IV. „Empörung“

„Ich muß dir ein Geständnis machen,“ begann Iwan: „Ich habe nie begreifen können, wie man seine Nächsten lieben kann. Gerade die Nächsten kann man, meiner Meinung nach, unmöglich lieben; lieben kann man höchstens noch die Fernen. Ich habe einmal irgendwo von ‚Iwan dem Barmherzigen‘, einem Heiligen, gelesen, daß er, als einmal ein hungriger und durchfrorener Mann des Weges kam und ihn bat, sich bei ihm erwärmen zu dürfen – daß er sich da zusammen mit ihm auf das Lager gelegt habe, um ihn in der Umarmung zu erwärmen und ihm in seinen von einer scheußlichen Krankheit faulenden und übelriechenden Mund zu hauchen. Ich bin überzeugt, daß er es aus Selbstvergewaltigung getan hat, aus sich selbst vergewaltigender Lüge, aus pflichtschuldiger Liebe, aus sich selbst auferlegter Buße. Um einen Menschen lieben zu können, muß er sich verborgen halten, denn kaum zeigt er sein Gesicht – so ist die Liebe auch schon verschwunden.“

„Darüber hat Staretz Sossima mehr als einmal gesprochen,“ bemerkte Aljoscha, „auch er sagte, daß das Gesicht eines Menschen nicht selten diejenigen, welche im Lieben noch unerfahren sind, zu lieben hindere. Aber es gibt trotzdem viel Liebe in der Menschheit, und sogar fast Christi Liebe ähnliche. Das weiß ich, Iwan ...“

„Nun, ich aber weiß das vorläufig noch nicht und kann es daher auch nicht begreifen, und mit mir kann es eine unzählige Menge Menschen gleichfalls nicht begreifen. Die Frage besteht nur darin, ob das von den schlechten Eigenschaften der Menschen herrührt? oder ob es nur einfach daher kommt, daß die Natur des Menschen so geschaffen ist? Meiner Meinung nach ist Christi Liebe zu den Menschen in ihrer Art ein auf Erden unmögliches Wunder. Nun, er war ein Gott. Wir aber sind keine Götter. Nehmen wir zum Beispiel an, ich kann tief leiden, aber ein anderer kann nie erfahren, bis zu welch einem Grade ich leide, denn er ist eben ein anderer und nicht ich, und außerdem läßt sich der Mensch nur selten herbei, einen anderen als Leidenden anzuerkennen – ganz als ob es sich dabei um einen Rang handelte. Warum nun tut er es nur nicht, was meinst du wohl? Nun, weil ich vielleicht schlecht rieche, weil ich ein dummes Gesicht habe, oder weil ich ihm einmal auf den Fuß getreten bin. Und zudem ist zwischen Leiden und Leiden ein Unterschied: Gewöhnliches Leiden, das mich erniedrigt, Hunger zum Beispiel, das wird mein Wohltäter noch gelten lassen, doch ein etwas höheres Leiden, zum Beispiel für eine Idee, wird er nur in äußerst seltenen Fällen zugestehen, denn er wird bei meinem Anblick wahrscheinlich sofort finden, daß mein Gesicht durchaus nicht demjenigen gleicht, welches er sich in der Phantasie von einem Menschen, der für diese oder jene Idee leidet, gemacht hat. Und so entzieht er mir denn unverzüglich alle seine Wohltaten, tut das aber nicht etwa, weil er ein böses Herz hat. Bettler, namentlich ‚edle‘ Bettler, sollten sich eigentlich nie zeigen und lieber durch die Zeitungen Almosen bitten. Abstrakt kann man noch den Nächsten lieben und zuweilen sogar aus der Ferne, in der Nähe aber fast nie. Wenn alles wie auf der Bühne sich abspielen würde, wie im Ballett, wo die Bettler in seidenen Lumpen und zerrissenen Spitzen graziös tanzend um Almosen bitten, nun, dann kann man noch an ihnen Gefallen finden. An ihnen Gefallen finden, immerhin, aber nicht sie lieben. – Doch genug davon. Ich wollte dir nur meinen Standpunkt erklären ... Ich wollte mit dir von den Leiden der ganzen Menschheit sprechen, doch es ist besser, wir begnügen uns mit den Leiden der Kinder allein. Das wird den Umfang meiner Beweisführung ungefähr um das Zehnfache verringern. Es ist schon besser, nur von den Kindern zu reden. Für mich ist das natürlich unvorteilhafter. Aber, erstens, Kinder kann man auch in der Nähe lieben, sogar schmutzige, sogar häßliche ... Übrigens finde ich, daß kleine Kinder nie häßlich sind. Und zweitens werde ich schon allein deswegen nicht über die Großen reden, weil es sich bei ihnen, abgesehen davon, daß sie abstoßend und der Liebe unwürdig sind, um Vergeltung handelt: Sie haben den Apfel gegessen und Gut und Böse erkannt und sind ‚wie Gott‘ geworden. Und auch jetzt noch fahren sie fort, ihn zu essen. Die Kleinen aber haben noch nichts gegessen und sind vorläufig noch ganz schuldlos. Liebst du kleine Kinder, Aljoscha? Ich weiß, daß du sie liebst, und du wirst verstehen, warum ich jetzt nur von ihnen sprechen will. Wenn auch sie auf Erden unglaublich leiden, so geschieht das natürlich wegen ihrer Väter; sie werden für ihre Väter, die den Apfel vom Baume der Erkenntnis gegessen haben, bestraft. Aber das ist doch eine Erklärung aus einer anderen Welt, denn hier auf Erden ist sie dem Menschenherzen unbegreiflich! Ein Unschuldiger kann doch nicht für einen Schuldigen leiden, und dazu noch solche Unschuldige! Wundere dich über mich, Aljoscha, auch ich liebe kleine Kinder unsäglich. Überhaupt kannst du dir merken, daß grausame, leidenschaftliche, sinnliche, kurz – karamasoffsche Naturen gerade Kinder mitunter ungeheuer lieben können. Kinder unterscheiden sich, solang sie Kinder sind, also ungefähr bis zum siebenten Jahr, ganz unglaublich von erwachsenen Menschen, ganz als ob sie andere Wesen wären, eine ganz andere Natur hätten. Ich kannte einen Mörder im Gefängnis: Er hatte in seinem Leben ganze Familien in den Häusern geschlachtet, in die er nachts eingebrochen war, um zu stehlen, und da hatte er natürlich auch Kinder nicht verschont. Als er aber im Gefängnis saß, liebte er sie dermaßen, daß diese Liebe allen geradezu wunderlich schien. Immer stand er am Fenster seiner Zelle und blickte auf die kleinen Kinder, die im Gefängnishof spielten. Einen kleinen Knaben hatte er einmal an sein Fenster gelockt und schließlich hatten sich die beiden rührend angefreundet ... Weißt du noch nicht, wozu ich das alles sage, Aljoscha? Der Kopf tut mir weh, und ich bin, ich weiß nicht warum, traurig.“

