wenn der ewig junge Phöbus, Gott preisend und lobsingend, im Sonnenwagen am Himmel emporjagt, – so gehen Sie zu ihr, zu Frau Chochlakoff, und fragen Sie sie, ob sie mir die Dreitausend vorgeschossen hat oder nicht? Erkundigen Sie sich mal!“

„Ich kenne Ihre Beziehungen nicht ... wenn Sie so sagen, dann wird sie sie Ihnen wohl gegeben haben ... Und Sie gehen jetzt, nachdem Sie das Geld erhalten haben, anstatt nach Sibirien Gold graben, für alle drei ... Ja, wohin wollen Sie denn jetzt eigentlich fahren?“

„Nach Mokroje.“

„Nach Mokroje? Aber es ist doch Nacht!“

„Es war einmal ein Mann, der war in allem Meister, doch sieh, da ward er dumm und saß dann fest im Kleister,“ sagte plötzlich Mitjä.

„Wieso im Kleister? Mit Dreitausend in der Hand sitzt man nicht im Kleister.“

„Ich rede nicht von den Tausenden. Hol sie der Teufel, die Tausende! Ich rede von des Weibes Herz:

‚Weibersinn ist leicht und flatterhaft,

Kennt keine Treu und ist nicht tugendhaft.‘

Ich bin mit Ulysses vollkommen einverstanden; das hat er gesagt.“

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Betrunken, wie?“

„Nein, nicht betrunken, aber schlimmer als das.“

„Mein Geist ist trunken, Pjotr Iljitsch, geistig bin ich trunken, aber genug, genug davon!“

„Was tun Sie, Sie laden die Pistole?“

„Ja, ich lade die Pistole.“

Mitjä, der den Pistolenkasten geöffnet und das Pulverhorn genommen hatte, schüttete bereits vorsichtig die Ladung hinein und schlug sie dann sorgfältig fest zu. Darauf nahm er die Kugel, doch bevor er sie hineinschob, hielt er sie zwischen zwei Fingern zum Licht, um sie zu betrachten.

„Warum betrachten Sie die Kugel?“ fragte sofort Perchotin, der ihn unruhig und besorgt beobachtete.

„Nur so. Ein plötzlicher Einfall. Wenn du dir vorgenommen hättest, diese Kugel dir in den Kopf zu jagen, würdest du sie dann, wenn du die Pistole ladest, betrachten, oder würdest du sie so einfach hineinstoßen?“

„Warum sollte ich sie denn betrachten?“

„Wenn sie in dein eigenes Hirn eindringen soll, so ist es doch interessant, zu sehen, wie sie eigentlich aussieht ... Aber übrigens, was rede ich für einen Unsinn, das war nur so ein dummer Gedanke. So, fertig.“ Er hatte die Kugel mit Werg festgestampft. „Pjotr Iljitsch, lieber Pjotr Iljitsch, das war ja nur Unsinn, wenn du wüßtest, was für ein Unsinn! Gib mir mal jetzt ein Stückchen Papier.“

„Da ist Papier.“

„Nein, glattes, reines, auf dem man schreiben kann. Ja, solches.“ Und Mitjä ergriff eine Feder, die auf dem Tisch lag und schrieb schnell zwei Zeilen auf das Papier, das er dann zweimal zusammenfaltete und in die Westentasche steckte. Die Pistolen legte er zurück in den Kasten, verschloß ihn mit dem kleinen Schlüssel, und nahm ihn dann vom Tisch. Er blieb vor Perchotin stehen, blickte ihn lange an und lächelte gedankenverloren.

„Gehen wir jetzt,“ sagte er.

„Wohin wollen Sie? Nein, hören Sie, das geht nicht ... Sie wollen sich diese Kugel wahrscheinlich in Ihren Kopf jagen ...“ sagte Perchotin unmutig.

