Inzwischen raste die Troika auf der Landstraße dahin. Bis nach Mokroje waren es etwas mehr als zwanzig Werst, doch Andrei jagte dermaßen, daß er in einer Stunde anzukommen hoffen konnte. Die scharfe Fahrt schien Mitjä zu beleben. Die Nacht war still und fast kalt; am klaren Himmel flimmerten lautlos die großen, hellen Sterne. Es war dieselbe Nacht und vielleicht auch dieselbe Stunde, in der Aljoscha zur Erde niederfiel und „in Verzückung schwor, die Erde bis in alle Ewigkeit zu lieben“. Doch in Mitjäs Seele war Unruhe, dunkle Unruhe. Und wenn auch viele Gefühle in seiner Seele miteinander rangen, so strebte doch sein ganzes Wesen nur zu ihr, zu ihr, seiner Königin, zu der ihn die rasenden Tiere brachten, – um sie noch einmal, zum letztenmal, zu sehen! Ich will hier nur noch eines sagen, wenn man es mir auch vielleicht nicht glauben wird: Dieses eifersüchtige Herz empfand für den neuen Nebenbuhler, für diesen plötzlich aus der Erde aufgetauchten sogenannten „früheren Offizier“, nicht den geringsten Haß. Jeder andere Nebenbuhler, wäre ein solcher neben ihm aufgetaucht, hätte ihn vor Eifersucht rasend gemacht, und vielleicht hätte er dann wieder seine Hände mit Blut besudelt, – doch für diesen, für diesen „ihren Ersten“ empfand er nicht einmal ein feindseliges Gefühl. Allerdings hatte er ihn noch nicht gesehen, aber: „Hier ist es ihr Recht und auch seines; hier ist es ihre erste Liebe, die sie in den ganzen fünf Jahren nicht vergessen hat, hier kann niemand mehr etwas streitig machen. Fünf Jahre lang hat sie ihn geliebt, und ich – warum habe ich mich zwischen sie zu drängen versucht? Was hatte ich dabei zu tun? Tritt zur Seite, Mitjä, und gib den Weg frei! Und was will ich jetzt noch? Jetzt ist ja auch ohne den Offizier alles aus! Selbst wenn er gar nicht wieder aufgetaucht wäre – es ist ein für allemal alles zu Ende ...“
Ungefähr in diesen Worten würde er seine Empfindungen ausgedrückt haben, wenn er nur imstande gewesen wäre, zu denken. Denken aber war ihm unmöglich. Sein ganzer Entschluß war eigentlich ohne jeden Gedanken entstanden, in einer Sekunde war er aufgetaucht, sofort gefühlt und wortlos, gedankenlos mit allen Folgen von ihm als selbstverständlich aufgenommen worden. Das war in der Küche bei Fenjä schon bei deren ersten gestammelten Worten geschehen. Und doch war trotz des gefaßten Entschlusses Unruhe in seiner Seele; selbst die Entschlossenheit brachte keine Ruhe. Gar zu vieles stand hinter ihm und quälte ihn. Und eben dies kam ihm zuweilen so sonderbar vor. Er hatte doch schon eigenhändig seinen Urteilsspruch geschrieben: „Ich strafe mich für mein durchlebtes Leben,“ und der Zettel war doch hier in seiner Westentasche, und die Pistole war doch schon geladen, und er hatte ja schon beschlossen, wie er morgen den ersten lichten Strahl des „goldlockigen Phöbus“ begrüßen werde – und doch konnte er das Gewesene, das hinter ihm stand und ihn quälte, nicht abschütteln, das fühlte er bis zum körperlichen Schmerz, und der Gedanke daran hatte sich wie Verzweiflung an seine Seele festgesogen. Es kam ein Augenblick, in dem er die Pistole herausreißen und aus dem Wagen springen wollte, um alles sofort zu beenden, ohne auf den goldlockigen Phöbus zu warten. Aber auch dieser Augenblick verging wie ein Funken. Und die Troika jagte, „die Entfernung verschlingend“, und in dem Maße, wie er sich ihr näherte, verscheuchte der Gedanke an sie mehr und mehr alle anderen, ihn zerrenden Schreckgespenster. Oh, er wollte sie nur einmal noch sehen, nur noch einmal, und wenn auch nur von ferne, flüchtig! „Sie ist jetzt mit ihm zusammen, nun, so werde ich denn sehen, wie sie jetzt mit ihm zusammen ist, mit ihrem früheren Liebsten, das ist ja alles, was ich will.“ Und noch niemals hatte sich in ihm so viel Liebe zu diesem Weibe, das so verhängnisvoll für ihn geworden war, in seinem Herzen erhoben, so viel neue, noch nie empfundene Gefühle, Gefühle, die für ihn selbst ganz unerwartet kamen, Gefühle, die wie Gebete fromm und bis zur Weichheit zärtlich waren. „Ich werde den Weg freigeben und vergehen! Und ich vergehe auf Erden!“ sagte er sich in einem Anfall hysterischer Ekstase.
