Einleitung

Droysens Buch über Alexander den Großen gehört unstreitig zu den klassischen Werken der deutschen historischen Prosa: die Gediegenheit der Forschungen, die Tiefe der Auffassung, die Frische des Stils, wie sie in dem Buche zutage treten, berechtigen zu diesem Urteil. »Droysens Verständnis für den idealen Gehalt der Vergangenheit, seine lebhafte Auffassung historischer Charaktere und seine Anlage für deren Vergegenwärtigung trafen mit der Lehre Hegels von der Verkörperung der großen, weltbewegenden Ideen in den Heroen der Geschichte zusammen. Diesem Zusammentreffen ist Droysens erste historische Arbeit, sein Alexander von Makedonien entsprungen«, schreibt Max Duncker in seiner trefflichen, unmittelbar nach dem Tode des Forschers verfaßten biographischen Skizze. Man muß freilich gestehen, daß die allgemeinen Prinzipien der heutigen historischen Wissenschaft nicht mehr die gleichen sind wie die des jungen Droysen. Was wir heute suchen, ist nicht der »ideale Gehalt der Vergangenheit«, sondern einfach die Vergangenheit an sich, und unser Urteil über geschichtliche Persönlichkeiten ist von der Lehre Hegels nicht mehr beeinflußt. Indessen, in der Praxis der historischen Arbeit verfuhr Droysen durchaus modern. Das Ideale der antiken Geschichte sucht er niemals durch Schönfärberei oder willkürliche Auswahl der überlieferten Tatsachen zu gewinnen, sondern in streng kritischer, voraussetzungsloser Untersuchung der Tradition will Droysen sich das Bild des griechischen Staates und seiner Leistungen schaffen: wenn dieses Bild dann groß und erhaben wirkt, und vorbildlich für die eigene Zeit, so ist das für den Geschichtschreiber erfreulich, aber es belastet das Gewissen des Gelehrten nicht. Was den zweiten Punkt betrifft, so kommt es ja tatsächlich oftmals vor, daß die großen politischen Gedanken der Völker in einzelnen Männern gewissermaßen Fleisch und Blut gewinnen, von ihnen vollkommen erfaßt und in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Es genügt hier, an den Gedanken der deutschen Einheit und an Bismarck zu erinnern. Aber so gewaltig Bismarcks Können und Wollen auch gewesen ist, er hätte sein Ziel nicht erreicht, wenn ihm das Schicksal nicht einen Monarchen an die Seite gestellt hätte, der ihn und seine Ideen verstand und es ihm möglich machte, sein Werk zu schaffen. Und wenn wir nicht nur an Bismarck, sondern auch an Kaiser Wilhelm I. denken, kommen wir zu einer rechten Würdigung des historischen Alexander so gut wie des Alexanderbildes von Droysen. So wenig auch äußerlich Wilhelm I. und Alexandros, der Sohn des Philippos, miteinander gemein haben, der schlichte, durch und durch solide, seinen Mitarbeitern unbedingt treue, norddeutsche Fürst, der im Bilde des Greises in der Nachwelt weiterlebt — und auf der anderen Seite der hochbegabte, aber theatralische Südländer, auf dessen Andenken es lastet, daß er seinen Moltke heimtückisch umbringen ließ, und den Roman und Legende durch zwei Jahrtausende zum Heldenjüngling gestaltet haben: die Jahrzehnte, in denen das deutsche Volk seine Einigung und Weltstellung gewann, stehen unter dem Zeichen Wilhelms I., und die Epoche, in der das hellenische Volk, frisch geeinigt, die Weltherrschaft eroberte, ist das Zeitalter Alexanders.

Droysen hat den König Alexander für einen ganz großen Menschen, für einen Genius ersten Ranges, gehalten. Die moderne Forschung ist zum Teil andere Wege gegangen. Es läßt sich, bei der Dürftigkeit des auf uns gekommenen authentischen Materials, nicht ganz sicher entscheiden, wer recht hat, ob Johann Gustav Droysen, oder — um gleich den Namen seines Antipoden zu nennen, Julius Beloch. Fest steht es, daß die hellenische Welteroberung zugleich eine Tat des Königs Alexander gewesen ist, daß sich die Entwicklung der Nation und das Leben des einen Mannes nicht trennen läßt.