„Die Kugel war doch Unsinn! Ich will leben! Ich liebe das Leben! Das laß dir gesagt sein. Den goldlockigen Phöbus liebe ich, und ich liebe sein heißes Licht ... Pjotr Iljitsch, lieber Mensch, verstehst du, den Weg freizugeben?“

„Wie das, den Weg freizugeben?“

„Ich meine, aus dem Wege zu treten. Dem geliebten und gehaßten Wesen den Weg freizugeben? Und daß auch das Gehaßte lieb werde, – so muß man den Weg freizugeben verstehen! Und ihnen sagen: Gott mit euch, geht, geht vorüber, ich aber ...“

„Sie aber?“

„Genug, gehen wir.“

„Weiß Gott, ich muß jemanden rufen, damit man Sie nicht dorthin läßt.“ Perchotin blickte ihn scharf an. „Warum wollen Sie denn jetzt nach Mokroje?“

„Dort ist ein Weib, hörst du, ein Weib! So. Das mag dir als Erklärung genügen. Genug. Gehen wir!“

„Hören Sie, Karamasoff, Sie sind ein wilder Mensch, aber Sie haben mir immer, ich weiß nicht warum, gefallen ... ich beunruhige mich Ihretwegen.“

„Ich danke dir, Bruder. Ich bin wild, sagtest du? Ja, die Wilden, die Wilden! Ich habe es ja immer gesagt: die Wilden! Ah, das ist Mischa, ich hatte ihn schon ganz vergessen.“

Mischa war atemlos mit dem ausgewechselten Gelde eingetreten und meldete, daß bei Plotnikoff alle Kommis und Jungen bereits Flaschen, Fisch und Tee „zusammenschleppten“ und alles sofort fertig sein werde. Mitjä nahm einen Zehnrubelschein und reichte ihn Perchotin und einen anderen Zehnrubelschein wollte er dem Jungen geben.

„Nicht! Das verbiete ich Ihnen!“ Perchotin hielt ihn sofort auf. „In meinem Hause dürfen Sie das nicht ohne meine Erlaubnis tun, und es wäre auch nur eine schlechte Erziehung für den Jungen ... wenn ich es erlauben wollte. Stecken Sie Ihr Geld ein, nicht dorthin, stecken Sie es in diese Tasche, werden es sonst verlieren. Morgen werden Sie es vielleicht nötig haben, und dann müßten Sie wieder Ihre Pistolen versetzen. Warum wollen Sie es denn in die Seitentasche stecken? So werden Sie es doch nur verlieren!“

„Hör, lieber Mensch, fahren wir zusammen nach Mokroje?“

„Wozu soll ich dorthin fahren?“

„Hör, ich werde sofort eine Flasche bestellen, trinken wir auf das Leben! Ich will auf das Leben trinken, aber mit dir zusammen will ich trinken. Ich habe doch noch nie mit dir getrunken, nicht wahr?“

„Meinetwegen, das kann man im Gasthaus besorgen, gehen wir hin, es war gerade meine Absicht, zu einer Partie Billard hinzugehen.“

„Nein, dazu haben wir keine Zeit, aber wir können bei Plotnikoff trinken, im Hinterzimmer. Willst du, ich werde dir ein Rätsel zum Raten aufgeben?“

„Nun, gib’s nur auf.“

Mitjä zog aus der Westentasche den soeben geschriebenen Zettel hervor, faltete ihn auseinander und zeigte ihn ihm. Mit deutlicher und großer Handschrift stand darauf geschrieben:

„Ich strafe mich für mein durchlebtes Leben und bestrafe damit mein Leben.“

„Nein, weiß Gott, ich muß jemanden rufen, ich werde sofort ...,“ murmelte Perchotin vor sich hin, als er den Zettel gelesen hatte.

„Wirst keine Zeit mehr dazu haben, mein Täubchen, gehen wir und trinken wir. Nun, rechtsum kehrt, vorwärts – marsch!“

