Albrecht II.

Großherzog Johann Albrecht starb an einer furchtbaren Krankheit, die etwas Nacktes und Abstraktes hatte und eigentlich mit keinem anderen Namen als eben dem des Todes zu bezeichnen war. Es schien, als ob der Tod, seines Besitzrechtes sicher, in diesem Falle jede Maske und Erscheinung verschmähe und unmittelbar als er selbst, als die Auflösung an und für sich auf den Plan trete. Es handelte sich im wesentlichen um eine Zersetzung des Blutes, hervorgerufen durch innere Eiterungen, und eine tiefgreifende Operation, die von dem Direktor der Universitätsklinik, einem namhaften Chirurgen, vorgenommen wurde, konnte den fressenden Gang der Vernichtung nicht einmal verlangsamen. Es ging schnell zum Ende, und zwar um so schneller, als Johann Albrecht dem Tode wenig Widerstand leistete. Er gab Zeichen eines grenzenlosen Überdrusses und äußerte sich seinen Angehörigen und sogar den behandelnden Ärzten gegenüber wiederholt dahin, daß er »des Ganzen« – also wohl seines fürstlichen Daseins, seiner hohen und zur Schau gestellten Lebensführung – sterbensmüde sei. Seine Wangenzüge, diese beiden Furchen des Hochmuts und der Langeweile, prägten sich in seinen letzten Tagen auf entsetzlich übertriebene, wahrhaft groteske und grimassenhafte Weise aus, um sich erst im Tode wieder ein wenig zu glätten …

Des Großherzogs letzte Krankheit fiel in den Winter. Erbgroßherzog Albrecht, von seinem warmen und trockenen Aufenthaltsort abberufen, geriet in ein nasses Schneewetter, das seine Gesundheit schwer bedrohte. Sein Bruder Klaus Heinrich unterbrach seine Bildungsreise, die sich übrigens ohnedies ihrem Abschluß näherte, und kehrte mit Herrn von Braunbart-Schellendorf in großen Tagereisen aus den schönen Ländern des Südens in die Residenz zurück. Außer den beiden Prinzen-Söhnen weilten die Großherzogin Dorothea, die Prinzessinnen Katharina und Ditlinde, Prinz Lambert – ohne seine zierliche Gemahlin –, die behandelnden Ärzte und Kammerdiener Prahl am Sterbelager, während im Nebenzimmer die Hofstaaten und die Minister dienstlich versammelt waren. Wenn man den Beteuerungen der Dienerschaft glauben durfte, so hatte sich in diesen Wochen und Tagen das spukhafte Lärmen in der »Eulenkammer« außerordentlich verstärkt. Es sollte ein Rumpeln und schütterndes Poltern sein, das periodisch wiederkehrte und außerhalb des Gemaches nicht zu vernehmen war.

Johann Albrechts letzte Hoheitshandlung bestand darin, daß er dem Professor, der mit großer Meisterschaft die nutzlose Operation vorgenommen hatte, eigenhändig seine Ernennung zum Geheimrat überreichte. Er war furchtbar erschöpft, war »des Ganzen« müde, und sein Bewußtsein war auch in lichteren Augenblicken durchaus nicht mehr klar; aber er nahm den Akt mit aller Sorgfalt vor und machte eine Zeremonie daraus. Er ließ sich ein wenig aufrichten, verbesserte, die wächserne Hand schirmend über den Augen, die zufällige Aufstellung der Anwesenden, hieß seine Söhne sich zu beiden Seiten des Himmelbettes stellen – und während sein Geist bereits vagierte, sich auf unbekannten Abwegen befand, ordnete er mit mechanischer Kunst seine Miene zum Gnadenlächeln, um dem Professor, der nach einiger Abwesenheit ins Zimmer zurückkehrte, das Diplom einzuhändigen …