Aber auch schon für Droysen selbst ist die Sache wichtiger gewesen als die Person: die Bedeutung Alexanders liegt für ihn darin, daß er das Ende einer Weltepoche bezeichnet, und den Anfang einer neuen. Diese neue Epoche bringt die »Verbreitung griechischer Herrschaft und Bildung über die Völker ausgelebter Kulturen«, mit einem Wort: die Entstehung des Hellenismus. Es bleibt für alle Zeiten eine wissenschaftliche Großtat Droysens, daß er, man kann wohl sagen, der Entdecker des Hellenismus geworden ist. Drei Jahre nach dem Erscheinen der Alexandergeschichte folgte ihre Fortsetzung, die Schilderung der Epoche der Diadochen (1836), 1843 schloß sich die Geschichte der nächsten Generation griechischer Herrscher, der sog. Epigonen an. In einer zweiten Auflage hat Droysen alle drei Bände als »Geschichte des Hellenismus« vereinigt (1877/78). Für den einseitigen Klassizismus hört das vorbildliche Griechentum mit Chaironeia und Demosthenes auf: was danach kommt, ist Entartung und Verfall. Tatsächlich ist es aber gerade die hellenistische Periode, in der das griechische Volk politisch die größten Erfolge gehabt hat, so daß man direkt berechtigt ist, von einer griechischen Weltherrschaft im Zeitalter des Hellenismus zu sprechen, und auch die kulturellen Schöpfungen dieser Epoche lassen sich aus der Entwicklung der abendländischen Menschheit nicht wegdenken. Droysen hat als erster durch ein großzügiges Geschichtswerk die welthistorische Bedeutung des Jahrhunderts von Alexander bis zur Intervention der Römer im Osten klargelegt, sowie den Zusammenhang der politischen Begebenheiten dieser Zeit mit glänzender Kombinationskraft aus der vielhaft trümmerhaften Überlieferung zu gewinnen gesucht.

Zur rechten Würdigung Alexanders und des Hellenismus waren freilich zwei Vorfragen zu lösen, die wieder untereinander eng zusammenhängen: es sind die Probleme der Nationalität der Makedonen, und der Politik des Demosthenes. In beiden Fragen hat Droysen den gleichen Standpunkt gewonnen, wie ihn im wesentlichen auch die neueste Forschung einnimmt. Freilich ist der Streit über beide Probleme noch nicht beendet. Die Frage, ob die Makedonen Griechen gewesen sind, oder nicht, ist von einschneidender Bedeutung: wenn ja, dann haben Philipp und Alexander den Hellenen die nationale Einigung gegeben, wenn nein — dann sind die Griechen unter die Herrschaft ausländischer Zwingherren geraten, welche sie für ihre Zwecke ausnutzten. Eine Entscheidung der Frage kann nur eine Prüfung der Sprache der Makedonen geben; leider ist unsere Kenntnis des makedonischen Dialekts nur mäßig, aber das sprachliche Material läßt doch den Schluß ziehen, daß die Makedonen ein griechischer Stamm gewesen sind: diese Überzeugung hat bereits Droysen trefflich vertreten. Wenn er freilich die Makedonen, ebenso wie die anderen, in ihrer Entwicklung zurückgebliebenen Nordstämme, als »Pelasger« bezeichnet, so werden wir diesen Namen hier lieber nicht anwenden; denn die Theorie von den »Pelasgern« als den Urgriechen läßt sich heutzutage nicht mehr aufrechterhalten. Sie ist eine Spekulation der Mythenhistoriker des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts. Von der Auffassung der Makedonenfrage hängt auch gutenteils das Urteil über die Politik des Demosthenes ab. Waren König Philipp und sein Sohn keine Hellenen, dann war Demosthenes der Vorkämpfer gegen die Fremdherrschaft, im anderen Falle aber nur der Vertreter eines überlebten Partikularismus. Die Bewunderung für Demosthenes als literarische Erscheinung hat in alter und neuer Zeit dazu geführt, daß man auch seine politische Wirksamkeit in der Verklärung sah. Mit ausgezeichneten Gründen bekämpft Droysen diese Auffassung: den Patriotismus des Atheners will er nicht leugnen, und das Attribut des »größten Redners aller Zeiten« will er ihm nicht entziehen. Aber Droysen bezweifelt es, daß Demosthenes als Staatsmann groß, und daß er überhaupt »der Staatsmann der nationalen Politik Griechenlands« gewesen ist. In einer glücklichen Kombination malt Droysen das Bild der griechischen Zustände aus, wie sie sich nach einem Siege des Demosthenes unstreitig gestaltet hätten: »Mochten die attischen Patrioten den Kampf gegen Philipp im Namen der Freiheit, der Autonomie, der hellenischen Bildung, der nationalen Ehre zu führen glauben oder vorgeben, keins dieser Güter wäre mit dem Siege Athens sichergestellt gewesen.« Die neueste Forschung ist in der Kritik an Demosthenes noch weiter gegangen als Droysen: es scheint sich immer mehr herauszustellen, daß Demosthenes zwar ein großer Advokat, aber ein recht kleiner Mensch gewesen ist. Aber darüber darf man ein Zweites nicht vergessen: das ist die rührende Aufopferung, mit der das athenische Volk sein Blut für all die Dinge verspritzt hat, die ihm seine Politiker vorgaukelten. Droysen geht viel zu weit, wenn er von dem »schwatzhaft, unkriegerisch, banausisch gewordenen Bürgertum Athens« spricht. Der wahre Held von Chaironeia ist nicht der Redner, der auf dem Marktplatz mit seinen gut vorbereiteten Tiraden den Makedonenkönig vernichtete, sondern es ist der schlichte athenische Handwerksmeister und Familienvater, der pflichtgemäß für seine republikanische Freiheit unter den Lanzen der makedonischen Veteranen den Tod findet. Die Stimmung der Kämpfer von Chaironeia ist in einer Grabschrift für die Gefallenen rührend zum Ausdruck gekommen. Die vier Verszeilen mögen hier — in der Übersetzung von Wilamowitz — Platz finden:

Zeit, du überschauest alles Menschenschicksal, Freud und Leid,
Das Geschick, dem wir erlagen, künde du der Ewigkeit.
Auf Boiotiens Schlachtfeld sanken wir, gefällt vom Feindesspeere,
Was wir wollten, war, zu wahren unseres heiligen Hellas Ehre.

Freilich, man mag der überwundenen Partei die Gerechtigkeit widerfahren lassen, die ihr zukommt, sachlich bleibt die Auffassung Droysens unanfechtbar, daß nur der Sieg des makedonischen Königtums die griechische Nation von dem Fluch der Kleinstaaterei erlösen und die in ihr schlummernden Kräfte erwecken konnte.

Das Thema der Alexandergeschichte hatte ohne Zweifel für Droysen einen aktuellen Reiz: in der Einigung der Hellenen durch die makedonische Dynastie wird er ein Vorbild gesehen haben, in dessen Art er auch die Lösung der deutschen Frage erstrebte. Am 6. April 1848 hat Droysen erklärt, daß »Preußen sich Deutschland eingliedern, durch seine große und gesunde Machtorganisation, sein Heer und seine Finanzen den Rahmen des neuen Ganzen bilden müsse«. Als Abgeordneter in der Paulskirche war er bemüht, »der Einigung Deutschlands unter der Oberherrschaft der Hohenzollern Anhänger zu werben«. Der starke Anteil an den Forderungen seiner eigenen Zeit hat ja dazu geführt, daß Droysen auch als Forscher das Gebiet der griechischen Geschichte mit dem der preußischen vertauschte, daß er auf die »Geschichte des Hellenismus« die Biographie des Feldmarschalls Yorck und die vielen Bände der »Preußischen Politik« folgen ließ.