Die Kolonialwarenhandlung von Plotnikoff lag an derselben Straße, nur ein paar Häuser weit von Perchotins Wohnung, gerade an der Straßenecke. Es war die größte Delikatessenhandlung in unserer Stadt. Die Inhaber waren reiche Kaufleute, und das Geschäft ging nicht so übel. Es war dort alles zu haben, was auch in der Großstadt jedes größere Kolonialwarengeschäft hat: Weine von den Brüdern Jelissejeff, Früchte, Zigarren, chinesischer Tee, Zucker, Kaffee usw. Es waren immer drei Kommis und zwei Laufburschen beschäftigt. Obwohl unser Bezirk verarmt, der Handel zurückgegangen war und die Gutsbesitzer fortzogen, so blühte doch dieses Kolonialwarengeschäft nach wie vor und vergrößerte sich noch mit jedem Jahr, denn die Zahl der Käufer dieser Gegenstände verringerte sich nicht, sondern wuchs eher. Dmitrij Fedorowitsch wurde ungeduldig erwartet. Man erinnerte sich noch gar zu gut, wie er vor vier Wochen ebenso plötzlich Weine, Delikatessen und Süßigkeiten bestellt hatte, Ware für mehrere hundert Rubel bar (auf Kredit hätte man ihm natürlich nichts gegeben), und ebensogut wußte man, daß er auch damals ebenso wie jetzt einen ganzen Packen Hundertrubelscheine in der Hand gehalten hatte, wußte, wie er mit dem Gelde umgegangen war, wie großartig er alles bestellt hatte, ohne je nach einem Preise zu fragen, ohne nachzudenken oder nachdenken zu wollen, wieviel Ware er nahm. Sprach doch die ganze Stadt nachher, daß er damals, als er mit Gruschenka nach Mokroje gefahren war, in einer Nacht und an dem folgenden Tage dreitausend Rubel ausgegeben hatte und ohne einen roten Heller zurückgekommen war. Ein ganzes Zigeunerlager, das sich damals bei uns niedergelassen hatte, war von ihm hinbestellt worden, und dieses schlaue Volk, hieß es, hätte ihm in der Trunkenheit unzähliges Geld abgezapft und seine teuren Weine wie Flußwasser (nur mit anderen Folgen) getrunken. Man erzählte sich lachend, wie er in Mokroje schmutzige Bauernkerle mit Champagner und die Dorfmädel und Weiber mit teurem Konfekt und Straßburger Pasteten traktiert hatte. Desgleichen lachte man, besonders im Gasthaus „Zur Hauptstadt“, über Mitjäs aufrichtiges Eingeständnis (natürlich lachte man ihm nicht ins Gesicht, denn das wäre etwas zu gefährlich gewesen), daß er von Gruschenka für diese ganze „Eskapade“ nichts als die Erlaubnis erhalten hatte, „einen Kuß auf ihr Füßchen drücken zu dürfen und weiter nichts“.

Als Mitjä und Perchotin sich dem Laden näherten, sahen sie, daß vor der Tür eine Troika hielt; der Wagen war mit einem Teppich bedeckt und die Pferde mit Glocken und Schellen geschmückt. Andrei, der Kutscher, ging auf und ab und wartete auf Mitjä. Im Laden hatte man eine Kiste bereits „erledigt“ und wartete nur noch auf Mitjäs Erscheinen, um sie zu vernageln und auf den Wagen zu heben. Perchotin wunderte sich.

„Aber wo hast du so schnell die Troika hergenommen?“ fragte er erstaunt.

„Als ich zu dir ging, traf ich ihn unterwegs, ich meine den Andrei, und da befahl ich ihm, sofort anzuspannen und hier vorzufahren. Wozu Zeit verlieren? Das vorige Mal fuhr ich mit Timofei, aber diesmal ist mir Timofei mit meiner Zauberin vorausgefahren. He, Andrei, werden wir sehr viel später ankommen?“

„Höchstens ein Stündchen, Herr, werden sie früher ankommen als wir, und selbst nicht mal das!“ versicherte Andrei eilfertig. „Ich habe Timofei abfahren sehen, ich weiß, wie der fahren wird. Die fahren nicht wie wir, Herr, wie sollen die denn so wie wir fahren! Mehr als eine Stunde kommen sie sicherlich nicht früher an!“ beteuerte Andrei eifrig. Es war ein noch nicht alter, rothaariger und hagerer Mann im Leibrock. Seinen Mantel trug er auf dem linken Arm.

„Fünfzig Rubel Trinkgeld, wenn wir nur eine Stunde später hinkommen.“

„Für eine Stunde bin ich sicher! Ach, Herr, die werden nicht mal ’ne halbe Stunde früher ankommen, von ’ner ganzen schon ganz zu schweigen!“

Mitjä war zwar sehr beschäftigt mit dem Anordnen, doch gab er seine Befehle auffallend zerstreut, er sprach sie fast nie zu Ende. Perchotin fand es geboten, sich in die Sache einzumischen.

