III. Die beiden Brüder

Es war übrigens doch kein einzelnes Zimmer, das Iwan für sich eingenommen hatte. Es war nur eine mit Schirmen abgeteilte Ecke am Fenster des ersten Zimmers, an dessen Seitenwand sich das Büfett befand. Nur konnten die vorübergehenden Gäste die am Fenster Sitzenden nicht sehen. Wohl aber sah man von dort aus die Kellner am Büfett vorüberhuschen. Von Gästen saß in diesem Zimmer in einer entfernteren Ecke vor seinem Teeglase nur ein alter Herr, ein gewesener Offizier. Dafür herrschte in allen anderen Räumen der gewöhnliche Gasthauslärm, die Rufe nach den Kellnern, das Aufkorken der Bierflaschen, das Kicksen der Billardbälle und das Geklimper einer Spieluhr. Aljoscha wußte, daß Iwan sonst nie in dieses Lokal ging und für Gasthäuser überhaupt nichts übrig hatte. „Also ist er jetzt nur deswegen hier, um Dmitrij zu treffen,“ dachte Aljoscha. Aber Dmitrij war nicht zu sehen.

„Soll ich dir eine Fischsuppe bestellen oder was sonst, du kannst doch nicht von Tee allein leben,“ fragte Iwan heiter, der sich ersichtlich sehr darüber freute, daß er Aljoscha hereingelockt hatte. Er hatte schon gespeist und trank nur noch Tee.

„Bestell mal beides, Fischsuppe und Tee, ich habe nämlich gehörigen Hunger,“ sagte Aljoscha erfreut.

„Und nachher Kirschenmus? Das kannst du hier haben. Weißt du noch, wie du als kleiner Junge bei Polenoffs auf Kirschenmus geschliffen warst?“

„Dessen erinnerst du dich noch? Gut, bestelle also auch Kirschenmus, ich mag es auch jetzt noch.“

Iwan klingelte nach dem Kellner und bestellte Fischsuppe, Tee und die eingemachten Kirschen.

„Ich erinnere mich unserer ganzen Kindheit, Aljoscha, ich erinnere mich deiner bis zum elften Jahre, ich war damals vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Fünfzehn und elf, das ist ein so großer Unterschied, daß selbst Brüder in diesen Jahren fast nie Kameraden sind. Ich weiß nicht einmal, ob ich dich liebte: In Moskau habe ich an dich in den ersten Jahren überhaupt nicht gedacht. Und dann später, als auch du nach Moskau kamst, haben wir uns, glaube ich, wohl nur ein einziges Mal irgendwo getroffen. Nun lebe ich hier schon seit mehr als drei Monaten, und noch haben wir kein Wort miteinander gewechselt. Morgen werde ich fortfahren, und so dachte ich denn, als ich vorhin allein hier am Fenster saß: Wo könnte ich ihn wohl treffen, um mich von ihm zu verabschieden? – und da gingst du gerade vorüber.“

„Wolltest du mich wirklich so gerne sehen?“

„Ja, Aljoscha, sehr, ich wollte dich einmal kennen lernen und dich auch mit mir bekannt machen. Und mich dann von dir verabschieden. Meiner Meinung nach ist es am besten, sich vor der Trennung kennen zu lernen. Ich habe gesehen, wie du mich in diesen ganzen drei Monaten beobachtet hast. Lag doch in deinen Augen eine immerwährende Erwartung, das aber ist es, was ich nicht ertragen kann, und darum näherte ich mich dir nicht. Dann aber lernte ich dich achten: Fest steht das Menschlein! Ja, ja. Und merk dir, Aljoscha: Ich lache jetzt zwar, aber ich rede deswegen nicht minder ernst. – Du stehst doch fest, nicht? Ich liebe Menschen, die fest stehen, einerlei worauf sie stehen, und wenn sie auch so kleine Knaben sind wie du. Dein erwartungsvoller Blick wurde mir mit der Zeit durchaus nicht zuwider; im Gegenteil, ich gewann ihn schließlich lieb, deinen erwartenden Blick. Ich glaube, du liebst mich, Aljoscha?“

„Ja, ich liebe dich, Iwan. Dmitrij sagt von dir: Iwan ist – ein Grab! Ich aber sage von dir: Iwan ist ein Rätsel. Du bist auch jetzt noch ein Rätsel für mich, trotzdem habe ich schon einiges an dir begriffen, und zwar seit heute morgen!“

„Und das wäre?“ fragte Iwan lachend.