Fast eine Stunde lang jagten sie schon. Mitjä schwieg, und Andrei, der sonst recht gesprächig war, hatte auch noch kein Wort gesprochen, ganz, als hätte er sich gefürchtet zu sprechen, und trieb nur seine „Renner“ an, seine braune, hagere, wilde Troika. Da schrie ihm plötzlich Mitjä entsetzt zu:
„Andrei! ... Aber wenn sie schon schlafen?“
Dieser Gedanke war ihm ganz plötzlich gekommen, denn vorher hatte er an diese Möglichkeit überhaupt nicht gedacht.
„Ja, es ist wohl anzunehmen, daß sie sich schon hingelegt haben.“
Mitjä runzelte finster die Stirn, ein krankhaftes Gefühl erfaßte ihn. „Nein, wirklich, was dann, wenn er ankommt ... mit diesen Gefühlen ... und sie schlafen bereits ... und auch sie schläft vielleicht gleichfalls ... im selben Hause ...?“ Ein böser Gedanke stieg in seinem Herzen auf.
„Schneller, Andrei, jage!“ schrie er außer sich.
„Aber es kann auch sein, daß sie sich noch nicht hingelegt haben,“ meinte Andrei nach einem Weilchen Nachdenken. „Timofei sagte, daß sich ihrer dort viele versammelt haben ...“
„Auf der Poststation?“
„Nein, nicht dort; bei Plastunoffs, im Einkehrhaus, also sozusagen in der Herberge, das wäre so eine freie Station für die Reisenden, ohne Post.“
„Ich weiß, ich weiß. Aber was sagst du da von vielen, die sich dort versammelt hätten? Wie viele? Wer das?“ Mitjä war durch die unerwartete Nachricht außergewöhnlich erregt.
„Timofei erzählte so. Alles Herren: aus der Stadt zwei, was für welche, weiß ich nicht, aber sie sollen aus der Stadt sein und dann noch zwei andere, angereiste, wie er sagte, und wer kann wissen, vielleicht noch jemand, ich hab ihn nicht viel ausgefragt. Sie haben angefangen Karten zu spielen, sagte er.“
„Karten?“
„So ist denn wohl möglich, daß sie noch nicht schlafen, wenn sie Karten zu dreschen angefangen haben. Was wird es denn jetzt viel an der Zeit sein, gut, wenn es elf ist.“
„Schneller, Andrei, so jage doch!“ schrie ihm Mitjä abermals zu.
„Nur möchte ich gern fragen, Herr,“ begann nach kurzem Schweigen Andrei, „weiß nur bloß nicht, wie ich das machen soll, damit der Herr sich nicht ärgert.“
„Was?“
„Vorhin fiel Fedossja Markowna vor dem Herrn auf die Knie und bat, ihre Herrin und noch jemand nicht umzubringen ... So denk ich denn, ich bringe ihn jetzt wohl hin ... Verzeiht, Herr, ich fragte nur so aus Gewissensangst, vielleicht habe ich was Dummes gesagt.“
Mitjä faßte ihn plötzlich hinterrücks an den Schultern.
„Du bist doch ein Kutscher? Ein Kutscher, nicht wahr?“ fragte er erregt.
„Nun ja, wie man’s nimmt, eigentlich ein Fuhrmann ...“
„Weißt du nicht, daß man ausbiegen und anderen den Weg freigeben muß? Oder glaubst du, daß man drauflosfahren muß, wenn auch die anderen dabei in den Graben stürzen oder unter deine Räder kommen? Nein, Andrei, überfahre niemanden! Man darf nicht Menschen überfahren, man darf den Menschen nicht das Leben zerstören. Wenn du aber ein Leben zerstört hast, so strafe dich selbst ... wenn du es verdorben hast, wenn du nur jemandem das Leben verdorben hast – so richte dich und verschwinde!“
Diese Worte sprudelten wie im Krampf aus ihm hervor. Andrei wunderte sich über den Herrn, setzte aber doch das Gespräch fort.