„Für vierhundert Rubel, nicht weniger als für vierhundert, damit es ganz genau so viel ist, wie damals,“ kommandierte Mitjä. „Vier Dutzend Flaschen Champagner, keinen Tropfen weniger!“

„Wozu soviel, wer wird das austrinken? Halt!“ rief Perchotin. „Was ist das für eine Kiste? Was ist hier eingepackt? Diese Kiste soll für vierhundert Rubel Weine und Delikatessen enthalten?“

Ihm wurde aber sofort von den dienstbeflissenen Kommis in höflichster Redeweise auseinandergesetzt, daß in dieser ersten Kiste nur ein halbes Dutzend Flaschen Champagner und „alle möglichen notwendigen Konserven und sofort nötige Delikatessen“ eingepackt seien, sowie Schokolade, Früchte, Kaviar, Lachs usw., daß aber der „große Bedarf“ sofort eingepackt und noch in dieser Stunde mit einer anderen Troika abgeschickt werden würde, so wie es auch das vorige Mal geschehen sei, und daß also die Sachen für den „großen Bedarf“ höchstens eine Stunde später als der Herr in Mokroje ankommen würden.

„Nur nicht später als nach einer Stunde, und möglichst viel Schokolade und Makronen, die werden von den Mädels am liebsten gegessen,“ setzte Mitjä noch eifrig hinzu.

„Nun gut, also noch Makronen. Aber was fängst du mit vier Dutzend Flaschen Champagner an? Eines genügt vollkommen!“ sagte Perchotin geärgert.

Er erkundigte sich nach den Preisen, verlangte die Rechnung und wollte sich nicht beruhigen. Kurz, er rettete im ganzen etwa hundert Rubel. Es endete damit, daß alles in allem nur für dreihundert Rubel Ware eingepackt werden sollte.

„Ach, zum Teufel!“ Perchotin bedachte sich eines anderen. „Was geht das mich an! Tu mit deinem Gelde, was du willst, wenn du es so mühelos bekommen hast!“

„Komm her, mein lieber Nationalökonom, komm her, ärgere dich nicht.“ Damit zog ihn Mitjä in das Hinterzimmer. „Man wird uns sofort eine Flasche herbringen. Ach was, fahren wir zusammen hin, du bist ein lieber Mensch, ich liebe solche wie du.“

Mitjä setzte sich auf einen geflochtenen Stuhl vor einen kleinen Tisch, der mit einem äußerst befleckten Tischtuch bedeckt war. Perchotin ließ sich ihm gegenüber auf irgendeiner anderen Sitzgelegenheit nieder. Im selben Augenblick wurde auch schon der Champagner gebracht. Es wurde noch gefragt, ob die Herren nicht Austern wünschten, „prima Qualität, letzte Sendung ...“

„Ach, zum Teufel mit den Austern, ich will sie nicht, nicht nötig,“ stieß Perchotin geradezu wütend hervor.

„Ja, wir haben keine Zeit zum Austernschlürfen,“ meinte Mitjä, „und ich habe auch keinen Appetit auf Austern. Weißt du, Freund,“ sagte er plötzlich gefühlvoll, „ich habe niemals diese ganze Unordnung geliebt.“

„Wer liebt denn überhaupt so etwas! Vier Dutzend, das ist doch wirklich ... für Bauernkerle!“

„Ich rede nicht davon. Ich meinte die höhere Ordnung. Es ist keine Ordnung in mir, keine höhere Ordnung ... Aber ... das ist jetzt vorüber, wozu noch darüber trauern. Das kommt jetzt zu spät, hol’s der Teufel, wenn er will! Mein ganzes Leben war Unordnung, jetzt muß man einmal Ordnung schaffen. Hm, du glaubst wohl, daß ich Witze reißen will?“

„Du phantasierst im Fieber, aber machst keine Witze.

‚Heil dem Höchsten in der Welt,

Heil dem Höchsten auch in mir!‘

– Diese Worte haben sich einmal, irgend einmal aus meiner Seele gerungen, nicht als Gedicht, nein, es waren Tränen ... Ich habe sie selbst gedichtet ... natürlich nicht damals, als ich den Hauptmann am Bärtchen zog ...“

„Wie kommst du auf ihn?“

„Wie ich auf ihn zu sprechen komme? Unsinn! Alles nähert sich dem Ende, alles gleicht sich aus, ein Strich – und das Fazit.“