„Wirst du dich nicht ärgern?“ fragte Aljoscha gleichfalls lachend.

„Nun?“

„Einfach, daß du ganz genau so ein junger Junge bist wie alle anderen dreiundzwanzigjährigen Jungen, ein ebenso junger, jugendlicher, frischer und prächtiger Junge, ein ... ein ... nun, ein milchbärtiger kleiner Knabe! Was, hab ich dich jetzt sehr gekränkt?“

„Im Gegenteil, du hast mich durch die Richtigkeit deiner Bemerkung sogar frappiert!“ sagte sofort heiter und offenherzig Iwan. „Wirst du mir glauben, daß ich heute, seitdem ich sie verlassen habe – nach dem Gespräch bei ihr – die ganze Zeit nur an diese meine dreiundzwanzigjährige ‚Milchbärtigkeit‘, wie du sagst, gedacht habe! Und nun beginnst du gerade damit, als ob du’s erraten hättest. Ich saß hier ganz allein am Fenster, und weißt du, was ich mir sagte? Nehmen wir an, ich hörte auf, an das Leben zu glauben, an den Menschen, den ich liebgewonnen habe, an die Ordnung der Dinge, nehmen wir an, ich überzeugte mich sogar, daß alles ein gesetzloses, verfluchtes und vielleicht vom Teufel beherrschtes Chaos ist, und daß mich alle Schrecken der menschlichen Verzweiflung überfallen, – so würde ich doch leben wollen, leben! Und da meine Lippen einmal diesen Becher berührt haben, so – das weiß ich! – werde ich mich nicht früher von ihm losreißen, als bis ich ihn ganz, bis auf die Neige geleert habe! Übrigens, wenn mein dreißigstes Jahr kommt, werde ich den Becher bestimmt von mir werfen, selbst wenn ich ihn nicht bis auf die Neige geleert haben sollte, und fortgehen ... ich weiß nicht wohin. Doch bis zu meinem dreißigsten Jahre, das weiß ich unerschütterlich, wird meine Jugend alles besiegen, – jede Enttäuschung, jede Verzweiflung, jeden Widerwillen vor dem Leben. Ich habe mich oftmals gefragt: Gibt es wohl in der Welt eine Verzweiflung, die diesen rasenden, wütenden und vielleicht unanständigen Lebensdurst in mir besiegen könnte? – und ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß es wahrscheinlich keine solche Verzweiflung gibt, das heißt wiederum nur bis zu meinem dreißigsten Jahre, dann werde ich selbst nicht mehr wollen ... so scheint es mir wenigstens. Dieser Lebensdurst, dieses Lechzen nach Leben wird von vielen schwindsüchtigen, hungrigen Moralisten und besonders von holden Dichtern niedrig genannt. Er ist allerdings ein echt Karamasoffscher Zug, das ist wahr, und auch in dir steckt dieser Lebensdurst, aber warum soll er denn gemein sein? Es steckt noch so ungeheuer viel Zentripetalkraft in unserem Planeten. Leben will man, Aljoscha, und ich lebe, wenn auch wider die Logik. Mag ich auch an die Ordnung der Dinge nicht glauben, so sind sie mir doch teuer, die klebrigen hellen Blättchen, die sich im Frühling an feuchten Ästen lösen, teuer ist mir der hohe blaue Himmel, teuer gar mancher Mensch, den man gar manches Mal, wirst du’s mir glauben, ohne zu wissen, warum, liebhat. Teuer ist mir manch eine Menschentat, an die zu glauben man vielleicht schon längst aufgehört hat, die aber das Herz in alter Erinnerung immer noch hoch und heilig hält ... Da kommt deine Fischsuppe. Nun, laß sie dir gut schmecken, sie wird hier vorzüglich zubereitet ... Ich will nach Europa fahren, Aljoscha, ich werde von hier aus geradenwegs hinfahren. Ich weiß es ja, daß ich nur auf einen Friedhof fahre, doch auf den teuersten, allerteuersten Friedhof, das weiß ich auch! Teure Tote liegen dort begraben, jeder Stein über ihnen redet von einem so heißen vergangenen Leben, von so leidenschaftlichem Glauben an die vollbrachten eigenen Taten, an die eigene Wahrheit, an den eigenen Kampf und die eigene Erkenntnis, daß ich, ich weiß es im voraus, zur Erde niederfallen, diese Steine küssen und über ihnen weinen werde – wenn auch mit der vollen Überzeugung im Herzen, daß das alles schon längst ein Friedhof ist, und in keinem Fall mehr als das. Und nicht aus Verzweiflung werde ich weinen, sondern einfach aus dem einen Grunde, weil mir meine Tränen Glück sein werden. Ich werde mich an der eigenen Empfindung berauschen. Die kleinen, klebrigen Frühlingsblätter, den hohen blauen Himmel liebe ich! Hier handelt es sich nicht um Verstand, nicht um Logik, hier liebt man mit dem ganzen Innern, mit dem ganzen Eingeweide, mit dem ganzen Leibe, seine ersten jungen Kräfte liebt man! ... Aljoschka, begreifst du etwas von meinem Gerede, oder ist dir alles unverständlich?“ fragte Iwan plötzlich auflachend.