„Du siehst auch so sonderbar aus und redest so wunderlich,“ bemerkte Aljoscha, „als ob du geistesabwesend wärst.“

„Bei der Gelegenheit fällt mir ein, was mir vor kurzem ein Bulgare in Moskau erzählte,“ fuhr Iwan Fedorowitsch fort, als hätte er die Bemerkung des Bruders gar nicht gehört. „Er schilderte, wie die Türken und Tscherkessen dort allerorten hausen, da sie einen allgemeinen Aufstand der Slawen befürchten, – das heißt, wie sie brandschatzen, morden, Frauen und kleine Mädchen vergewaltigen, wie sie die Gefangenen mit den Ohren an die Zäune nageln, damit sie sie bis zum nächsten Morgen, an dem sie gehängt werden sollen, nicht zu bewachen brauchen, und so weiter, – alles kann man kaum erzählen. Man spricht zuweilen von der ‚tierischen‘ Grausamkeit des Menschen, doch ist das höchst ungerecht und für die Tiere wirklich beleidigend: Ein Tier kann niemals so grausam sein wie der Mensch, so ausgesucht, so künstlerisch grausam. Ein Tiger zerreißt und frißt bloß, und das ist schließlich alles, was er versteht. Es würde ihm niemals einfallen, die Ohren seiner Opfer anzunageln und diese eine Nacht lang so angenagelt stehen zu lassen, oder sich eine gleich große Folter, die er mit seinen Mitteln ausführen könnte, zu ersinnen. Diese Türken haben übrigens mit besonderer Wollust Kinder gequält, haben sie mit Dolchen aus dem Mutterleibe herausgeschnitten, haben Säuglinge in Gegenwart der Mütter in die Luft geworfen und mit den Bajonetten aufgefangen. Daß es vor den Augen der Mütter geschah, war ja das Hauptvergnügen. Ein kleines Bild hat auf mich am meisten Eindruck gemacht. Stell dir vor: Ein Säugling auf den Armen seiner zitternden Mutter, um sie herum die eingedrungenen Türken. Sie haben sich ein lustiges Späßchen ausgedacht: Sie liebkosen das Kleine, lachen, um es zu erheitern, was ihnen auch gelingt: der Säugling lacht mit. Da hält ein Türke seine Pistole vor das Köpfchen des Kleinen. Der Knabe lacht fröhlich, streckt die Ärmchen dem blanken Ding entgegen, um es zu erfassen, und plötzlich drückt der Künstler den Hahn ab, ihm gerade ins Gesicht, und zerschmettert ihm das Köpfchen ... Raffiniert, nicht wahr? Übrigens sagt man, die Türken liebten Süßigkeiten sehr.“

„Bruder, was soll das, warum redest du davon?“ fragte Aljoscha.