Ganz gegen das Ende, als die Zerstörung schon das Gehirn ergriffen hatte, machte der Großherzog einen Wunsch deutlich, der, kaum verstanden, auch eiligst erfüllt wurde, obgleich seine Erfüllung nichts bessern konnte. In dem Murmeln des Kranken kehrten gewisse Worte, scheinbar zusammenhanglos, beständig wieder. Er nannte mehrere Stoffe, Seide, Atlas und Brokat, erwähnte des Prinzen Klaus Heinrich, brauchte einen medizinischen Fachausdruck und ließ etwas von einem Orden, dem Albrechtskreuz dritter Klasse mit der Krone, vernehmen. Zwischendurch fing man ganz allgemeine Wendungen auf, die sich wahrscheinlich auf des Sterbenden fürstlichen Beruf bezogen und wie »außerordentliche Verpflichtung« und »bequeme Mehrzahl« lauteten; dann wiederholten sich die Stoffbezeichnungen, zu denen sich schließlich, mit stärkerer Stimme, das Wort »Sammet« gesellte. Und da begriff man, daß der Großherzog den Doktor Sammet zur Behandlung heranzuziehen wünsche, jenen Arzt, der vor zwanzig Jahren bei Klaus Heinrichs Geburt zufällig auf der Grimmburg zugegen gewesen war und nun seit langem in der Hauptstadt praktizierte. Der Doktor war freilich ein Kinderarzt, aber man berief ihn doch, und er kam: ziemlich ergraut bereits an den Schläfen, mit sorglos hängendem Schnurrbart, auf den seine Nase allzu flach abfiel, sauber rasiert übrigens und ein wenig wund davon an den Wangen. Seitwärts geneigten Kopfes, eine Hand an der Uhrkette und den Ellenbogen dicht am Oberkörper, prüfte er die Sachlage und begann sogleich, sich in tätiger Sanftmut um den hohen Kranken zu bemühen, worüber dieser in unzweideutiger Weise seine Befriedigung kundgab. So geschah es, daß Doktor Sammet dem Großherzog die letzten Injektionen verabfolgen, ihm mit stützender Hand den schweren Übergang erleichtern, vor den übrigen Ärzten ihm als Todeshelfer beistehen durfte – eine Auszeichnung, die bei jenen Herren wohl eine stille Gereiztheit weckte, anderseits aber zur Folge hatte, daß der Doktor kurze Zeit danach, als der wichtige Posten vakant ward, zum Direktor und Chefarzt des Dorotheen-Kinderhospitals ernannt wurde, in welcher Eigenschaft er später an der Entwicklung gewisser Dinge nicht ohne Anteil war.