„Da hat der Herr ein wahres Wort gesagt: Das darf man nicht, einen Menschen überfahren, auch quälen nicht, und wenn’s auch nur ein Vieh ist, denn auch ein Vieh ist als Vieh von Gott geschaffen, selbst so ein Pferd. Mancher aber jagt wie blind drauflos, und wenn’s dann halten heißt, dann ist’s zu spät, er jagt dir schnurstracks ...“
„In die Hölle?“ fiel Mitjä ein und lachte darauf sein unerwartetes, eigenartig kurzes Lachen. „Andrei, du goldene Seele, sag!“ Mitjä faßte ihn wieder hinterrücks an den Schultern, „sag, wird Dmitrij Karamasoff schnurstracks in die Hölle kommen oder nicht, was meinst du?“
„Das kann ich nicht wissen, Täubchen, das wird von Euch abhängen, denn Ihr seid doch bei uns, wie ... Seht, Herr, als Gottes Sohn ans Kreuz geschlagen war und starb, da ging er vom Kreuz schnurstracks in die Hölle und befreite alle Sünder, die sich dort quälten. Und da ächzte die Hölle, weil, wie sie glaubte, hinfort niemand mehr hinkommen werde, also keine Sünder mehr. Und da sagte der Herr zur Hölle: ‚Ächze nicht, Hölle, denn es werden hinfort viele Reiche und Herrscher und Richter und Mächtige und Würdenträger zu dir kommen, und du wirst hinfort wiederum genau so gefüllt sein, wie du es von Ewigkeit warst, bis daß ich wiederkomme.‘ Und das ist wahr, das hat der Herr genau so gesagt ...“
„Eine Volkslegende, prachtvoll! Zieh dem Linken eins über, Andrei!“
„Das ist schon so, Herr, für wen die Hölle bestimmt ist,“ – Andrei zog dem Linken eins über – „der kommt hinein, und was für welche hineinkommen, das hat der Herr damals der Hölle vorausgesagt. Aber Ihr seid doch für mich wie ein klein Kindchen ... so kommt Ihr mir immer vor ... Und wenn der Herr auch jähzornig ist, das ist wohl wahr, so wird doch Gott Euch für Euer gutes Herz vergeben.“
„Und du, vergibst du mir, Andrei?“
„Was habe ich Euch denn zu vergeben, Herr, Ihr habt mir doch nichts Schlechtes getan.“
„Nein, für alle, für alle du allein, jetzt gleich, sofort, hier im Wagen, auf der Fahrt, vergibst du mir für alle? Sprich, du Volksseele!“
„Ach Herr! Es wird einem ganz bange, Euch zu fahren. Eure Worte sind heute ganz wunderlich ...“
Mitjä hörte nicht, was Andrei brummte. Er betete wie wahnsinnig und flüsterte angstvoll vor sich hin.
„Vater unser, nimm mich in meiner ganzen Gottlosigkeit, aber richte mich nicht! Ruf mich nicht vor deinen Richterstuhl, laß mich ohne Gericht vorübergehn ... Richte mich nicht, denn ich habe mich selbst gerichtet. Richte mich nicht, denn ich liebe Dich, Herr! Niedrig bin ich, aber ich liebe Dich; schickst Du mich in die Hölle, so werde ich Dich auch dort lieben, werde auch von dort zu Dir emporschreien, daß ich Dich ewig, ewig liebe ... Doch laß auch mich zu Ende lieben ... jetzt hier zu Ende lieben, nur noch fünf Stunden bis zum ersten warmen Strahl Deines Lichts ... Denn ich liebe die Königin meiner Seele! Ich liebe sie, und ich kann nicht anders als sie lieben. Du siehst mich doch ganz, Du kennst mich ganz, Du weißt doch, wie ich bin! Richte mich nicht, ich habe mich schon gerichtet; ich werde vor ihr niederstürzen und sagen: Es war recht von dir, daß du an mir vorübergingst ... Lebe wohl und vergiß dein Opfer, beunruhige dich niemals meinetwegen!“
„Mokroje!“ rief Andrei und wies mit der Peitsche nach vorn.