„Ich meine, wenn der Teufel nicht existiert und ihn folglich der Mensch erdacht hat, so hat er ihn nach seinem Bilde geschaffen.“

„In dem Falle also ebensogut wie Gott.“

„Es ist bewundernswert, wie du die Worte zu verdrehen verstehst, wie Polonius im Hamlet sagt,“ bemerkte Iwan lachend. „Du hast mich beim Wort gefangen; meinetwegen, es freut mich. Dann muß ja der Gott auch danach sein, wenn ihn der Mensch sich zum Bilde, zum Bilde des Menschen geschaffen hat! Du fragst mich, was das soll? Sieh mal, ich bin ein Liebhaber und Sammler gewisser Tatsachen und, glaub mir, ich hebe aus Zeitungen, Büchern, Broschüren oder einerlei woraus eine gewisse Art von Geschichten auf. Ich habe schon eine ganze Sammlung von solchen Blättern. Die Türken sind natürlich auch aufgehoben. Doch das sind immerhin Ausländer, aber ich habe auch heimatliche Geschichten, die sogar noch besser sind als die türkischen. Weißt du, bei uns gibt es viel Prügel, viel Ruten- und Peitschenhiebe, und das ist national. Bei uns sind angenagelte Ohren undenkbar, wir sind doch immerhin Europäer, aber Ruten und Peitschen sind etwas, das zu uns gehört und uns nicht genommen werden kann. Im Auslande, scheint es, schlägt man jetzt überhaupt nicht mehr. Haben sich nun die Sitten dort dermaßen geläutert, oder haben sich die Gesetze dort so ausgearbeitet, daß der Mensch den Menschen, wie es scheint, nicht mehr prügeln darf, ich weiß es nicht. Doch dafür haben sie sich mit etwas anderem entschädigt, etwas gleichfalls rein Nationalem, das bei uns, sollte man meinen, unmöglich wäre, obgleich es übrigens auch hier schon Wurzel schlägt, besonders seit der Zeit, da die religiöse Bewegung in unserer höheren Gesellschaft begonnen hat. Ich habe eine prächtige kleine Broschüre, eine Übersetzung aus dem Französischen. Es ist eine Art Bericht darüber, wie in Genf vor nicht langer Zeit, vor etwa fünf Jahren, ein Räuber und Mörder, namens Richard, ein, glaube ich, dreiundzwanzigjähriger Bursche, der sich kurz vor dem Tode zum Christentum bekehrt hatte, hingerichtet wurde. Dieser Richard war als uneheliches Kind schon mit sechs Jahren von den Eltern irgendwelchen Schweizer Hirten geschenkt worden, und die hatten ihn erzogen, um ihn dann später zur Arbeit zu gebrauchen. Er wuchs auf wie ein wildes kleines Tier, die Hirten ließen ihn nichts lernen, schickten ihn schon mit sieben Jahren, um die Herde zu hüten, hinaus in die Feuchtigkeit und Kälte, fast ohne Kleider und ohne Nahrung. Und natürlich sah niemand von den Hirten etwas Schlechtes darin, oder dachte jemand darüber nach, oder bereute man etwas, im Gegenteil, alle hielten sie sich für vollkommen berechtigt, ihn so zu behandeln, denn Richard war ihnen wie ein Gegenstand geschenkt worden, und sie fanden es nicht einmal für nötig, ihn zu ernähren. Richard hat selbst ausgesagt, daß er in jenen Jahren, wie der verlorene Sohn in der biblischen Geschichte, gern von den Trebern gegessen hätte, die die Schweine fraßen, doch man gab ihm nicht einmal die zu essen und schlug ihn, wenn er sich etwas davon stahl. Und so verbrachte er seine Kindheit und Jugend, bis er groß wurde und stehlen ging. Dieser Wilde begann in Genf als Tagelöhner Geld zu verdienen, vertrank natürlich alles, lebte wie ein Ungeheuer und erschlug und beraubte schließlich irgendeinen alten Mann. Er wurde ergriffen, gerichtet und zum Tode verurteilt. Dort ist man ja nicht sentimental. Doch siehe, im Gefängnis umringten ihn alsbald Pastoren und alle Anhänger christlicher Brüderschaften, wohltätige Damen usw. usw. Ihm wird im Gefängnis das Beten und Schreiben beigebracht, ihm wird das Evangelium erklärt, ihm wird ins Gewissen geredet, er wird überzeugt, bedrängt, gepreßt, gedrückt und geknetet, bis er schließlich selbst sein Verbrechen feierlich eingesteht. Er ist bekehrt, er schreibt an die Richter, daß er ein Auswurf des Menschengeschlechts sei, und daß der Herr ihn endlich erleuchtet und gesegnet habe. Ganz Genf gerät in Wallung, das ganze wohltätige, hochehrsame Genf regt sich auf! Alles, was sich zu den Höheren und Wohlerzogenen zählt, stürzt hin ins Gefängnis zu Richard. Er wird geküßt und umarmt: ‚Du bist unser Bruder,‘ heißt es, ‚siehe, der Herr hat dich erleuchtet, die Gnade des Herrn ruht auf dir!