„O, ich verstehe nur zu gut: Mit dem Innersten, mit dem ganzen Eingeweide will man lieben, – das hast du wundervoll gesagt, und es freut mich furchtbar, daß du so leben willst,“ sagte Aljoscha freudig. „Ich glaube, alle müssen in der Welt zuerst das Leben lieben lernen.“

„Und das Leben mehr lieben als den Sinn des Lebens?“

„Unbedingt. Vor der Logik muß man das Leben lieb gewinnen, wie du sagst, unbedingt muß es vor der Logik geschehen, nur dann werde ich auch den Sinn des Lebens begreifen. Das habe ich schon lange geahnt. Die Hälfte deiner Arbeit ist bereits getan, und die eine Hälfte deines Lebens ist erworben, Iwan: Du liebst das Leben. Jetzt mußt du dich um deine zweite Hälfte bemühen, und du bist gerettet.“

„Du bist schon beim Retten, aber ich gehe ja vielleicht überhaupt nicht unter! Und worin besteht sie denn – diese zweite Hälfte?“

„Darin, daß du deine Toten auferweckst, die – vielleicht niemals gestorben sind. Reich mir bitte den Tee. Oh, es freut mich so, Iwan, daß wir miteinander reden.“

„Aber Aljoscha, du bist ja, wie ich sehe, geradezu begeistert. Nun ich liebe ganz außerordentlich solche professions de foi, wie die unsrigen, gerade von solchen ... Novizen. Ein fester Mensch bist du, Alexei. Ist es wahr, daß du das Kloster verlassen willst?“

„Ja, es ist wahr. Mein Staretz schickt mich in die Welt.“

„Dann werden wir uns wohl noch sehen in dieser Welt, vor jenem dreißigsten Jahr, wenn ich beginnen werde, mich von meinem Becher loszureißen. Der Vater will sich von seinem Becher nicht vor dem siebzigsten Jahre losreißen, träumt womöglich von achtzig Jahren, hat es mir sogar selbst ganz offen gesagt, und zwar im Ernst, obgleich er doch ein ... Narr ist. Fußt auf seiner Wollust und steht auf ihr, als ob sie ein Stein wäre ... allerdings gibt es ja nach dem dreißigsten Jahre schwerlich etwas anderes, worauf man sich stellen könnte ... Aber bis zum siebzigsten Jahre ist es gemein, bis zum dreißigsten Jahre geht es noch: Man kann wenigstens einen ‚Schimmer von Adel‘ bewahren, wenn auch durch Selbstbetrug. Hast du heute nicht Dmitrij gesehen?“

„Nein, ihn nicht, aber ich habe Ssmerdjäkoff gesehen und gesprochen.“ Und Aljoscha erzählte eilig und ausführlich sein Gespräch mit Ssmerdjäkoff. Iwans Gesicht wurde allmählich immer finsterer beim Zuhören, und er ließ sich vieles wiederholen.