Im bleichen Dunkel der Sternennacht hoben sich vor ihnen schwarze, kleine Häusermassen aus der Erde empor; stellenweise lagen sie dichter, stellenweise verstreuter. Das Dorf Mokroje zählte etwa zweitausend Einwohner. Zu dieser Stunde lag es schon in tiefem Schlaf, nur hier und da blitzten noch ein paar bescheidene Lichter durch die Nacht.
„Jage, jage, Andrei, ich komme angefahren!“ rief Mitjä wie im Fieber.
„Sie schlafen noch nicht!“ sagte Andrei, und wies mit der Peitsche auf das Plastunoffsche Haus, das gleich bei der Einfahrt ins Dorf lag, und dessen sechs Fenster, die auf die Straße sahen, hell erleuchtet waren.
„Sie schlafen nicht!“ griff Mitjä jubelnd auf. „Jage, Andrei, galoppiere, fahre donnernd vor! Damit sie hören, wer angefahren kommt! Ich! Ich komme angefahren!“ rief Mitjä atemlos, außer sich.
Andrei setzte seine dampfende, abgejagte Troika in Galopp und jagte tatsächlich donnernd zur Vorfahrt. Mitjä sprang vom Wagen. Der Hauswirt war schon im Begriff gewesen, schlafen zu gehen, doch hatte er plötzlich von ferne das Wagenrollen vernommen und war daher neugierig auf die Treppe hinausgetreten, um zu sehen, wer zu so später Stunde so wild daher jagte.
„Trifon Borissytsch, bist du es?“ fragte Mitjä.
Trifon Borissytsch beugte sich vor, blickte angestrengt durch das Dunkel und eilte dann geschwind in unterwürfigem Entzücken die Treppe hinab, dem Gaste entgegen.
„Väterchen, Dmitrij Fedorowitsch! Seid Ihr es wirklich, den wir sehen?“
Dieser Trifon Borissytsch war ein starkgebauter und gesunder Mann, mittelgroß, mit einem etwas dicken Gesicht, das gewöhnlich eine strenge und wichtige Miene annahm, besonders im Verkehr mit den Mokrojaner Bauern, doch dafür die Fähigkeit besaß, den Ausdruck ganz unverhofft schnell in das Gegenteil zu verwandeln, sobald Trifon Borissytsch einen Verdienst witterte. Gekleidet war er stets auf russische Bauernart: er trug ein russisches Hemd mit seitlichem Schluß und ein ärmelloses Wams. Er besaß bereits ein bedeutendes Kapital, doch hatte er noch viel höhere Ziele im Sinn. Ungefähr die Hälfte der Mokrojaner Bauern schuldete ihm. Er aber ließ von ihnen auf Grund ihrer Schulden, von denen sie sich nie befreien konnten, sein Land, das er von Gutsbesitzern pachtete oder auch kaufte, unentgeltlich bearbeiten. Er war Witwer und hatte vier erwachsene Töchter; die eine von ihnen war schon Witwe, lebte daher mit ihren zwei kleinen Kindern, seinen Enkeln, bei ihm, und arbeitete für ihn wie eine Tagelöhnerin. Die zweite Tochter hatte einen kleinen Beamten, irgendeinen aufgedienten Schreiber geheiratet, und in einem der Zimmer des Absteigequartiers hing unter den Familienbildern auch die Miniaturphotographie dieses Beamten in Uniform und mit Achselklappen. Die beiden jüngeren Töchter zogen sich zu Kirchenfesten, oder wenn sie zu Besuch gingen, hellblaue oder hellgrüne Kleider an, die nach französischer Mode genäht waren: Kleider mit langen Schleppen und gerafften Taillen und Röcken. Doch das hinderte nicht, daß sie am nächsten Morgen wie auch an Werktagen beim ersten Hahnenschrei aufstanden, mit Birkenbesen die Zimmer ausfegten, das Waschwasser hinaustrugen und die Betten machten. Trifon Borissytsch aber liebte es noch trotz der bereits erworbenen Tausende von leutseligen Gästen ein Überflüssiges zu nehmen, und da er von Dmitrij Fedorowitsch vor kaum einem Monat zwei-, wenn nicht ganze dreihundert Rubel verdient hatte, so begrüßte er ihn natürlich hocherfreut, – glaubte er doch schon in der Art, wie der Gast angefahren kam, eine Gewähr für guten Verdienst zu sehen.