„Nein, weiß Gott, mir kommen deine Pistolen nicht aus dem Sinn.“

„Auch die Pistolen sind Unsinn! Trink und phantasiere nicht. Ich liebe das Leben, habe es gar zu lieb, so lieb, daß es fast schon niedrig ist. Doch genug davon! Auf das Leben, Täubchen, auf das Leben laß uns trinken, ich schlage einen Toast auf das Leben vor! Warum bin ich nur so zufrieden mit mir? Ich bin ein niedriger Mensch, aber ich bin zufrieden mit mir. Und doch – es quält mich, daß ich niedrig und trotzdem mit mir zufrieden bin. Ich segne die Schöpfung, ich bin bereit, Gott zu segnen und seine Schöpfung, aber ... man muß ein scheußliches Insekt vernichten, damit es nicht mehr umherkriecht, nicht anderen das Leben verdirbt ... Trinken wir auf das Leben, Bruder! Was gibt es Schöneres als das Leben? Nichts, nichts! Auf das wogende Leben und auf eine Königin aller Königinnen!“

„Schön, trinken wir auf das Leben, und meinetwegen auch auf deine Königin.“

Sie tranken jeder ein Glas. Mitjä war trotz seiner Begeisterung und Ekstase gewissermaßen traurig – als wenn eine Sorge hinter ihm stünde und er sie nicht loswerden könnte.

„Mischa ... das ist doch dein Mischa, der soeben eintrat? Mischa, Täubchen, Mischa, komm her, trink dieses Glas auf Phöbus, den goldlockigen Jüngling, der morgen ...“

„Warum gibst du ihm Champagner!“ rief Perchotin gereizt und versuchte ihn aufzuhalten.

„Nun, erlaub doch, laß doch, warum willst du es nicht? – laß, ich will.“

„Ach nun!“

Mischa trank das Glas aus, machte einen schönen Bückling und lief fort.

„So wird er es länger behalten,“ meinte Mitjä. „Ein Weib liebe ich, ein Weib! Was ist das Weib? Die Königin der Erde! Traurig ist mir zumut, Pjotr Iljitsch. Weißt du noch, wie Hamlet sagt: ‚Mir ist so schwer ums Herz, so schwer, Horatio ... Ach, armer Yorik!‘ Dieser Yorik bin vielleicht ich. Ja, jetzt bin ich Yorik, und ein Schädel später.“

Perchotin hörte zu und schwieg; da verstummte auch Mitjä.

„Was ist das da für ein Hündchen?“ fragte er plötzlich zerstreut einen Kommis, als er in der Ecke ein kleines Bologneserhündchen mit schwarzen Augen bemerkt hatte.

„Das gehört Warwara Alexejewna, unserer Gnädigen,“ entgegnete der Kommis höflich, „sie hat es vorhin hergebracht und hier vergessen, da wird man es ihr zurückbringen müssen.“

„Ich habe einmal ein ähnliches gesehen ... im Regiment ...“ sagte Mitjä gedankenverloren, „nur hatte es sich die Hinterpfötchen gebrochen ... Pjotr Iljitsch, ich wollte dich noch fragen, gut, daß es mir einfällt: Hast du je in deinem Leben gestohlen – oder nie?“

„Was soll das?“

„Nein, ich frage dich nur so. Ich meine, aus der Tasche eines anderen Menschen etwas Fremdes? Ich rede nicht von der Staatskasse, die wird natürlich von allen gerupft und auch von dir, versteht sich ...“

„Geh zum Teufel.“

„Ich meine aber Fremdes: gleich aus der Tasche, aus dem Portemonnaie?“

„Von meiner Mutter habe ich einmal einen Zwanziger gestohlen, ich war ein neunjähriger Knabe. Ich nahm ihn leise vom Tisch und verbarg ihn in der Faust.“

„Nun, und?“

„Nun, nichts weiter. Drei Tage verwahrte ich ihn, dann schämte ich mich, gestand es und gab ihn zurück.“

„Nun, und dann?“

„Das ist doch klar: ich wurde gedroschen. Aber wozu fragst du, hast du etwa selbst gestohlen?“

„Hab’ gestohlen,“ sagte Mitjä mit einem verschmitzten Lächeln.

„Was hast du gestohlen?“

„Von meiner Mutter einen Zwanziger, ich war ein neunjähriger Knabe, nach drei Tagen gab ich ihn zurück.“

Als er das gesagt hatte, erhob er sich plötzlich.