„Nur bat er mich, nicht Dmitrij zu sagen, daß er es mir mitgeteilt hat,“ fügte Aljoscha hinzu. Iwan zog die Brauen zusammen und verfiel in Nachdenken.

„Runzelst du wegen Ssmerdjäkoff die Stirn?“ fragte Aljoscha.

„Ja, seinetwegen. Doch zum Teufel mit ihm, aber Dmitrij wollte ich tatsächlich sehen, nur ist es jetzt nicht mehr nötig ...“ brummte Iwan unwillig.

„Wirst du denn wirklich so bald verreisen?“

„Ja.“

„Aber sag doch, – Dmitrij und der Vater? Womit wird das enden?“ fragte Aljoscha erregt, doch nur halblaut.

„Du fängst schon wieder davon an! Was geht das mich an? Bin ich denn etwa der Wächter meines Bruders?“ stieß Iwan kurz und gereizt hervor. Doch plötzlich lächelte er bitter. „Die Antwort Kains auf Gottes Frage nach dem erschlagenen Bruders, wie? Das denkst du wohl jetzt, nicht? Ach, hol’s der Teufel, ich kann doch wahrhaftig nicht als ihr Wächter hier bleiben! Ich habe hier beendet, was ich zu tun hatte, und fahre. Oder glaubst du vielleicht gar, daß ich auf Dmitrij eifersüchtig bin, weil es mir in diesen ganzen drei Monaten nicht gelungen ist, ihm seine schöne Katerina Iwanowna abspenstig zu machen? Ach ... Äh, zum Teufel, ich habe meine Gründe gehabt, hier zu bleiben. Nun habe ich hier alles beendet, und so fahre ich auch unverzüglich. Was ich beendet habe, das weißt du, du warst ja Augenzeuge.“

„Du meinst – vorhin mit Katerina Iwanowna?“

„Ja, mit ihr; ich machte mich einfach los. Und was ist denn dabei? Was geht mich Dmitrij an? Dmitrij hat nichts damit zu tun! Ich hatte ganz Persönliches mit Katerina Iwanowna zu erledigen. Du weißt doch selbst, daß Dmitrij sich so aufgeführt hat, als ob er sich mit mir verabredet hätte. Ich habe ihn doch um nichts gebeten, er aber hat sie mir freiwillig und feierlich ‚übergeben‘ und hat mir noch seinen Segen geschenkt. Das klingt ja wirklich fast lachhaft. Nein, Aljoscha, nein, wenn du wüßtest, wie leicht ich mich jetzt fühle! Ich saß hier und speiste, und, wirst du’s mir glauben, wollte mir schon Champagner bestellen, um die erste Stunde meiner Freiheit zu feiern. Pfui Teufel, fast ein halbes Jahr lang, – und mit einem Schlage hat man sich von allem befreit! Nein, hätte ich gestern auch nur ahnen können, daß man nur zu wollen braucht, und daß es einen nichts kostet, zu beenden!“

„Sprichst du von deiner Liebe, Iwan?“

„Von meiner Liebe ... wenn du willst, ja. Ich hatte mich in ein junges, stolzes Pensionsfräulein verliebt. Ich quälte mich mit ihr und sie quälte mich. Hatte mich da hinein verbissen ... und plötzlich bin ich von allem befreit. Vorhin bei Chochlakoffs sprach ich erregt, als ich aber hinaustrat, da lachte ich auf – und du kannst mir glauben, daß ich fröhlich lachte. Nein, wirklich!“

„Du sprichst auch jetzt so heiter,“ bemerkte Aljoscha, der sich aufmerksam in das Gesicht des Bruders hineinsah.