Hat aber auch für den Leser von 1917 die Geschichte Alexanders einen unmittelbaren Reiz, abgesehen von der Belehrung über eine wichtige Epoche der Vergangenheit? Man wird diese Frage wohl bejahen dürfen, und zwar wegen des hervorragenden kriegsgeschichtlichen Interesses, das die Feldzüge des makedonischen Königs erwecken. Man kann wohl sagen, daß wir bei der Eroberung des Perserreiches durch Alexander zum erstenmal in der Weltgeschichte die systematische Arbeit eines denkenden Generalstabs verfolgen können. Größere Truppenbewegungen sind natürlich auch schon in der Epoche vor Alexander erdacht und geleitet worden. Achtbar sind z. B. die Leistungen des Perserreichs auf diesem Gebiete. Als König Darius seinen sog. Skythenzug vorbereitete, hatte er eine Armee etwa aus der Gegend des heutigen Bagdad in die Dobrudscha zu versetzen: eine Leistung, die auch im Zeitalter der Eisenbahnen und Automobile recht achtbar wäre; um so mehr im Altertum mit seiner primitiven Technik. Aber die Soldaten des Perserkönigs hatten diesen Weg im eigenen Lande, unterstützt von der eigenen Reichsverwaltung zurückzulegen: das Feindesland begann eigentlich erst an der Donaumündung. Als nun aber die wirkliche militärische Aufgabe einsetzte, die Perser die untere Donau überschritten und in Beßarabien vordrangen, da begannen auch die Schwierigkeiten des Unternehmens deutlich zu werden: bekanntlich haben die Perser bald den Rückzug antreten müssen. Das ist etwa ein Beispiel für das militärische Können der Epoche um 500 vor Christus. Die kriegerischen Unternehmungen der griechischen Staaten des 5. und 4. Jahrhunderts zeichnen sich ebenfalls durch ihre Langsamkeit, Schwerfälligkeit und relative Ergebnislosigkeit aus. Welch anderes Bild geben da die Feldzüge Alexanders! Die makedonische Armee beginnt ihre Offensive mit der Überschreitung der Dardanellen und schlägt einen starken, durchaus achtbaren Feind überall, wo sie ihn trifft. Ein geheimer Mechanismus scheint dieses Heer zu lenken, im Winter geht es ebenso vorwärts wie im Sommer, Flußlinien, Hochgebirgsketten, Wüsten werden glatt überwunden. Jede feindliche Festung fällt, wenn es auch manchmal recht viel Zeit und Mühe kostet. Etappenlinien von vielen Hunderten von Kilometern, im Feindesland, werden in Ordnung gehalten, weite Gebiete okkupiert und sofort in eigene Verwaltung genommen. So passiert diese Armee Kleinasien und dringt dann über Syrien nach Ägypten vor, es folgt der Vormarsch nach Mesopotamien, Babylon wird genommen, das eigentliche Persien betreten. Das gewaltige Iran wird durchzogen; über Afghanistan und den Hindukusch zieht die griechische Armee nordwärts bis tief in die Wüsten von Turkestan; daran schließt sich der letzte Akt: die Expedition nach Indien. All diese erstaunlichen Leistungen sind nicht denkbar ohne eine vorbedachte, mit einem fein verzweigten Apparat arbeitende Heeresleitung. Einen zwanzigjährigen König, und sei er noch so geistvoll, wird man nicht gut als den alleinigen Urheber solcher Erfolge ansehen: hier arbeitet ein Generalstab, so gut wie in den Operationen des deutschen Heeres 1870/71 oder 1914/17. Wir wissen auch genau, wer die Generalstäbler Alexanders gewesen sind: es sind die alten Generale aus der Schule seines Vaters, die sog. Adjutanten (Somatophylakes), welche dem König bei der Kriegführung zur Seite stehen, und als Chef des makedonischen Generalstabs tritt, auch noch in unserer höfisch gefärbten Überlieferung, der alte Parmenion deutlich genug hervor.

In den Feldzügen Alexanders fehlt, wenn man sie richtig erfaßt, das romantisch-enthusiastische Element durchaus; im Gegenteil, mit ruhiger Überlegung, und geradezu pedantischer Vorsicht, werden die nötigen Entschlüsse gefaßt. Diesen Charakter der militärischen Dispositionen Alexanders hat Droysen vortrefflich hervorgehoben, nur führt er durchweg den König selbst als den geistigen Leiter des Krieges ein, während tatsächlich Alexander in den meisten Fällen nach dem Rat seiner Adjutanten gehandelt haben wird.

Die vorliegende neue Auflage des Droysenschen Werkes gibt ohne jede Änderung den Text der letzten, vom Verfasser selbst veranstalteten Ausgabe wieder. Das Material zur Geschichte Alexanders hat sich seitdem nur unbedeutend vermehrt, aber in einigen immerhin bemerkenswerten Gesichtspunkten ist doch die moderne Forschung über Droysen hinausgekommen. Im folgenden sollen diese Punkte wenigstens kurz erörtert werden. Der Leser kann sich dann ohne Mühe selbst die Auffassung Droysens von den betreffenden Fragen berichtigen.