‘ Richard aber weint nur vor Rührung. ‚Ja, ja, die Gnade des Herrn ruht auf mir! Früher in meiner Kindheit und Jugend freute ich mich nur auf Schweinefraß, jetzt aber hat mich der Herr erleuchtet, und ich sterbe im Herrn!‘ – ‚Ja, ja, Richard, stirb im Herrn, du hast Blut vergossen und mußt dafür im Herrn sterben. Wenn du auch nicht die Schuld daran trägst, daß du den Herrn früher überhaupt nicht kanntest, damals, als du die Schweine um das Futter beneidetest, und als man dich dafür schlug, daß du es von den Schweinen stahlst – was sehr unrecht von dir war, denn stehlen ist verboten –, aber du hast Blut vergossen und mußt dafür sterben.‘ Und siehe, der letzte Tag bricht an. Der schwach gewordene Richard ist in Tränen aufgelöst und wiederholt nur ununterbrochen: ‚Das ist mein schönster Tag, ich gehe heut ein zum Herrn!‘ – ‚Ja,‘ singen sofort die Pastoren, Richter und die wohltätigen Damen, ‚ja, das ist dein glücklichster Tag, denn du gehst ein zum Herrn!‘ Und alles zieht hin zum Schafott, zu Fuß und in Equipagen, als Geleit des Schinderkarrens, in dem Richard zum Schafott gefahren wird. Schließlich kommt man an. ‚Stirb, Bruder,‘ schreit man ihm von allen Seiten zu, ‚gehe hin in Frieden, stirb im Herrn, denn Sein Segen ruht auf dir!‘ Und siehe, der von Bruderküssen bedeckte Bruder Richard wird auf das Schafott geschleppt, sein Kopf wird auf die Guillotine gelegt und hübsch brüderlich abgekappt – dafür, daß sich der Segen Gottes über ihn ergossen hatte. Nun, das ist charakteristisch! Diese Broschüre ist ins Russische von irgendwelchen Aufklärungsbeflissenen aus der höheren Gesellschaft übersetzt und zur Bildung und Unterweisung des russischen Volkes mit Tageszeitungen und anderen Blättern und Monatsheften unentgeltlich versandt worden. Was diese Geschichte von Richard so bemerkenswert macht, ist das Nationale. Bei uns ginge es nicht gut an, den Kopf des Bruders bloß deswegen zu fällen, weil er erst jetzt unser Bruder geworden ist, und weil der Segen Gottes sich über ihn ergossen hat. Doch dafür haben wir etwas anderes, das jenem kaum nachsteht. Bei uns gibt es die historische, unmittelbarste und einfachste Strafe durch Hiebe. In der Tat, das Peitschen scheint vielen von uns ein Vergnügen zu sein. Nekrassoff erzählt in einem seiner Gedichte, wie ein Bauer sein Pferd mit der Peitsche auf die Augen schlägt, ‚auf die frommen Augen‘. Nun, wer hat das nicht gesehen, das ist doch echt russisch. Er beschreibt, wie das schwache Tier, dessen überladene Fuhre im grundlosen Wege stecken geblieben ist, anzieht und anzieht und doch nicht weiter kann. Der Bauer peitscht es, peitscht es, ohne zu wissen, was er tut. Unbarmherzig, trunken vom Prügeln, peitscht er immer weiter: ‚Und wenn du auch krepierst, aber zieh, zieh’s heraus!‘ Das Pferd zieht und zieht, und da fängt er an, das arme schutzlose Tier auf die weinenden, die ‚frommen Augen‘ zu schlagen. Außer sich zog das Tier und zog die Fuhre heraus, zitternd, ohne zu atmen, irgendwie seitwärts und fast springend, ganz unnatürlich und schimpflich, – Nekrassoff hat es geradezu grausam geschildert. Und das ist doch schließlich nur ein Pferd, und Pferde hat Gott zum Prügeln gegeben. So wenigstens haben es uns die Tataren erklärt, und zum Andenken haben sie uns dann die Knute geschenkt. Aber man kann doch auch Menschen peitschen. Und da prügelt nun ein intelligenter gebildeter Herr mit dem Einverständnis seiner Madame sein eigenes Töchterchen, ein Kind von sieben Jahren, prügelt es mit Ruten, – ich habe mir alles ausführlich notiert: Der liebe Papa freut sich, daß die Ruten spitze Enden haben: ‚Werden schärfer ziehen,‘ sagt er, und so beginnt er denn, sein Töchterchen zu prügeln. Ich weiß, es gibt viele Leute, die beim Prügeln mit jedem Schlage immer mehr in Eifer geraten, denen das Schlagen schließlich zum Genuß, zur Wollust wird. Sie schlagen eine Minute lang, schlagen fünf Minuten, zehn Minuten lang, je länger desto stärker, desto wütender, desto schmerzhafter. Das Kind schreit, bis es nicht mehr schreien kann, es keucht nur noch: ‚Papa, Papa!