„Woher sollte ich auch wissen, daß ich sie überhaupt nicht liebte! Ha–ha–ha! Und da hat es sich nun erwiesen! Aber wie sie mir doch gefallen hat! Wie sie mir sogar heute gefiel, vorhin, als ich die Predigt hielt! Und weißt du, auch jetzt gefällt sie mir maßlos, – und doch fällt es mir so leicht, sie zu verlassen. Du glaubst wohl, ich wolle renommieren?“

„Nein. Nur war das vielleicht keine Liebe.“

„Aljoschka,“ sagte Iwan lachend, „laß dich nicht auf Erörterungen über Liebe ein! Für dich schickt sich das nicht. Vorhin – ja, vorhin, da gingst du durch, Brüderchen, o jeh! Übrigens habe ich vergessen, dich dafür abzuküssen ... Wie sie mich aber gequält hat! Ach, habe wahrlich neben einer gesessen, die sich vergewaltigte. Sie wußte doch, daß ich sie liebte! Und auch sie liebte mich, aber nicht Dmitrij,“ behauptete Iwan lachend. „Ihre Liebe zu Dmitrij hat sie sich nur eingebildet. Alles, was ich ihr vorhin sagte, ist lautere Wahrheit. Nur besteht jetzt die Hauptsache darin, daß sie vielleicht fünfzehn oder zwanzig Jahre brauchen wird, um zu erraten, daß sie Dmitrij überhaupt nie geliebt hat, sondern nur mich liebt, mich, den sie foltert. Ja, wer kann es wissen, vielleicht wird sie’s auch niemals erraten, trotz der heutigen Lehre nicht. Nun, um so besser, daß ich aufgestanden und fortgegangen bin. Übrigens, was macht sie jetzt? Was ging dort vor, als ich fortgegangen war?“

Aljoscha erzählte ihm von dem hysterischen Anfall und was ihm Frau Chochlakoff gesagt hatte: daß sie bewußtlos sei, Fieber habe und phantasiere.

„Ist das aber auch wahr, was die Chochlakoff sagt?“

„Es scheint, ja.“

„Man muß sich erkundigen. An hysterischen Anfällen ist übrigens noch niemals jemand gestorben. Und mag sie sie doch haben, Gott hat dem Weibe liebend die Hysterie geschickt. Ich werde nie mehr hingehen. Wozu sich wieder aufdrängen!“

„Aber du sagtest ihr doch, daß sie dich nie geliebt hätte?“

„Das habe ich absichtlich gesagt. Aljoschka, weißt du, ich werde Champagner bestellen, trinken wir auf meine Freiheit. Nein, wenn du wüßtest, wie froh ich bin!“

„Nein, Iwan, trinken wir lieber nicht,“ sagte Aljoscha, „und zudem bin ich doch etwas traurig gestimmt.“

„Ja, du bist bereits seit langer Zeit traurig gestimmt, das sehe ich schon längst.“

„Und du wirst also bestimmt morgen früh fortfahren?“

„Morgen früh? Ich habe nicht gesagt, daß ich in der Früh fahren werde ... Doch übrigens, vielleicht auch in der Früh. – Wirst du’s mir glauben, daß ich nur deswegen hier gespeist habe, um nicht mit dem Alten zusammen zu speisen, dermaßen zuwider ist er mir geworden. Allein seinetwegen wäre ich schon längst fortgefahren. Warum beunruhigt es dich übrigens so, daß ich verreise? Wir haben jedenfalls bis zu meiner Abfahrt noch Gott weiß wieviel Zeit. Eine ganze Ewigkeit Zeit, die ganze Unsterblichkeit.“

„Aber, wenn du morgen fortfährst, wo ist dann die Ewigkeit?“

„Was geht das uns beide an!?“ fragte Iwan lachend. „Haben wir doch noch Zeit, auszusprechen, was wir uns zu sagen haben, und weswegen wir hier zusammengekommen sind! Warum siehst du mich so erstaunt an? Antworte mir: Zu welch einem Zweck sind wir hier zusammengekommen? Um von der Liebe zu Katerina Iwanowna zu sprechen, oder von dem Alten und Dmitrij? Oder vom Auslande? Von der verhängnisvollen Lage Rußlands? Vom Empereur Napoléon? Nun, deswegen etwa?“