So starb denn Johann Albrecht der Dritte, tat seinen letzten Seufzer in einer Winternacht, und das Alte Schloß war feierlich erleuchtet, während er verschied. Die strengen Furchen der Langeweile glätteten sich in seinem Gesicht, und jeder eigenen Anspannung überhoben, durfte er sich der Form überlassen, die zum letztenmal um ihn waltete, ihn trug, seine wächserne Hülle noch einmal zum Mittelpunkt und Gegenstand ihrer darstellerischen Bräuche machte … Herr von Bühl zu Bühl führte in voller Rüstigkeit die Oberleitung der Funeralien, die in Gegenwart vieler fürstlicher Gäste begangen wurden. Die düsteren Umständlichkeiten, diese unterschiedlichen Aufbahrungen und Überführungen, Leichenparaden, Einsegnungen und Gedächtnisfeiern am Katafalk, nahmen Tage in Anspruch, und acht Stunden lang war Johann Albrechts Leiche, inmitten einer Ehrenwache, die aus zwei Obersten, zwei Oberleutnants, zwei Feldwebeln, zwei Wachtmeistern, zwei Unteroffizieren und zwei Kammerherren bestand, dem Publikum zur Besichtigung ausgestellt. Dann endlich kam der Augenblick, da der Zinksarg aus der Altarnische der Hofkirche, wo er zwischen umflorten Kandelabern und mannshohen Kerzen paradiert hatte, von acht Lakaien in die Vorhalle gebracht, von acht Förstern in den Mahagonisarg gestellt, von acht Leibgrenadieren zum sechsfach bespannten und finster aufgeputzten Leichenwagen getragen wurde, der sich unter Kanonenschüssen und Glockengeläut nach dem Mausoleum in Bewegung setzte. Schwer von Nässe hingen die Fahnen von der Mitte ihrer Stangen herab. Obgleich es früh am Nachmittag war, brannten die Gaslaternen in den Straßen, die der Leichenkondukt zurückzulegen hatte. Zwischen traurigen Dekorationen war die Büste Johann Albrechts in den Schaufenstern ausgestellt, und die überall feilgebotenen Postkarten mit dem Bilde des dahingeschiedenen Repräsentanten wurden eifrig begehrt. Hinter den aufgereihten Truppen, den Turner- und Kriegervereinen, die die Ehrengasse freihielten, stand das Volk auf den Zehenspitzen im Schneebrei und blickte entblößten Hauptes auf den langsam vorüberziehenden Sarg, dem kranztragende Lakaien, Hofbeamte, die Träger der Insignien und der Hofprediger D. Wislizenus voranschritten, und dessen silbergestickte Decke Oberhofmarschall von Bühl, Oberhofjägermeister von Stieglitz, Generaladjutant Graf Schmettern und Hausminister von Knobelsdorff an den Zipfeln hielten. Aber zur Seite seines Bruders Klaus Heinrich, gleich hinter dem Leibpferd, das dem Leichenwagen nachgeführt wurde, und an der Spitze der übrigen Leidtragenden schritt Großherzog Albrecht der Zweite. Sein Kostüm, der hochragende steife Federbusch vorn an seinem Pelztschako, die Lackstulpenstiefel unter dem hellen faltigen Husarenüberrock mit dem Trauerflor, stand ihm schlecht. Er schritt behindert unter den Blicken der Menge, und seine Schulterblätter, ein wenig schiefstehend von Natur, verzogen sich im Gehen auf linkisch nervöse Art. Widerwille gegen den Zwang, bei dieser funebren Schaustellung als Erster mitwirken zu müssen, war in seinem blassen Gesicht zu lesen. Er blickte nicht auf im Schreiten und sog mit seiner kurzen, gerundeten Unterlippe an der oberen …

Diese Miene behielt er bei während der Kurialien des Regierungsantrittes, die übrigens mit aller Schonung vollzogen wurden. Der Großherzog unterzeichnete im Silbersaal der Schönen Zimmer vor den versammelten Ministern die Eidesurkunde und verlas im Thronsaal, vor dem geschwungenen Theatersessel unter dem Baldachin stehend, die Thronrede, die Herr von Knobelsdorff angefertigt hatte. Die wirtschaftliche Lage des Landes wurde darin mit Ernst und Zartsinn gestreift und die schöne Einhelligkeit gepriesen, die trotz aller Schwierigkeiten zwischen dem Fürsten und dem Lande herrsche – bei welcher Stelle ein höherer Funktionär, der wahrscheinlich mit seinem Avancement nicht zufrieden war, seinem Nachbar zugeflüstert haben sollte, die Einhelligkeit bestehe darin, daß der Fürst ebenso verschuldet sei wie das Land – ein scharfes Wort, das vielfach weitergetragen wurde und sogar in die gehässig gesinnte Presse gelangte … Schließlich brachte der Präsident des Landtags ein Hoch auf den Großherzog aus, ein Gottesdienst in der Hofkirche fand statt, und dabei hatte es sein Bewenden. Albrecht unterschrieb noch eine Verordnung, kraft welcher eine Reihe von Geld- und Gefängnisstrafen, die für harmlosere Straftaten, hauptsächlich Forstfrevels halber, verhängt worden waren, in Gnaden erlassen wurden. Der feierliche Umzug durch die Stadt und die Begrüßung im Rathause unterblieben ganz, da der Großherzog sich allzu ermüdet fühlte. – Er wurde, Rittmeister bisher seiner militärischen Charge nach, gelegentlich seiner Thronbesteigung sofort zum Obersten à la suite seines Husarenregimentes befördert, legte die Uniform aber fast niemals an und hielt sich seine soldatische Umgebung so fern als möglich. Er nahm, vielleicht aus Pietät, keinerlei Personalwechsel vor, nicht unter den Hofchargen und auch nicht unter den Ministern.