‘ Und diese Geschichte war nun durch irgendeinen teuflisch unanständigen Zufall vor Gericht gekommen. Es wird ein Verteidiger angenommen. Unser Volk hat nicht umsonst den Advokaten ein ‚gemietetes Gewissen‘ benannt. Der Verteidiger schreit zur Rechtfertigung seines Klienten: ‚Herrgott, was ist das doch für eine gewöhnliche, in jeder Familie täglich vorkommende Geschichte: Der Vater hat seine Tochter bestraft! Und so etwas bringt man heutzutage, zur Schmach unserer Zeit, vors Gericht!‘ Die Geschworenen ziehen sich zurück und beschließen die Freisprechung des Angeklagten. Das Publikum gröhlt vor Freude darüber, daß man einen Peiniger freigesprochen hat. – Ach, schade, daß ich nicht zugegen war, ich hätte sofort vorgeschlagen, zu Ehren dieses Vaters ein Stipendium auf seinen Namen zu stiften! ... Ja, diese kleinen Bilder sind ganz vorzüglich. Doch von Kindern habe ich noch bessere Geschichten, habe sehr viel solcher Geschichten von kleinen Märtyrern, Aljoscha. Zum Beispiel: Ein kleines fünfjähriges Mädchen wird seinen Eltern plötzlich verhaßt. Es sind ‚ehrenwerte, gebildete und wohlerzogene Leute vom Beamtenstande‘. Sieh, ich behaupte nochmals positiv, daß sie eine besondere Eigenschaft vieler Menschen ist, diese Vorliebe für das Foltern kleiner Kinder: gerade daß es Kinder sind, ist für sie die Hauptsache. Zu allen anderen Subjekten der Menschheit verhalten sie sich wohlwollend und freundlich, wie alle gebildeten und humanen Europäer, doch Kinder zu quälen lieben sie ganz ungemein, und aus diesem Grunde lieben sie auch die Kinder. Hier ist es wohl gerade die Schutzlosigkeit dieser kleinen Geschöpfe, die sie fasziniert, diese engelgleiche Zutraulichkeit des Kindes, das nicht fortlaufen kann und niemanden hat, an den es sich klammern könnte, – das ist es gerade, was das böse Blut des Peinigers erhitzt. Versteht sich, in jedem Menschen verbirgt sich das Tier, – im Zorn, in der wollüstigen Erregung durch die Schreie des gefolterten Opfers, in der sinnlosen Wut, in der Reizbarkeit der durch eigene Verderbnis zugezogenen Krankheiten, wie Podagra, Leberleiden und so weiter. Diesem armen fünfjährigen Mädchen wurden von seinen ‚gebildeten‘ Eltern die verschiedensten Foltern zugedacht. Die Kleine wurde geschlagen, geprügelt, mit den Füßen gestoßen, – kurz, ohne selbst zu wissen weswegen, bedeckten diese Eltern den Körper ihres Kindes mit blauen Flecken. Zuletzt gelangten sie noch zu einer höheren Art von Folter: Sie schlossen das arme kleine Ding für die ganze Nacht in den kalten Abtritt ein, weil, wie sie sagten, die Kleine in der Nacht nicht gebeten habe, sie aufs Töpfchen zu setzen – als ob ein fünfjähriges kleines Wesen in seinem festen Kinderschlaf davon erwachen könnte! Und dafür haben sie ihm das Gesicht mit Kot beschmiert und es gezwungen, diesen Kot zu essen, ja, dazu hat die Mutter, versteh mich recht, die Mutter ihr Kind gezwungen! Und diese Mutter hat schlafen können, während ihr Kindchen an dem kalten, gemeinen Ort war und weinte! Verstehst du das, Aljoscha, wenn das kleine Wesen, das noch nicht begreifen kann, was mit ihm geschieht, dort im Örtchen in Dunkelheit und Kälte hockt und sich mit seinem kleinen, kleinen Fäustchen an seine schluchzende, magere kleine Kinderbrust schlägt und mit unschuldigen, frommen Tränen zu seinem ‚lieben Gottchen‘ betet, damit er es beschütze, – verstehst du das, Aljoscha, du mein Freund und Bruder und demütiger Gottesdiener, der du bist – begreifst du, wozu diese Sinnlosigkeit nötig und geschaffen ist? Ohne sie, sagt man, könnte der Mensch auf der Welt nicht leben, denn ohne sie würde er nie Gut und Böse erkannt haben. Aber wozu dieses Teufels Gut und Böse erkennen, wenn das so viel kostet? Ist doch dann die ganze Erkenntniswelt nicht diese Kindertränen zum ‚lieben Gottchen‘ wert. Ich rede nicht von den Leiden der Großen. Die haben den Apfel vom Baume der Erkenntnis gegessen und – zum Teufel mit ihnen, aber die Kinder, die Kinder! Quäle ich dich, Aljoschka? Du bist ja ganz geistesabwesend, wie es scheint. Ich werde aufhören, wenn du willst.“