„Nein, nicht deswegen.“

„Also begreifst du es selbst, weswegen. Den anderen mag so etwas gleichgültig sein, uns aber, uns ‚Milchbärten‘, ist es nicht einerlei, wovon wir reden. Wir müssen vor allen anderen Dingen, die aus der Ewigkeit in die Ewigkeit reichenden Probleme lösen, das ist unsere Sorge. Ganz Jung-Rußland tut doch heutzutage nichts anderes, als über die ewigen Fragen philosophieren. Gerade heutzutage, gerade jetzt, wo alle Alten sich plötzlich an die praktischen Fragen gemacht haben. Warum hast du mich in diesen drei Monaten so erwartungsvoll angesehen? Um mich zu befragen: ‚Woran glaubst du, oder glaubst du überhaupt nicht‘, – das war es doch, was Ihre Blicke fragten, Alexei Fedorowitsch, oder war es das mit nichten?“

„Nun ja, meinetwegen war es das,“ sagte Aljoscha lächelnd. „Du machst dich doch nicht lustig über mich, Bruder?“

„Ich mich lustig machen? Ich werde doch mein kleines Brüderchen, das mich drei Monate lang so erwartungsvoll angeblickt hat, nicht betrüben wollen. Aljoscha, sieh mich einmal ganz offen an: Sieh, ich bin doch genau solch ein kleiner Knabe wie du, nur mit dem einen Unterschiede, daß ich kein Novize bin. Wie pflegen denn unsere russischen Knaben bis jetzt zu handeln? Die meisten, meine ich. Nun, hier haben wir zum Beispiel das nach Speisedüften riechende Lokal, und da kommen sie denn zusammen und setzen sich in eine Ecke. Haben sich bis dahin zeitlebens nicht gekannt, und wenn sie das Gasthaus verlassen, werden sie sich wieder vierzig Jahre lang nicht kennen. Wovon werden sie nun sprechen, wenn sie diesen einen Augenblick in der Gasthausecke erhascht haben? Selbstverständlich von den Weltfragen: Gibt es einen Gott? gibt es Unsterblichkeit? Diejenigen aber von ihnen, welche an Gott nicht glauben, nun, die sprechen über Sozialismus und Anarchismus, über die Umgestaltung der ganzen Menschheit durch einen neuen Staat, so daß es schließlich auf den reinen Teufel hinauskommt, – das sind doch alles dieselben Fragen, nur vom anderen Ende. Und welch eine unglaubliche Menge der originellsten russischen Jungen tut heutzutage nichts anderes, als über diese ewigen Fragen reden! Habe ich nicht recht?“

„Ja, für die echten Russen sind die Fragen, ob es einen Gott und ob es Unsterblichkeit gibt oder, wie du soeben sagtest, die Fragen vom anderen Ende, natürlich die wichtigsten Fragen, die allem anderen vorangehen, – so muß es auch sein,“ sagte Aljoscha, der seinen Bruder immer noch mit demselben stillen, forschenden Lächeln betrachtete.

„Sieh, Aljoscha, ein russischer Mensch zu sein, ist zuweilen gar nicht klug, doch etwas Dümmeres als das, womit sich jetzt die russischen Knaben beschäftigen, kann man sich nicht einmal vorstellen. Nur einen russischen Knaben, den Aljoscha, den liebe ich trotzdem über alles.“

„Wie nett du das eingefädelt hast,“ sagte Aljoscha auflachend.

„Nun, sag also, womit wir beginnen sollen? Es soll geschehen, wie du befiehlst. – Mit Gott? – Ob Gott existiert, nicht?“

„Womit du willst, damit beginne, meinetwegen auch ‚vom anderen Ende‘. Du erklärtest doch gestern beim Vater, daß es Gott nicht gäbe,“ sagte Aljoscha mit plötzlich forschendem Blick in die Augen des Bruders.