Das Publikum sah ihn selten. Seine stolze und schamhafte Abneigung, sich zu zeigen, sich vorzuführen, sich grüßen zu lassen, trat vom ersten Tage an in einem Grade hervor, der die Öffentlichkeit betrübte. Er erschien niemals in der großen Loge des Hoftheaters. Er beteiligte sich niemals an dem Korso im Stadtgarten. Wenn er im Alten Schloß residierte, so ließ er sich in geschlossenem Wagen in eine entlegene und menschenleere Gegend der Anlagen führen, wo er ausstieg, um sich ein wenig Bewegung zu machen; und im Sommer zu Hollerbrunn trat er nur ausnahmsweise aus den Heckengängen des Parkes hervor.

Wurde das Volk seiner ansichtig, am Albrechtstor etwa, wenn er, gehüllt in den schweren Pelz, den schon sein Vater getragen hatte und auf dessen dickem Kragen nun sein zartes Haupt ruhte, sein Coupé bestieg, so richteten sich schüchterne Blicke auf ihn, und die Rufe blieben zag und ohne das rechte Zutrauen. Denn die geringen Leute fühlten wohl, daß sie diesen Fürsten nicht hochleben lassen und sich selbst damit meinen konnten. Sie sahen ihn an und erkannten sich nicht in ihm wieder, dessen reine Vornehmheit kein Merkmal ihres besonderen Schlages trug. Sie waren es anders gewohnt. Stand nicht auf dem Albrechtsplatz noch heutigestags ein Dienstmann, der mit seinen zu hoch sitzenden Wangenknochen und seinem grauen Backenbart auf derbe und niedrige Art genau aussah, wie der verstorbene Großherzog ausgesehen hatte? Und traf man nicht des Prinzen Klaus Heinrichs Züge auf dieselbe Weise im niederen Volke wieder? Es war nicht so mit seinem Bruder. Das Volk fand in ihm nicht sein erhöhtes Wunschbild, in dessen Anblick es hochleben und seiner selbst hätte froh werden können. Seine Hoheit – seine unzweifelhafte Hoheit! – war ein Adel von allgemeiner Natur, überheimatlich und ohne das trauliche Gepräge der Echtheit. Auch wußte er das; und das Bewußtsein seiner Hoheit zusammen mit dem eines Mangels an volkstümlicher Echtheit, das mochte wohl seine Scheu und seinen Hochmut ausmachen. Schon damals fing er an, die Repräsentation nach Möglichkeit auf den Prinzen Klaus Heinrich zu übertragen. Er schickte ihn zur Brunnenenthüllung nach Immenstadt und zum historischen Stadtfest nach Butterburg. Ja, seine Verachtung jeder Darstellung seiner fürstlichen Person ging so weit, daß Herr von Knobelsdorff ihn nur mit Mühe und Not überredete, den feierlichen Empfang der Präsidenten der beiden Kammern im Thronsaale selber abzuhalten und nicht auch diese Schauhandlung »aus Gesundheitsrücksichten«, wie er beabsichtigte, an seinen jüngeren Bruder abzutreten.

Albrecht der Zweite lebte recht einsam im Alten Schloß; der Gang der Dinge brachte das mit sich. Erstens hielt seit dem Tode Johann Albrechts Prinz Klaus Heinrich selbständig Hof. Das war eine Forderung der Etikette, und so hatte man ihm die »Eremitage« zum Wohnsitz ersehen, jenes Empireschlößchen am Rande der nördlichen Vorstadt, das so verschwiegen und anmutig-streng, aber lange unbewohnt und vernachlässigt, inmitten seines wuchernden Parkes, der in den Stadtgarten überging, zu seinem kleinen, von Schlamm starrenden Teich hinüberblickte. Schon um die Zeit, da Albrecht mündig geworden war, hatte man der »Eremitage« die notwendigste Auffrischung zuteil werden lassen und sie der Form halber zum Erbgroßherzoglichen Palais bestimmt; aber da Albrecht sich immer von seinem warmen und trockenen Aufenthaltsort im Sommer direkt nach Hollerbrunn begeben hatte, so hatte er niemals von seiner Residenz Gebrauch gemacht …