„Herr, wollen wir uns nicht beeilen?“ ertönte von der Tür Andreis Stimme.

„Ist alles bereit? Gehen wir!“ Mitjä fuhr unmutig auf. „Noch das letzte Wort und ... Dem Andrei einen Schnaps auf den Weg! Und auch ein Glas Kognak für ihn außer dem Schnaps! Dieser Kasten (mit Pistolen) kommt unter den Sitz. Leb wohl, Pjotr Iljitsch, denk nicht schlecht von mir!“

„Aber du kommst doch morgen zurück?“

„Unbedingt.“

„Werden der Herr vielleicht jetzt die kleine Nota begleichen?“ fragte freundlich ein flink herbeigesprungener Kommis.

„Ach, ja, natürlich! Versteht sich!“

Und wieder zog er alle Scheine aus der Tasche heraus, nahm die obersten drei regenbogenfarbenen und warf sie auf den Ladentisch. Dann eilte er hinaus. Ihm folgte unter Bücklingen und mit guten Wünschen auf die Reise das ganze Personal. Andrei räusperte sich und sprang auf seinen Platz. Doch kaum wollte Dmitrij einsteigen, als plötzlich Fenjä auftauchte. Sie kam atemlos herangelaufen, schlug die Hände flehend zusammen und stürzte mit einem Schrei vor Mitjä auf die Knie nieder.

„Väterchen Dmitrij Fedorowitsch, Täubchen, bringen Sie sie nicht um! Und ich, ich habe Ihnen alles erzählt in der Angst! ... Und auch ihn bringen Sie nicht um, das ist doch der Frühere, ihr Liebster! Er wird jetzt Agrafena Alexandrowna heiraten, er ist doch nur deswegen aus Sibirien zurückgekehrt ... Täubchen Dmitrij Fedorowitsch, richten Sie nicht fremdes Leben zugrunde!“

„Aha, das also ist es! Nun, da kann er ja was Schönes anrichten!“ brummte Perchotin vor sich hin. „Jetzt begreife ich ... jetzt hat alles seine Erklärung ... Dmitrij Fedorowitsch, gib mir mal sofort die Pistolen her, wenn du ein Mensch sein willst,“ rief er ihm laut zu, „hörst du!“

„Die Pistolen? Wart, mein Täubchen, ich werde sie unterwegs in den Graben werfen,“ sagte Mitjä. „Fenjä, stehe auf, liege nicht so vor mir auf den Knien. Niemanden wird Mitjä, dieser dumme Mensch, zugrunde richten, hinfort niemanden mehr. Und noch eines, Fenjä,“ rief er ihr, bereits einsteigend, zu, „ich habe dich vorhin gekränkt und habe dir weh getan, verzeih es mir und vergib dem Bösewicht ... willst du es aber nicht vergeben, nun dann meinetwegen auch nicht! Jetzt ist doch schon alles einerlei! Fahr zu, Andrei, geschwind!“

Andrei zog die Leine an und knallte mit der Peitsche: Glocken und Schellen ertönten.

„Leb wohl, Pjotr Iljitsch! Dir die letzte Träne! ...“

„Er ist nicht betrunken und schwatzt doch wie im Delirium!“ dachte Perchotin bei sich, als die Troika wie der Wind um die Ecke gebogen und verschwunden war. Er hatte sich vorgenommen, so lange zu warten, bis man die zweite Troika mit den übrigen Vorräten abgeschickt hätte, denn er sagte sich, daß man bei der Gelegenheit wahrscheinlich tüchtig betrügen wollte; doch plötzlich drehte er sich ärgerlich um und begab sich zu seiner Billardpartie.

„Ein Esel, wenn auch sonst ein netter Junge ...“ brummte er unterwegs vor sich hin. „Von einem gewissen Offizier, diesem Vormaligen der Gruschenka, habe ich gehört. Nun, wenn er jetzt zurückgekehrt ist ... Ach, die verfluchten Pistolen! Zum Teufel, was geht das schließlich mich an, ich bin doch nicht seine Kindermagd! Mag er doch! Aber es wird ja nichts geschehen. Hunde, die bellen, beißen nicht. Solche Leute trinken und prügeln sich, prügeln sich und versöhnen sich. Sind denn das Tatmenschen? Doch was war das mit dem ‚ich werde den Weg freigeben, strafe mich für mein Leben‘? Ach was, Geschwätz. Er hat doch wahrlich nicht wenig ähnliches Zeug geredet, wenn er betrunken war. Jetzt aber war er wirklich nicht betrunken. ‚Mein Geist ist trunken‘ – schönen Stil lieben die Schufte. Ach, was geht das mich an, bin doch nicht seine Kindermagd. Und das Prügeln stets erstes Lebenselement! Sein ganzes Gesicht war mit Blut besudelt. Und das ganze Taschentuch ... Pfui Teufel, jetzt liegt es bei mir auf dem Fußboden ... Schweinerei!“