„Gestern bei Tisch neckte ich dich absichtlich damit – um den Alten war es mir nicht zu tun – und ich sah es wohl, wie deine Augen aufblitzten. Doch jetzt bin ich gar nicht abgeneigt, nochmals mit dir auf dieses Thema einzugehen. Ich meine das vollkommen im Ernst. Ich möchte gern, daß wir uns nähertreten, Aljoscha, denn ich habe keinen Freund. Ich will es einmal versuchen. Nun, stelle es dir mal vor, vielleicht erkenne auch ich Gott an,“ sagte Iwan lachend. „Das hattest du wohl nicht erwartet, was?“

„Ja, natürlich, wenn du nur auch jetzt nicht scherzest!“

„Scherze? Das fragst du, weil man gestern beim Staretz sagte, daß ich scherze. Sieh, mein Liebling, im siebzehnten Jahrhundert lebte ein großer Sünder, und der hat von Gott gesagt: S’il n’existait pas, il faudrait l’inventer. Und tatsächlich hat sich der Mensch Gott ausgedacht. Doch nicht das ist sonderbar, nicht das wäre wunderbar, daß Gott tatsächlich existiert, wohl aber ist wunderbar, daß solch ein Gedanke – der Gedanke von der Unentbehrlichkeit Gottes – in den Kopf eines so wilden und bösartigen Tieres, wie es der Mensch ist, hat kommen können: dermaßen heilig, dermaßen rührend, dermaßen weise ist er, und dermaßen große Ehre macht er dem Menschen. Was nun mich dabei anbetrifft, so habe ich schon vor langer Zeit beschlossen, nicht mehr darüber nachzudenken, ob der Mensch Gott oder Gott den Menschen geschaffen hat. Auch werde ich, versteht sich, nicht etwa anfangen, alle zeitgenössischen Axiome der russischen Knaben durchzunehmen – Axiome, die alle ohne Ausnahme aus europäischen Hypothesen entstanden sind; denn was dort Hypothese ist, das ist bei unseren russischen Knaben sofort Axiom, und nicht nur bei den Knaben, sondern auch bei deren Professoren, denn auch die russischen Professoren sind jetzt sehr häufig selbst nichts anderes als solche kleinen russischen Knaben. Darum übergehe ich alle Hypothesen. Worin besteht aber nun unsere Aufgabe? Nun, versteht sich, darin, daß ich dir so schnell wie möglich mein ganzes Wesen erkläre, das heißt, was ich für ein Mensch bin, woran ich glaube, worauf ich hoffe! Nicht wahr, das ist es doch? Nun, und darum erkläre ich denn auch, daß ich Gott einfach und einwandlos akzeptiere. Einstweilen aber gilt es noch eines zu vermerken: Wenn Gott ist, und wenn er tatsächlich die Erde geschaffen hat, so hat er sie, wie wir genau wissen, nach der Geometrie des Euklid geschaffen, den menschlichen Verstand nur mit dem Vermögen begabt, bloß die drei Ausdehnungen des Raumes zu begreifen. Währenddessen aber hat es Mathematiker und Philosophen gegeben, und es gibt ihrer auch heutzutage noch welche, und es sind das sogar die Besten, die leider bezweifeln, daß das Weltall – oder sagen wir noch größer, – daß alles Sein nur nach Euklids Geometrie erschaffen sei, ja, sie erdreisten sich sogar, zu denken, daß zwei parallele Linien, die doch nach Euklid nie und nimmer und unter keiner Bedingung auf Erden zusammenlaufen können, vielleicht doch irgendwo in der Unendlichkeit zusammenlaufen. Weißt du, Liebling, ich sage mir nun, wenn ich selbst das nicht begreifen kann, wie soll ich dann noch etwas von Gott begreifen können, das ist doch dann viel zu hoch für mich. Bescheiden bekenne ich, daß ich nicht die geringsten Fähigkeiten zur Lösung solcher Probleme besitze; ich habe nur einen euklidischen, einen irdischen Verstand, und wie soll man daher über etwas urteilen, was nicht von dieser Welt ist? Und auch dir, mein Freund, rate ich, nie darüber nachzudenken, vor allem nicht über Gott: Ob es ihn gibt oder nicht gibt? Das sind Fragen, an die unser Verstand überhaupt nicht heranreicht, da sein Begriffsvermögen nur für das Erfassen der drei Ausdehnungen geschaffen ist. Und so akzeptiere ich denn gern nicht nur Gott allein, sondern ich akzeptiere auch seine Allwissenheit und sein Ziel, – das uns vollkommen unbekannt ist – und glaube an das Gesetz und den Sinn des Lebens, glaube auch an die ewige Harmonie, in der wir, wie es heißt, alle aufgehen werden, glaube an das Wort, zu dem das Weltall strebt, und das selbst bei Gott war und selbst Gott ist, nun, und so weiter, und so weiter bis ins Unendliche. Hat man sich doch in der Beziehung wahrlich nicht wenig Worte ausgedacht. Aber es scheint ja, daß auch ich bereits auf einem guten Wege bin – nicht? Nun, so laß dir denn kurz gesagt sein, daß ich im Endresultate diese Gotteswelt – nicht akzeptiere, und wenn ich auch weiß, daß sie existiert, so gebe ich doch nicht zu, daß sie existiert. Nicht Gott akzeptiere ich nicht, verstehe mich recht, sondern die von ihm geschaffene Welt akzeptiere ich nicht, und kann ich nicht akzeptieren. Ich werde mich deutlicher ausdrücken: Ich bin meinetwegen überzeugt, daß das Leid vernarben und sich glätten wird, daß die ganze beleidigende Komik der menschlichen Widersprüche wie ein armseliges Trugbild verschwinden wird, wie eine garstige Erfindung eines schwächlichen, nur atomgroßen euklidischen Menschenverstandes, und daß schließlich im Weltfinale, im Moment der ewigen Harmonie etwas dermaßen Kostbares geschehen und erscheinen wird, daß es für alle Herzen ausreicht, zur Stillung allen Unwillens, zur Sühne aller von Menschen begangenen Greuel, zur Sühne alles durch sie vergossenen Blutes, daß es ausreichen wird zur Möglichkeit nicht nur der Vergebung, sondern auch der Rechtfertigung alles dessen, was mit den Menschen geschehen ist, – schön, schön, mag das alles erscheinen und sein, ich aber akzeptiere das nicht und will es auch nicht akzeptieren! Mögen sich sogar die Parallellinien treffen, und mag ich das auch selbst sehen, sehen und sagen, daß sie sich getroffen haben, so werde ich es doch trotzdem nicht annehmen. Sieh, das ist mein Wesen, Aljoscha, das ist meine These. Ich habe absichtlich unser Gespräch so begonnen, wie man es dümmer nicht gut hätte beginnen können, aber ich habe es mit meiner Beichte geendet, denn nur sie allein wolltest du doch hören. Nicht von Gott wolltest du etwas erfahren, sondern hören wolltest du, wovon dein Bruder, den du doch liebhast, geistig lebt. Und so habe ich es dir denn gesagt.“