„Tut nichts, ich will mich gleichfalls quälen,“ murmelte Aljoscha.

„Nur eines noch, nur noch ein einziges Bild! Es ist gar zu charakteristisch, und ich habe es erst vor ganz kurzer Zeit gelesen in einer der beiden großen Sammlungen, im ‚Archiv‘ oder im ‚Altertum‘ glaube ich, ich weiß es nicht mehr genau, – ich muß nachschlagen, habe vergessen, wo es war. Es datiert aus der Zeit der strengsten Leibeigenschaft, noch zu Anfang des Jahrhunderts. Ach, Heil unserem Zar-Befreier! – Es lebte damals zu Anfang des Jahrhunderts ein General, ein General mit guten Verbindungen, ein steinreicher Gutsbesitzer, doch einer von jenen Leuten – die allerdings auch damals bereits selten geworden waren –, die, wenn sie sich aus dem Dienst zurückzogen, fast überzeugt waren, sich das Recht über Leben und Tod ihrer Leibeigenen verdient zu haben. Solche gab es damals. Also dieser General lebt auf seinem Gute mit etwa zweitausend leibeigenen Seelen, lebt natürlich pompös, trätiert seine ärmeren Gutsnachbarn wie seine Freischlucker und Hofnarren. Seine Meute besteht aus Hunderten von Hunden, und die Zahl der Rüdenknechte ist nicht viel geringer als hundert, alle sind sie uniformiert und beritten. Und siehe, eines Tages verletzt ein kleiner, kaum achtjähriger Junge beim Spielen den Fuß des Lieblingsjagdhundes seiner Exzellenz. ‚Warum lahmt denn plötzlich mein Lieblingshund?‘ erkundigt sich der General. Es wird ihm berichtet, daß, nun, so und so, dieser Knabe den Hund mit einem Stein am Fuß getroffen habe. ‚Ah, also der ist es,‘ sagt der General mit einem entsprechenden Blick auf den Knaben. ‚Nehmt ihn.‘ Man nahm ihn, nahm ihn von der Mutter fort und steckte ihn in die Arrestkammer. Am nächsten Morgen ritt der General mit allem Drum und Dran zur Jagd, alle Gäste um ihn herum, Rüdenwärter und Piköre, Jägermeister, alle beritten und in Livree, und die Hunde gekoppelt. Das ganze Hofgesinde war versammelt, und vorn vor allen anderen steht die Mutter des schuldigen Knaben. Da wird der Knabe aus der Arrestkammer gebracht. Es ist ein trüber, kalter, nebliger Herbsttag, wie geschaffen zur Jagd. Der General befiehlt, den Knaben zu entkleiden; der Kleine wird bis auf die Haut entkleidet, er zittert, ist fast ganz bewußtlos vor Angst, wagt kaum zu atmen ... ‚Hetzt ihn!‘ kommandiert plötzlich der General, und ‚lauf, lauf!‘ schreien dem Kleinen die Piköre zu, – der Knabe läuft ... ‚Packt ihn!‘ brüllt der General und hetzt auf den kleinen laufenden Knaben seine ganze wilde Hundeschar. Vor den Augen der Mutter hetzte er das Kind zu Tode, und die Hunde zerrissen es in Stücke! ... Der General wurde, glaub ich, unter Kuratel gestellt ... Nun, was hätte man wohl anders mit ihm tun sollen? Erschießen? Zur Befriedigung des sittlichen Gefühls erschießen? Sag doch, Aljoschka!“

„Ja, erschießen!“ sagte Aljoscha leise, mit einem blassen, gleichsam verzerrten Lächeln, den Blick zum Blick des Bruders erhebend.

„Bravo!“ rief Iwan triumphierend, als ob ihn die Antwort geradezu entzückt hätte, „wenn schon du es sagst, dann muß es auch so richtig sein! ... Ach, du Asket! Da sieh doch einer, was für ein kleiner Teufel in deinem Herzen sitzt, Aljoscha Karamasoff!“

„Ich habe eine Dummheit gesagt, aber ...“

„Das ist es ja, daß darauf ein ‚aber‘ folgt!“ fiel ihm Iwan lebhaft ins Wort. „Weißt du auch, du kleiner Knabe, daß die Dummheiten auf Erden nur allzu nötig sind? Auf Unsinn beruht die Welt, und ohne ihn würde auf ihr vielleicht überhaupt nichts geschehen. Ich weiß, was ich weiß!“

„Was weißt du?“

„Ich begreife nichts,“ fuhr Iwan wie im Fieber fort, – es war, als ob er irre redete – „und ich will jetzt auch nichts begreifen. Ich will bei der Tatsache bleiben. Ich habe schon längst beschlossen, nicht begreifen zu wollen. Sobald ich etwas begreifen will, entstelle ich sofort die Tatsachen, jetzt aber will ich bei der Tatsache bleiben.“

„Warum quälst du mich so?“ stieß Aljoscha plötzlich klagend hervor, – „wirst du es mir denn nicht endlich sagen?“

„Natürlich werde ich es dir sagen; deswegen habe ich doch alles das erzählt, um es dir sagen zu können. Teuer bist du mir, Alexei, ich gönne dich niemandem, ich kämpfe um dich, ich trete dich nicht deinem Sossima ab!“

Iwan schwieg eine Zeitlang, und sein Gesicht ward über die Maßen traurig.