In erster Linie ist hier die Schilderung des persischen Heeres und die Schätzung seiner Stärke zu nennen. Droysen hält noch an den überlieferten Zahlen fest. Am Granikos nimmt er 20 000 persische Reiter und ebenso viele griechische, im Dienste des Perserkönigs stehende Söldner an. Die Armee, welche Alexander bei Issos besiegte, schätzt er auf Hunderttausende, darunter 30 000 griechische und 100 000 asiatische Schwerbewaffnete, und auch bei Gaugamela läßt er eine persische Riesenarmee auftreten. Indessen haben die Forschungen von Eduard Meyer und Hans Delbrück über das persische Heerwesen zu dem Ergebnis geführt, daß der Perserkönig niemals ein Millionenheer aufgestellt hat; die Armeen, mit denen König Alexander zu kämpfen hatte, sind erheblich schwächer gewesen; schwerlich stärker an Zahl als die makedonischen Sieger selbst. An sich wäre es ja durchaus möglich gewesen, daß das Perserreich, das etwa 50 Millionen Einwohner zählte, ein Millionenheer aufgebracht hätte. Aber im persischen Reich hat eine allgemeine Wehrpflicht, wie in den antiken griechischen und in den modernen Staaten, niemals existiert. Die persische Armee war vielmehr eine Berufsarmee, und Berufsheere sind niemals sehr stark. Die iranische Nation, welche die eigentlich staatserhaltende Kraft im Perserreich darstellte, lieferte dem König zunächst eine ausgezeichnete Adelsreiterei, sodann eine große Zahl erprobte Bogenschützen. Mit diesen Tausenden von Rittern und Zehntausenden von Schützen haben die ersten Perserkönige die militärisch nur wenig leistungsfähigen orientalischen Großmächte: Babylonien, Lydien, Ägypten niedergeworfen. Im eroberten Gebiet richteten sich die Perser ähnlich ein wie später die Türken im 15. bis 17. Jahrhundert: der Herrscher wies seinen Rittern große Lehensgüter an. Auf dem Besitze eines solchen Gutes lastete die Verpflichtung, im Kriegsfalle eine Anzahl Reiter zu stellen; vielleicht auch ein paar iranische Bogenschützen zu unterhalten. Neben diesen Lehenstruppen stand dann die königliche Garde, die 10 000 sog. »Unsterblichen«, entsprechend etwa den Janitscharen des Sultans. Eine solche Berufsarmee bleibt auf der Höhe, solange der Staat dauernd Krieg führt und die Maschinerie im Gang bleibt. Wenn aber längere Perioden des Friedens kommen, verrostet das Uhrwerk leicht. So ist es dem Türkischen Reich im 18. Jahrhundert ergangen: aus den Janitscharen wurde ein Korps von Staatspensionären, das keinen Feind mehr schreckte. Ähnlich gestaltete sich die Entwicklung im Perserreich, als die Periode der ständigen Kriege mit König Xerxes aufhörte. Die Inhaber der Lehen wurden allmählich zu bequem, um wirkliche Krieger zu unterhalten, und wenn der König die Heeresfolge ansagte, schickten sie statt dessen ihre Hausdiener (vgl. Xenophon, Cyrop. VIII 8, 20). Immerhin hat sich wenigstens die persische Reiterei in den Alexanderschlachten tapfer geschlagen. Die asiatische Infanterie dagegen war völlig verkommen, statt ihrer stellte man schon seit dem Ausgang des 5. Jahrhunderts lieber griechische Söldner ein.

Die operierende persische Feldarmee ist zur Zeit ihrer höchsten Blüte, unter König Xerxes, im Feldzug von 480/79, höchstens 50 000 Mann stark gewesen; unter Darius III. waren es höchstens ebenso viele, wahrscheinlich aber weniger Leute. Die phantastische Vorstellung von den Millionenheeren des Perserkönigs hat die griechische Volkstradition des 5. Jahrhunderts gebildet, auf der die Darstellung Herodots beruht. Die späteren Geschichtschreiber haben dann diese Auffassung übernommen, und die Historiker Alexanders sind von der Tradition nicht abgewichen: im Gegenteil, sie haben die Furchtbarkeit des Perserheeres mit Behagen ausgemalt, um die Größe der makedonischen Kriegstaten ins rechte Licht zu rücken.

