Zur Einführung. Bemerkungen über Dostojewski

Zwanzig Jahre haben wir nach dem Tode Dostojewskis gebraucht, um zu begreifen, daß wir heute keine zufällige „Degeneration“, keinen zeitweiligen „Niedergang“, keine, wie man meint, aus dem Westen herübergebrachte Dekadenz, sondern das lange vorbereitete, natürliche und notwendige Ende der russischen Literatur erleben. Furchtbar ist es uns, das einzugestehen. Vielleicht aber liegt in diesem Furchtbaren zugleich auch Freudiges für uns, vielleicht ist die russische Literatur, so groß sie auch sein mag, doch noch kleiner als das russische Leben? Vielleicht ist das Ende der russischen Literatur d. h. unserer großen russischen Anschauungsweise, der Anfang zu der großen russischen Tat?

Erst jetzt, da die russische Literatur ihr Ende erreicht hat, oder wenigstens ein vollkommen bestimmter, unwiederholbarer Kreis ihrer Entwicklung sich abschließt, erst jetzt fangen wir an zu verstehen, was eigentlich von den dreißiger bis zu den achtziger Jahren des XIX. Jahrhunderts in Rußland vor sich gegangen ist, von Puschkins „Onégin“ bis zu „Anna Karenina“ und den „Brüdern Karamasoff“. Um in der Weltkultur etwas dieser plötzlichen Offenbarung, oder richtiger, etwas diesem Ausbruch geistiger Kräfte Ähnliches zu finden, müßte man zur Entwicklung der griechischen Tragödie von Äschylos’ „Prometheus“ bis zu Euripides’ „Alkestis“ oder zur Geschichte der Malerei der italienischen Renaissance zurückgreifen.

Acht Jahrhunderte lang, seit dem Anfang Rußlands bis zu Peter, schliefen wir; in dem Jahrhundert von Peter bis Puschkin begannen wir zu erwachen; und dann, in dem halben Jahrhundert von Puschkin bis Tolstoj und Dostojewski, durchlebten wir nach dem plötzlichen Erwachen, das erfolgt war, drei ganze Jahrtausende der westeuropäischen Menschheit. Der Atem vergeht einem von dieser Schnelligkeit des Erwachens, die der Schnelligkeit eines Steinfluges in den Abgrund gleichkommt. L. Tolstoj und Dostojewski – diese beiden Gipfel der russischen Kultur – wurden vom ersten Strahl der furchtbaren Sonne erleuchtet, wie bis jetzt noch kein einziger aller Gipfel der westeuropäischen Kultur erleuchtet worden ist. Diese furchtbare Sonne aber, das ist der Gedanke an das Ende der Weltgeschichte.

Ich fühle die mir drohende Gefahr, das Heiligste lächerlich zu machen, denn für die Kinder dieses Jahrhunderts, für die Menschen der ewigen Mittelmäßigkeit, des endlosen „Fortschritts“, der Weiterentwicklung der Welt, gibt es nichts Lächerlicheres, Dümmeres, Unwahrscheinlicheres, Beleidigenderes als diesen Hauptgedanken des ganzen Christentums – der Gedanke an das Ende der Welt. Doch ich beruhige mich damit, daß mich jetzt ja doch niemand oder so gut wie niemand hören wird: meine Worte, die uns wie Donnergetöse betäuben, werden den „Menschen dieses Jahrhunderts“ kaum vernehmbares Geflüster scheinen.

„Allem ist das Ende nahe,“ „Kinder, es ist die letzte Stunde,“ wiederholte vor dem Tode der hundertjährige Greis, der geliebte Jünger des Herrn, der an Seinem Herzen geruht und das Geheimnis dieses Herzens gehört hatte – Johannes, „der Sohn der Gewitter“. Ja, je näher wir dem Herzen des Herrn sind, um so verständiger wird dieser sein geheimer Gedanke – der Gedanke an das Ende.

Fast zwei Jahrtausende sind seit der Zeit vergangen, als dieses Wort gesagt ward: „Das Ende der Welt ist nahe“ – das Ende aber kommt nicht. „Wo ist die Verheißung seiner Zukunft? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt alles, wie es von Anfang der Kreatur gewesen ist“ (Zw. Sendschr. Petri III, 4). Und gerade jetzt glauben die Menschen mehr denn je, daß es ein Ende überhaupt nicht geben werde, daß eher seine Worte vergehen werden, als Himmel und Erde. Doch selbst wenn die Zentripetalkraft unseres Planeten noch für ganze zwei Jahrtausende ausreichte – für zwei Augenblicke vor dem Angesicht des Ewigen – was hat das zu sagen? Ist es doch unmöglich, daß wir das nicht sehen, was wir erblickt haben.