„Höre mich an: Ich habe nur die kleinen Kinder genommen, damit es augenscheinlicher sei. Von den übrigen Tränen der Menschen, mit denen die Erde von ihrer Kruste bis zum Mittelpunkt der Achse durchtränkt ist, will ich weiter kein Wort reden, ich habe das Thema absichtlich beschränkt. Ich bin, sagen wir, eine Wanze und gestehe mit meiner ganzen Erniedrigung ein, daß ich nicht begreifen kann, wozu alles so eingerichtet ist. Die Menschen tragen, wie sich erweist, selbst an allem die Schuld: Ihnen ward das Paradies gegeben, sie aber wollten Freiheit und raubten das Feuer vom Himmel, obgleich sie wußten, daß sie dadurch unglücklich würden. Also ist kein Grund vorhanden, sie zu bemitleiden. O, nach meinem armseligen, irdischen, euklidischen Verstande weiß ich nur das eine, daß es Leiden gibt, Schuldige aber nicht, daß sich bei allem eines aus dem anderen gerade und einfach ergibt, daß alles fließt und sich aufwägt, – aber das ist nur eine euklidische Ente, das weiß ich doch, und ich kann doch nicht einwilligen, danach zu leben! Was habe ich davon, daß keine Schuldigen vorhanden sind, und daß sich alles gerade und einfach eines aus dem anderen ergibt, und daß ich das weiß! Ich brauche Vergeltung oder ich vernichte mich!! Und die Vergeltung nicht irgendwo und irgendwann in der Unendlichkeit, sondern noch hier auf Erden, so daß ich sie selbst sehen kann. Ich habe geglaubt, also will ich auch mit eigenen Augen sehen, und wenn ich zu der Stunde schon tot bin, so soll man mich auferstehen lassen – denn es wäre doch, wenn alles ohne mich geschehen sollte, gar zu kränkend für mich. Will ich doch nicht dazu gelitten haben, um mit meinen Verbrechen und meinen Leiden für irgendeinen Anderen die zukünftige Harmonie zu düngen. Ich will mit meinen Augen sehen, wie das Reh arglos neben dem Löwen ruht, und wie der Ermordete aufsteht und seinen Mörder umarmt. Ich will dabei sein, wenn alle plötzlich erfahren, warum und wozu alles so gewesen ist. Auf diesem Wunsch beruhen alle Religionen der Erde. Ich aber glaube. Doch da sind nun die kleinen Kinder, was soll ich mit ihnen anfangen? Das ist eine Frage, die ich nicht zu beantworten vermag. Zum hundertstenmal sage ich dir: Solcher Fragen gibt es in Unmenge, doch ich habe nur die Kinder allein genommen, denn hierbei ist das, was ich zu sagen habe, unwiderlegbar klar. Höre mich: Wenn alle leiden müssen, um damit die ewige Harmonie zu erkaufen, so sag mir doch bitte, was das mit den kleinen Kindern zu tun hat? Es bleibt unbegreiflich, warum auch sie leiden müssen, und warum auch sie durch Leiden die Harmonie erkaufen sollen. Warum sind auch sie zu Material gemacht, um für irgend jemanden die zukünftige Harmonie zu düngen? Die Solidarität der Menschen in der Sünde begreife ich sehr wohl, ich begreife auch die Solidarität in der Vergeltung – aber doch nicht mit kleinen Kindern Solidarität in der Sünde! Und wenn die Wahrheit wirklich darin besteht, daß sie mit ihren Vätern in allen Verbrechen derselben solidarisch sind, so ist diese Wahrheit, versteht sich, nicht von dieser Welt und ist für mich unbegreiflich. Manch ein Spaßvogel wird wohl sagen, daß es schließlich auf dasselbe hinauskäme: das Kind werde groß und hätte dann selbst übergenug Zeit zum Sündigen. Aber dieser kleine Knabe wurde doch schon im achten Lebensjahre von Hunden zerrissen ... O, Aljoscha, ich will nicht lästern! Ich begreife doch, wie groß die Erschütterung des Weltalls sein wird, wenn alles im Himmel, auf der Erde und unter der Erde in einen einzigen Lobgesang zusammenfließt, wenn alles, was lebt, und was gelebt hat, ausruft: ‚Gerecht bist du, o Herr, denn offenbar sind jetzt deine Wege!‘ Wenn selbst die Mutter den Peiniger, der ihren Sohn von Hunden hat zerreißen lassen, umarmt und alle drei mit Tränen singen: ‚Gerecht bist du, o Herr,‘ – dann, ja dann ist die Krone alles Wissens und Erkennens erworben, dann wird alles seine Erklärung finden. Hier aber ist nun für mich der Haken, denn gerade das ist es, was ich nicht annehmen kann. Und daher beeile ich mich, solange ich noch auf Erden bin, meine Maßregeln zu ergreifen. Denn sieh, Aljoscha, es ist doch möglich, daß ich, wenn ich diesen Augenblick noch erlebe oder von den Toten auferweckt werde, um das alles zu sehen, – daß auch ich dann beim Anblick der Mutter, die den Peiniger ihres Sohnes umarmt, mit allen anderen zusammen ausrufe: ‚Gerecht bist du, o Herr!‘ Ich aber will das nicht ausrufen. Und darum beeile ich mich, solange es noch Zeit ist, Maßregeln zu ergreifen, und darum danke ich von vornherein für jede höhere Harmonie. Ist sie doch keine einzige Träne jenes gequälten kleinen Kindes wert, das sich mit der kleinen Faust an die kleine Brust geschlagen und zu seinem ‚lieben Gottchen‘ gebetet hat. Sie ist es nicht wert, denn diese Kindertränen sind unausgelöscht geblieben. Sie aber müssen ausgelöscht werden, oder sonst gibt es keine Harmonie. Aber womit, womit kannst du sie auslöschen? Ist das überhaupt möglich? Was tut es schließlich, daß sie gerächt werden? Was tue ich mit der Rache, wozu nützen mir die Höllenqualen der Peiniger, was kann die Hölle hierbei wieder gutmachen, wenn das Kind schon zu Tode gequält ist? Und wo bleibt dann die Harmonie, wenn es noch eine Hölle gibt? Ich will verzeihen und umarmen und will nicht, daß noch gelitten wird. Und wenn die Leiden der Kinder zur Ergänzung jener Summe von Leid, die zum Kauf der Wahrheit erforderlich ist, hinzugerechnet werden müssen, so behaupte ich im voraus, daß die Wahrheit diesen Preis nicht wert ist. Ich will nicht, daß die Mutter den Peiniger ihres Sohnes umarmt! Wie darf sie es wagen, ihm zu vergeben? Wenn sie will, kann sie für sich vergeben – mag sie ihm ihr unermeßliches Mutterleid und alle ihre Schmerzen verzeihen: doch die Leiden ihres von Hunden zerrissenen Kindes darf sie nicht verzeihen, dazu hat sie kein Recht, und wenn auch ihr Kind selbst dem Peiniger vergibt! Wenn das aber so ist, wenn man nicht verzeihen darf, wo ist dann die Harmonie? Gibt es in der ganzen Welt ein Wesen, das verzeihen könnte, das das Recht hätte, zu verzeihen? Ich will keine Harmonie, aus Liebe zur Menschheit will ich keine. Lieber bleibe ich bei ungerächten Leiden. Lieber bleibe ich bei meinem ungerächten Leiden und in meinem heiligen unstillbaren Zorn, selbst wenn ich nicht im Recht wäre. Ist doch diese Harmonie gar zu teuer eingeschätzt! Wenigstens erlaubt es mein Beutel nicht, so viel für den – Eintritt zu zahlen. Darum aber beeile ich mich, mein Eintrittsbillett zurückzustellen. Und wenn ich ein Mann von Ehre bin, so ist es meine Pflicht, dies sobald als möglich zu tun. So tue ich es denn auch. Nicht Gott ist es, den ich ablehne, Aljoscha, ich schicke ihm nur die Eintrittskarte ergebenst zurück.“