Der griechische Bund, an dessen Spitze König Alexander stand, hatte nur etwa 1/10 der Einwohnerzahl des Perserreichs. Aber seine militärische Kraft war weit überlegen. Hellas war damals stark übervölkert: viele Tausende von kühnen und kräftigen Männern waren bereit, in den Osten zu ziehen, um sich dort eine neue Heimat zu erobern. Dem makedonischen Volksheer winkte im Orient ein ruhmvoller, leichter Sieg und unermeßliche Beute; auch die kräftigen Barbarenstämme der Balkanhalbinsel, die dem makedonischen König unterstanden, waren militärisch nicht unwichtig. Alles in allem war König Alexander imstande, zur Zeit der Schlacht bei Gaugamela mit 50 000 Mann Kerntruppen — mit einer Kavallerie, die dem Feind zumindest gewachsen, und einer Infanterie, die ihm in jeder Beziehung überlegen war — die Perser anzugreifen. Etwa ebenso viele Leute mögen zur selben Zeit als Etappentruppen und Garnisonen das weite Gebiet von den Dardanellen bis Mesopotamien gedeckt haben. Endlich stand noch eine starke Reservearmee daheim, bereit, etwaige partikularistische Bewegungen in Griechenland niederzuwerfen. Im ganzen ist es wohl kaum übertrieben, wenn man die damalige Gesamtstärke der Heere Alexanders auf etwa 150 000 gute Soldaten berechnet. Das war eine Heeresmacht, gegen die kein anderer Staat der Welt aufkommen konnte, auch nicht das Perserreich mit seinem durchaus überlebten Wehrsystem. Diese Erwägungen mögen die Leistungen König Alexanders und seines Heeres leichter verständlich machen; sie können aber die Bewunderung für die Taten der makedonischen Heeresleitung nicht vermindern.

Eine der merkwürdigsten Episoden in der Geschichte Alexanders ist unstreitig sein Zug zu der Oase des Ammon, wo er sich von den Priestern als der Sohn des Gottes begrüßen ließ. Droysen schildert dieses Ereignis in anschaulicher und eindringlicher Art. Die Frage drängt sich auf, was Alexander bei dem ägyptischen Gott gewollt, welche Absichten er mit seiner Erklärung zum Gottessohn verfolgt hat. Droysen meint, der König habe gewollt, daß ihn »in das Innere des Morgenlandes eine geheimere Weihe, eine höhere Verheißung begleiten« sollte, »in der die Völker ihn als den zum König der Könige, zum Herrn von Aufgang bis Niedergang Erkorenen erkennen sollten«. Aber tatsächlich hat wohl Alexander mit jenem mystischen Vorgang gar nicht auf die Orientalen, sondern allein auf die Griechen wirken wollen. Der Gedanke von der Göttlichkeit des Herrschers war den Untertanen des Perserkönigs — außerhalb von Ägypten — fremd: den Iraniern, welche sich zur Religion des Zarathustra bekannten, den babylonischen Verehrern des Marduk und der Istar, den semitischen Dienern ihrer Stammesgottheiten, und all den anderen Völkern des Ostens wurde der fremde Eroberer wahrlich deshalb nicht ehrwürdiger oder sympathischer, weil er sich als der Sohn des ägyptischen Ammon ausgab. In Ägypten war freilich die Auffassung zu Hause, daß der Pharao der Sohn des großen Sonnengottes sei, und die Priester waren gern bereit, auch jedem fremden Herrscher, der es wünschte, dieses Attribut zu erteilen. Aber eine solche Anerkennung konnte Alexander in jedem beliebigen ägyptischen Heiligtum empfangen; hätte er wirklich dem Herzen des ägyptischen Volkes näherkommen wollen, dann würde er sich an einen der führenden nationalen Tempel gewandt haben, aber sicher nicht an den Ammon der libyschen Oase, der im ägyptischen Kulturleben so gut wie nichts bedeutete. Indessen, und das bringt uns der Lösung des Rätsels näher, der Ammon von Siwas war — über Kyrene — schon seit dem 5. Jahrhundert in Griechenland bekannt geworden, und sein Orakel erfreute sich dort einer gewissen Autorität, seitdem Delphi aus der Mode gekommen war. Wenn also Alexander für die Hellenen ein Gott sein wollte, dann war das Ammonsorakel die Stelle, deren Autorität er sich mit Aussicht auf Erfolg zu bedienen vermochte. Was bedeutete aber die Anerkennung der Gottheit Alexanders durch die griechischen Gemeinden? Nichts mehr und nichts weniger als eine vollkommene Reform der hellenischen Bundesverfassung. Die beschränkten Kompetenzen des Bundespräsidenten, wie sie für König Philipp ausreichend gewesen waren, genügten für Alexander nicht. Er wünschte, wenn er es für nötig hielt, ohne Hindernis in die griechischen Angelegenheiten eingreifen zu können, ohne zugleich die Selbständigkeit der griechischen Republiken ganz aufzuheben. Da bot sich der bequeme Ausweg, daß der ehemalige Bundespräsident zum Staatsgott der einzelnen Gemeinden wurde: nunmehr mußten seine Erlasse als göttliche Gebote befolgt werden. Was dies in der Praxis zu bedeuten hatte, zeigte sich sofort, als Alexander die Verordnung über die Rückkehr der Verbannten erließ. Dieser Akt, der die Parteikämpfe in den griechischen Kleinstaaten formell abschließen sollte, wäre nach den Artikeln des Korinthischen Bundes — wie auch Droysen treffend hervorhebt — nicht möglich gewesen. Dagegen konnte der »Gott« Alexander ohne weiteres eine solche Maßregel durchführen.