Gleich denen, die, auf einer Höhe stehend, über die Köpfe der Menschen hinweg das ihnen Nahende erblicken, während dieses der unter ihnen stehenden Masse vorläufig noch unsichtbar ist, haben wir, über alle kommenden Jahrhunderte und möglichen geschichtlichen Ereignisse hinweg, das Ende der Weltgeschichte erblickt.

Das Anzeichen unserer neuen Annäherung an Christus ist dieser plötzlich zu gleicher Zeit auf allen äußersten, höchsten Punkten des Menschengeistes aufdämmernde Gedanke an das Ende. „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß,“ also spricht Zarathustra-Nietzsche. „Das Menschengeschlecht muß erlöschen“ – stimmt L. Tolstoj Nietzsche bei. „Das Ende der Welt kommt,“ gibt auch Dostojewski zu.

Alle drei haben sie sich auf diese für die zeitgenössischen Menschen des unendlichen „Fortschritts“ lächerlichste und unwahrscheinlichste, für uns furchtbarste und glaubwürdigste Prophezeiung gleichsam verschworen: „Das Ende ist nahe“.

Nicht umsonst stimmt das, was auf den höchsten Gipfeln der russischen und universalen Kultur aufgedämmert ist, mit dem überein, was in dem tiefsten Elemente des russischen Volkes vor sich geht: nicht umsonst hat in den letzten drei Jahrhunderten gerade das russische Volk so hartnäckig und unablässig wie kein einziges der anderen westeuropäischen Völker über das Ende der Welt nachgedacht.

Wir sind „Dekadente“, obgleich auch unsere „Dekadenz“ vielleicht etwas Verwandtes, Volkliches, Russisches ist – das nicht von außen, sondern von innen kommt, nicht aus Westeuropa, sondern aus der Tiefe, aus dem blutverwandtesten Mutterschoß der russischen Erde (ist denn Dostojewski vom Gesichtspunkte des klassischen, akademischen Puschkin nicht „dekadenter“ als wir alle?); vielleicht ist auch unsere „Dekadenz“ gleichfalls etwas Historisch-Natürliches, etwas Notwendiges, denn was sind wir anderes, als das natürliche und notwendige Ende der russischen Literatur, die selbst das Ende von etwas noch Größerem ist? Mögen wir die Schwächsten der Schwachen sein. „In der Schwäche vollendet sich unsere Kraft.“ Unsere Kraft aber besteht darin, daß uns selbst der Mächtigste aller Teufel mit keiner einzigen Verlockung der ewigen Mittelmäßigkeit, des unendlichen „Fortschritts“ gewinnen kann. Wir nehmen keine Durchschnittsphilosophie an, denn wir glauben an das Ende, sehen das Ende, wollen das Ende, denn wir selbst – sind das Ende oder wenigstens der Anfang vom Ende. In unseren Augen liegt ein Ausdruck, der noch nie in Menschenaugen gelegen hat; in unseren Herzen ist ein Gefühl, das kein einziger Mensch nun schon seit neunzehn Jahrhunderten mehr empfunden hat, seit der Zeit, als dem Einsiedler von Pathmos die Vision erschien: „Und der Geist und die Braut sagen: komm! und der es hört, sage: komm! Es spricht, der solches zeuget: wahrlich, ich komme bald! Amen. Wahrlich, komme, Herr Jesus Christus!“

Wir sind wie Gräser auf dem äußersten Rande eines steilen Abhanges, auf einer Höhe, wo nichts mehr wächst. Dort unten in den Tälern reichen hohe Eichenbäume mit ihren Wurzeln bis tief hinein in die Erde. Wir aber sind die Schwachen, Kleinen, von der Erde aus kaum Sichtbaren, wir stehen unbeschützt vor allen Winden und Stürmen, fast wurzellos, fast verwelkt. Dafür stehen wir früh morgens, wenn die Wipfel der Eichen noch dunkel sind, schon im Licht; wir sehen das, was noch niemand sieht; wir sind die ersten, die die Sonne des großen Tages sehen; wir sind die ersten, die zu Ihm sagen:

„Wahrlich, Herr, komme!“

Dmitri Mereschkowski.

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