„Väterchen Dmitrij Fedorowitsch, können wir Euch wieder beherbergen?“
„Halt, Trifon Borissytsch,“ begann Mitjä, „zuerst die Hauptsache: Wo ist sie?“
„Agrafena Alexandrowna?“ Der Wirt verstand ihn sofort und blickte ihm scharf ins Gesicht. „Ja, auch sie ist hier ... sitzt mit ...“
„Mit wem, mit wem?“
„Es sind Durchreisende ... Der eine ist Beamter, wahrscheinlich ein Pole, nach der Sprache zu urteilen, und er hat auch die Pferde nach ihr geschickt. Und der andere, der mit ihm ist, ist sein Freund oder sein Reisebegleiter, wer kann das wissen; sind in Zivil ...“
„Nun, und leben sie flott, auf großem Fuß – reiche Leute?“
„Ach wo! ganz kleine Leute, Dmitrij Fedorowitsch.“
„Kleine? Und die anderen?“
„Die sind aus der Stadt, nur zwei Herren ... Sie sind aus Tschernaja zurückgekommen und vorläufig hiergeblieben. Der eine, der junge, muß wohl ein Verwandter von Herrn Miussoff sein, nur habe ich seinen Namen vergessen ... und den anderen werdet Ihr wohl auch kennen: der Gutsbesitzer Maximoff, er sagt, er sei ins Kloster gefahren, jetzt aber fährt er mit diesem Verwandten von Herrn Miussoff ...“
„Und das ist die ganze Gesellschaft?“
„Die ganze.“
„Halt, Trifon Borissytsch, sage jetzt das Wichtigste: Was macht sie, wie ist sie?“
„Ja, sie ist vorhin angekommen und sitzt jetzt mit ihnen.“
„Ist sie fröhlich? Lacht sie?“
„Nein, sie scheint nicht gerade sehr fröhlich zu sein ... Sitzt sogar ganz gelangweilt, wie es scheint. Hat dem jungen Herrn das Haar gekämmt ...“
„Dem Polen, dem Offizier?“
„Nein, das ist doch kein junger Herr und doch auch gar kein Offizier; nein, dem jungen Herrn, dem Verwandten von Herrn Miussoff ... nur habe ich vergessen, wie er heißt ...“
„Kalganoff?“
„Richtig! Herr Kalganoff!“
„Gut, ich werde schon selbst sehen. Spielen sie Karten?“
„Haben gespielt und dann aufgehört, haben schon Tee getrunken, und der Beamte hat Liköre verlangt.“
„Halt, Trifon Borissytsch, ich werde schon alles selbst sehen, aber jetzt zurück zur Hauptsache: sind keine Zigeuner hier?“
„Von Zigeunern ist jetzt nichts zu hören, Dmitrij Fedorowitsch, die Obrigkeit hat sie vertrieben, aber es gibt hier ein paar Juden, die spielen auf Zimbeln und Geigen, nicht weit von hier, in Roshdestwenskoje, man könnte sofort nachschicken, wenn’s beliebt. Sie würden sofort kommen.“
„Nachschicken, unbedingt nachschicken!“ rief Mitjä belebt. „Und auch die Mädchen zum Chor, wie damals, die Marja unbedingt, auch Stepanida, Arina. Zweihundert Rubel für den Chor!“
„Ach, für solches Geld kann ich dir, Väterchen, das ganze Dorf auftreiben, wenn sie auch jetzt schon alle schnarchen. Aber sind sie denn das wert, Väterchen Dmitrij Fedorowitsch, diese Bauern und Dorfmädels? Für so ein gemeines Pack so viel Geld hinzuschleudern! Unser Bauer und teure Zigarren rauchen, Gott, was versteht er denn davon! Du aber, Väterchen, hast ihnen von der besten Sorte gegeben! Er stinkt ja nur, der Räuber! Und die Mädels, das sind doch alles Lausefratzen! Ich werde für dich, Väterchen, meine eigenen Töchter unentgeltlich aufwecken, von so viel Geld gar nicht zu reden, sie sind nur gerade schlafen gegangen, aber ich werde sie schon mit einem Rippenstoß wachkriegen und singen machen! Ach, Väterchen, hast die Bauernkerle mit Champagner traktiert – wo soll das hin!“
Trifon Borissytschs Bedauern war etwas überflüssig: er hatte damals eigenhändig sechs Flaschen Champagner im Keller versteckt und unter dem Tisch einen Hundertrubelschein aufgehoben und in der Faust behalten.