„Das ist Empörung,“ sagte Aljoscha leise mit gesenktem Blick.

„Empörung? Dieses Wort wünschte ich nicht von dir zu hören,“ sagte Iwan empfindsam mit tiefem Blick auf den Bruder. „Kann man denn in der Empörung leben? Ich aber will leben. Sage mir offen, ich rufe dich an, antworte: Nehmen wir an, du selbst solltest das Gebäude des Menschenschicksals errichten mit dem Ziel, zum Schluß alle Menschen zu beglücken, ihnen endlich Ruhe und Frieden zu geben, doch zu dem Zweck stünde dir unvermeidlich bevor, und wär’s auch nur ein einziges kleines Wesen zu Tode zu quälen, sagen wir, dasselbe kleine Kind, das sich mit der kleinen Faust an die kleine Brust schlug – auf dessen ungerächten Tränen solltest du dieses Gebäude errichten, – würdest du es übernehmen, unter dieser Bedingung der Baumeister des großen Gebäudes zu sein? Sage es mir und lüge nicht!“

„Nein, ich würde es nicht übernehmen,“ sagte Aljoscha leise.

„Und kannst du glauben, daß die Menschen, für die du baust, einwilligen werden, ihr Glück auf Grund des ungerecht vergossenen Blutes jenes zu Tode gehetzten Knaben zu empfangen? und daß sie dann ewig glücklich sein können?“

„Nein, das kann ich nicht glauben ... Ach, Iwan,“ sagte Aljoscha plötzlich mit aufleuchtenden Augen, „du fragtest vorhin: Gibt es in der ganzen großen Welt ein Wesen, das verzeihen könnte, das das Recht hätte, zu verzeihen? Aber dieses Wesen gibt es, und es kann alles vergeben, allen und für alles, denn es selbst hat sein unschuldiges Blut für alle und alles hingegeben. Du hast ihn vergessen, auf ihm aber wird sich das Gebäude errichten und ihm wird man zurufen: ‚Gerecht bist du, o Herr, denn deine Wege sind jetzt offenbar.‘“

„Ach, das ist es ja, der ‚Einzige Sündenlose‘ und ‚Sein Blut‘! Nein, ich habe ihn nicht vergessen, im Gegenteil, ich wunderte mich die ganze Zeit, warum du ihn noch nicht vorführtest, denn gewöhnlich ist Er das erste, was deinesgleichen in allen derartigen Diskussionen nennen ... Weißt du, Aljoscha, – du brauchst nicht zu lachen, die Sache ist ernst –: Ich habe einmal, so etwa vor einem Jahr, ein Poem verfaßt. Wenn du noch zehn Minuten mit mir verlieren wolltest, so könnte ich es dir vielleicht erzählen.“

„Wie, du hast ein Gedicht geschrieben?“

„O nein, ist mir nicht eingefallen,“ antwortete Iwan lachend. „Ich habe in meinem ganzen Leben bestimmt nicht einmal zwei Verse zusammengebracht. Dieses ‚Poem‘ habe ich mir ganz einfach ausgedacht, und, ohne es niederzuschreiben, behalten. Oh, ich habe es mir mit Begeisterung ausgedacht! Du wirst also mein erster Leser sein oder sagen wir Zuhörer. Nein, wirklich, warum soll sich der Autor einen Zuhörer entgehen lassen, und wenn es nun noch gar der einzige in Frage kommende ist,“ meinte Iwan lächelnd. „Soll ich also erzählen oder nicht?“

„Ich bin sehr gespannt,“ sagte Aljoscha.

„Nun, mein Poem heißt; ‚Der Großinquisitor‘, – ein unsinniges Ding, aber ich will es dir nun einmal erzählen.“

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