Iwan schloß seine lange Predigt plötzlich mit einem ganz unerwarteten und ganz eigentümlichen Gefühl.

„Warum hast du so begonnen, ‚wie man es dümmer nicht gut hätte beginnen können‘?“ fragte Aljoscha, der, in Gedanken verloren, seinen Bruder betrachtete.

„Ja, so, erstens um des Russizismus’ willen: Die russischen Gespräche über diese Themata werden doch alle so geführt, wie es dümmer nicht gut denkbar wäre. Und zweitens, weil man um so näher zur Sache kommt, je dümmer man tut. Je dümmer, um so klarer. Dummheit ist kurz und gut und einfach, Klugheit aber macht Finten und versteckt sich. Klugheit, das heißt, der Verstand, ist ein Schuft. Die Dummheit dagegen ist offenherzig und ehrlich. So habe ich dir meine Verzweiflung gezeigt, und je dümmer die Darstellung war, um so vorteilhafter für mich.“

„Wirst du mir erklären, weswegen du die Welt ‚nicht akzeptierst‘?“ fragte Aljoscha.

„Versteht sich, es ist ja kein Geheimnis, und dahin führt doch unser Gespräch. Du, mein lieb Brüderlein, ich will dich doch nicht etwa verführen oder von deinem festen Stand wegrücken – ich wollte mich vielleicht nur selbst durch dich heilen ...“ Und Iwan lächelte so sonderbar, ganz wie ein kleiner, frommer Knabe. Niemals noch hatte Aljoscha an ihm solch ein Lächeln gesehen.

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