In der schlechtesten Gemütsverfassung erreichte er endlich das Gasthaus „Zur Hauptstadt“ und begann sofort die Partie. Das Spiel zerstreute ihn. Man begann darauf eine zweite Partie, und plötzlich ließ er im Gespräch mit seinem Partner die Bemerkung fallen, daß Dmitrij Karamasoff wieder Geld in Fülle besitze, etwa dreitausend Rubel, daß er es selbst gesehen habe, und daß Mitjä wieder nach Mokroje zu einem Gelage mit Gruschenka gefahren sei. Diese Nachricht wurde mit erstaunlicher Aufmerksamkeit aufgenommen. Und alle sprachen sonderbarerweise vollkommen ernst darüber, keineswegs scherzend oder gleichgültig. Sie unterbrachen sogar das Spiel.

„Dreitausend? Woher hat er die denn plötzlich bekommen?“

Man begann ihn auszufragen. Daß Frau Chochlakoff ihm das Geld gegeben habe, wurde stark bezweifelt.

„Oder hat er vielleicht den Alten beraubt?“

„Weiß der Teufel, dreitausend! Da muß irgend etwas nicht in Ordnung sein.“

„Hat er sich denn nicht immer gerühmt, daß er den Vater erschlagen werde, das haben wir doch alle gehört! Und gerade von dreitausend Rubeln sprach er das letztemal ...“

Perchotin hörte zu, und seine Antworten wurden immer trockener und knapper. Vom Blut, das Mitjä an den Händen und auf dem Gesicht gehabt hatte, sagte er nichts, obgleich er auf dem Wege zum Gasthaus eigentlich beabsichtigt hatte, auch davon zu erzählen. Man begann die dritte Partie, und das Gespräch über Mitjä verstummte allmählich. Nachdem aber Perchotin die dritte Partie beendet hatte, wollte er nicht weiter spielen; er legte das Queue hin und ging fort, ohne zu Abend zu essen. Als er auf den Platz hinaustrat, blieb er, in Zweifel befangen und verwundert über sich selbst, stehen. Er hatte beschlossen, sofort zu Fedor Pawlowitsch Karamasoff zu gehen, um dort zu erfahren, ob nicht etwas Besonderes geschehen war.

„Ach was,“ dachte er, „ich soll dort wegen irgendeiner Dummheit, denn mehr wird ja doch nicht dahinter stecken, fremde Menschen aus dem Schlafe wecken und womöglich noch einen Skandal hervorrufen. Teufel! was geht das mich an!“

In hundsgemeiner Stimmung begab er sich geradeswegs nach Hause, doch plötzlich fiel ihm Fenjä ein. „Ich Esel, warum erkundigte ich mich nicht bei ihr, dann würde ich jetzt alles wissen.“ Und das eigensinnige Verlangen, mit ihr zu sprechen, wurde so stark in ihm, daß er auf halbem Wege kurz entschlossen kehrtmachte und sich zum Hause der Morosowa, wo Gruschenka wohnte, begab. Beim Hoftor angelangt, klopfte er, und der Laut, der in der nächtlichen Stille erschallte, weckte ihn wieder auf: er ernüchterte und ärgerte ihn zugleich. Zudem rührte sich nichts: alles schien im Hause zu schlafen. „Und auch hier wird es schließlich nur auf einen Skandal hinauskommen!“ dachte er fast mit einem Schmerz in der Brust. Doch anstatt fortzugehen, begann er von neuem zu klopfen, und zwar klopfte er vor Wut aus aller Kraft. Der Lärm schallte durch die ganze Straße. „Ich werde sie doch noch wachrütteln, zum Trotz!“ brummte er, und mit jedem Schlag wuchs sein Ärger, und mit jedem Schlage klopfte er lauter, immer lauter.

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