Das »Gottkönigtum«, wie es Alexander begründete, sollte noch die bedeutsamsten Folgen für die spätere Entwicklung des Altertums haben. Es blieb die maßgebende Form, in der sich eine starke monarchische Gewalt mit der republikanischen Selbständigkeit einer größeren Zahl von Stadtstaaten wenigstens einigermaßen vereinigen ließ. Die hellenistischen Monarchien des Orients waren so organisiert, und das römische Kaisertum ging dann die gleiche Bahn.

Hat Alexander selbst an seine Göttlichkeit geglaubt? Droysen deutet die Möglichkeit an, daß der König gewisse pantheistische Gedanken von einer Einheit zwischen der Gottheit und den Menschen gehabt hat; Gedanken, in denen sich griechische Philosophie und ägyptische Priesterweisheit vereinigten. Aber wenn wir die praktisch-politische Bedeutung des Zuges zum Ammonion in den Vordergrund stellen, in der Art, wie es von den neueren Forschern vor allem Eduard Meyer getan hat, werden wir auch hier wohl eine einfachere Lösung suchen müssen. Über das wirkliche religiöse Innenleben Alexanders läßt sich kaum etwas Bestimmtes sagen. Wenn er sich den »Kinderglauben« bewahrt hatte, kann es nur der an die Götter seiner makedonischen Heimat gewesen sein. Aber daneben konnte er sehr wohl glauben, daß er für die Angehörigen seines Reichs selbst ein »Gott« sei. Perikles hat einmal in einer berühmten Rede erklärt, daß man die Existenz der Götter erschließe aus der Verehrung, die sie finden, und aus den Wohltaten, die sie den Menschen erweisen. In diesem Sinne war auch der große König, der all den vielen Griechenstädten Frieden, Wohlstand, ja die Existenz sicherte, ein »Gott«. Daß er Wunder tun, durch seinen Willen die Naturgesetze aufheben könne, hat Alexander sicher nicht angenommen.