„Trifon Borissytsch, ich habe hier doch etwas mehr als tausend Rubel durchgebracht, weißt du noch?“
„Väterchen, natürlich! haben vielleicht ganze Dreitausend hier in Mokroje gelassen!“
„Nun, so wisse denn, daß ich auch jetzt dasselbe tun werde, siehst du?“
Und damit zog er wieder das ganze Paket Geldscheine aus der Hosentasche und hielt sie dem Wirt unter die Nase.
„Jetzt höre mich und mach die Ohren auf: nach einer Stunde kommt der Wein an, die Delikatessen, Pasteten, Süßigkeiten – alles sofort nach oben. Diese Kiste, die hier im Wagen ist, gleichfalls sofort nach oben, aufbrechen und den Champagner sofort in Eis hereinbringen ... Aber vor allem den Chor, die Mädels, die Marja unbedingt ...“
Er wandte sich zum Wagen zurück und zog unter dem Sitz den Pistolenkasten hervor.
„Hier, Andrei, die Abrechnung! Hier, fünfzehn Rubel für die Fahrt und hier fünfzig Rubel Trinkgeld ... für deine Bereitwilligkeit, für deine Liebe ... Gedenke des Herrn Karamasoff!“
„Habe Angst, Herr!“ sagte Andrei schwankend, „für fünf Rubel Trinkgeld besten Dank, aber mehr nehm’ ich nicht, Trifon Borissytsch ist Zeuge. Verzeiht, Herr, mein dummes Wort ...“
„Was fürchtest du?“ Mitjä maß ihn mit dem Blick. „Nun, hol dich der Teufel, wenn’s so ...“ und er warf ihm die fünf Rubel zu. „Jetzt, Trifon Borissytsch, führ mich so leise hinein, daß ich sie vorher alle sehen kann, ohne dabei von ihnen gesehen zu werden. Wo sind sie denn, im blauen Zimmer?“
Trifon Borissytsch warf einen etwas furchtsamen Blick auf Mitjä, tat aber sofort gehorsam, wie ihm geheißen war: vorsichtig führte er ihn in den Flur, ging dann allein in das große erste Zimmer, das neben dem blauen Zimmer, in dem die Gäste saßen, lag, und brachte das Licht hinaus. Darauf führte er Mitjä leise hinein und brachte ihn in die dunkelste Ecke, von wo aus er ungehindert die Gäste, ohne selbst gesehen zu werden, betrachten konnte. Doch Mitjä stand dort nicht lange und konnte auch fast überhaupt nichts sehen: er erblickte sie – sein Herz begann zu klopfen, und vor seinen Augen flimmerte es. Sie saß an einer Seite des Tisches in einem Lehnstuhl, und neben ihr, auf dem Sofa, saß der nette, noch ganz junge Kalganoff; sie hatte seine Hand erfaßt und lachte, wie es schien. Kalganoff aber, der sie gar nicht ansah, sprach laut und fast ärgerlich zu Maximoff, der Gruschenka am Tisch gegenüber saß. Maximoff wiederum lachte herzlich. Auf dem Sofa saß außerdem noch er und neben ihm, auf einem Stuhl, mehr an der Wand, ein anderer Unbekannter. Jener auf dem Sofa saß in auffallend ungenierter Pose und rauchte eine Pfeife; es schien Mitjä, daß es ein untersetztes Männchen von nicht hohem Wuchse war, der ein breites Gesicht hatte und sich über irgend etwas ärgerte – mehr konnten seine flimmernden Augen nicht unterscheiden. Sein Freund jedoch, der andere Unbekannte, schien von ungewöhnlich hohem Wuchs zu sein. Das war alles, was er sah. Er rang nach Atem. Er hatte noch keine ganze Minute gestanden, als er seinen Pistolenkasten auf die Kommode stellte und sich zu der Gesellschaft ins blaue Zimmer begab – eiskalt am ganzen Körper und fast besinnungslos.
„Ach!“ rief Gruschenka erschrocken aus; sie war die erste, die ihn bemerkte.