Wenn man die Geschichte Alexanders überdenkt, drängt sich unwillkürlich die Frage auf, ob es wirklich den wahren Interessen des griechisch-makedonischen Volkes entsprochen hat, daß ein hellenisches Riesenreich gegründet wurde, das sich vom Adriatischen Meere aus bis tief nach Indien erstreckte. Dieses Problem, an dem man bei der Würdigung des Staatsmannes Alexander nicht vorübergehen kann, ist von Droysen nicht gestellt worden. Es ist doch bemerkenswert, daß der Hellenismus nichts von dem gewaltigen Gebiet behauptet hat, das er damals eroberte. Das griechische Volk bewohnt heute im großen und ganzen denselben Raum, wie zur Zeit Philipps von Makedonien. Damit vergleiche man die Dauerhaftigkeit, welche die Eroberungen des Romanismus gehabt haben, wie sich aus dem römischen Kaiserreich heraus die lateinischen Nationen Westeuropas entwickeln, wie selbst ein so spät und oberflächlich romanisiertes Land wie Dakien seinen lateinischen Charakter bis auf den heutigen Tag behauptete. Der Unterschied erklärt sich daraus, daß Rom in weitem Umfang bäuerliche Kolonisten ansetzte, während die Griechen im Orient im wesentlichen nur in die Städte gingen, sowie als Offiziere und Beamte die herrschende Oberschicht bildeten. Daher fegte der erste beste, politische Mißerfolg die hellenische Kolonisation wieder weg, während der romanische, mit dem Boden verwachsene Bauer, sich nicht mehr verdrängen ließ. Aber warum haben die Römer so gründlich kolonisiert und die Griechen der hellenistischen Zeit so oberflächlich?

Aus dem einfachen Grund, daß Griechenland gar nicht so viele Menschen übrig hatte, um nach dem römischen System zu kolonisieren. Das römische Italien hatte zudem beschränktere Aufgaben zu lösen, erst sog es die Lombardei und Venetien auf, dann wurden Spanien und Südfrankreich lateinisch gemacht, und allmählich drang das Römertum weiter vor. Das griechische Volk dagegen gewann mit einem Schlage ein Riesenreich, dessen Hellenisierung so gut wie unmöglich war. Daß schon König Philipp den Eroberungskrieg in Asien geplant hat, steht fest. Aber es bleibt doch sehr zweifelhaft, ob er — der größte Staatsmann, den das griechische Volk hervorgebracht hat — bis nach Indien und Turkestan gegangen wäre. Kleinasien hätte sicher auch Philipp für das Griechentum erobern wollen; vielleicht hätte er auch die Perser vom Mittelmeer verdrängt, indem er in irgendeiner Form Syrien und Ägypten unter seine Autorität brachte: den Zug über den Euphrat möchte man ihm nicht zutrauen. In Kleinasien waren die Küsten bereits griechisch, und auch die Eingeborenen, wie die Karer, Lyder und Lykier, waren auf dem besten Wege sich zu hellenisieren. Wäre es möglich gewesen, all die hellenischen Volkssplitter, die sich unter und nach Alexander im ganzen Orient zerstreuten, in Kleinasien zu vereinigen, so wäre dieses Land in wenigen Generationen vollkommen griechisch geworden. Aber daneben hatte das griechische Volk noch eine andere Aufgabe, deren Lösung freilich nicht so glanzvoll war wie die Eroberung des Ostens: das wäre die Gewinnung und Besiedlung des Rumpfes der Balkanhalbinsel gewesen. Hier wie überall hatte König Philipp das Richtige erkannt und dessen Durchführung angebahnt. Das von ihm gegründete Philippopolis trägt noch heute seinen Namen und zeugt von der Absicht des Makedonen, das griechische Volks- und Sprachgebiet bis zum Balkangebirge auszudehnen. Es ist geradezu das Verhängnis der Griechen geworden, daß an dieser Aufgabe nicht weiter gearbeitet worden ist. Die Weltgeschichte hätte eine andere Wendung genommen, wenn etwa die Balkanhalbinsel — nebst dem westlichen Kleinasien — ein einheitliches Nationalgebiet geworden wäre, in der Art, wie sich das zuerst so vielsprachige Italien unter dem römischen Einfluß umgewandelt hat. Eben dadurch, daß Alexander, die gerade damals vorhandene militärische Überlegenheit Makedoniens voll ausnutzend, das griechische Weltreich gründete, hat er seinem Volke den Weg zur wirklichen nationalen Größe dauernd verbaut[1].

Diese Betrachtungen sollen weiter nichts darstellen als eine kleine Ergänzung zu Droysens trefflichem Werke, das hoffentlich auch in dieser Ausgabe der Wissenschaft und der Geschichte des Altertums neue Freunde werben wird.

Berlin.  Arthur Rosenberg.

 

 

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