Klaus Heinrich wohnte dort ohne überschwenglichen Aufwand mit einem Hofchef, der dem Haushalte vorstand, einem Freiherrn von Schulenburg-Tressen, Neffen der Oberhofmeisterin. Außer dem Kammerdiener Neumann hatte er noch zwei Lakaien zur täglichen Aufwartung; den Jäger, dessen er zu zeremoniellen Ausfahrten bedurfte, lieh ihm der Großherzogliche Hof. Ein Kutscher und ein paar Knechte in roten Westen versahen Remise und Stall, deren Bestand sich auf eine Chaise, ein Kupee, ein Dogcart, zwei Reit- und zwei Wagenpferde belief. Ein Gärtner besorgte mit Hilfe zweier Burschen den Park und den Garten, und eine Köchin nebst ihrer Küchenmagd sowie zwei Zimmermädchen bildeten das weibliche Personal auf Schloß »Eremitage«. Hofmarschall von Schulenburgs Sache war es, für seinen jungen Herrn mit der Apanage hauszuhalten, die der Landtag nach Albrechts Thronbesteigung dem Bruder des Großherzogs in einer bedenkenvollen Sitzung bewilligt hatte. Sie betrug fünfzigtausend Mark. Denn die Summe von achtzigtausend, welche ursprünglich gefordert worden, hatte keinerlei Aussicht gehabt, im Landtage durchzugehen, und so hatte man in Klaus Heinrichs Namen beizeiten einen weisen und großmütigen Verzicht getan, der im Lande den besten Eindruck gemacht hatte. – Jeden Winter ließ Herr von Schulenburg das Eis des Teiches veräußern. Zweimal im Sommer ließ er die Wiesen des Parkes mähen und das Heu verkaufen. Nach dem Mähen sahen die Wiesenflächen fast aus wie englischer Rasen.

Ferner residierte Dorothea, die Großherzogin-Mutter, nicht mehr im Alten Schloß, und mit ihrer Zurückgezogenheit hatte es eine traurige und unheimliche Bewandtnis. Auch von dieser Fürstin nämlich, die der gereiste und bewanderte Herr von Knobelsdorff gelegentlich als eine der schönsten Frauen bezeichnet hatte, die er je gesehen, auch von ihr, deren festlicher Anblick Glück, Herzenserhebung und Lebehochs bewirkt hatte, wann immer sie sich den sehnsüchtigen Blicken bedrückter Alltagsmenschen dargestellt, auch von ihr hatte die Zeit ihren Tribut gefordert. Dorothea war gealtert, ihre kühl und streng gepflegte, berühmte, bejubelte Vollkommenheit war während der letzten Jahre so schnell und unaufhaltsam verwelkt, daß die Frau in ihrem Innern nicht Schritt mit dieser Wandlung zu halten vermochte. Nichts, keine Kunst, kein Mittel, auch die lästigen und widerlichen nicht, mit denen sie den Verfall bekämpft, hatte zu hindern vermocht, daß der süße Glanz ihrer tiefblauen Augen erlosch, daß Ringe von schlaffer, gelblicher Haut sich darunter bildeten, daß die wundervollen kleinen Gruben in ihren Wangen sich zu Furchen höhlten und ihr stolzer und herber Mund nun so scharf und mager erschien. Da aber ihr Herz streng gewesen war wie ihre Schönheit, und auf nichts als diese Schönheit bedacht, da ihre Schönheit ihre Seele gewesen war und sie nichts gewollt und geliebt hatte als die erhebende Wirkung dieser Schönheit, während ihr eigenes Herz nicht hochschlug, keineswegs, für nichts und für niemanden, so war sie nun ratlos und sehr verarmt, konnte innerlich den Übergang zu dem neuen Zustand nicht finden und nahm Schaden an ihrem Gemüte. Generalarzt Eschrich äußerte noch etwas von seelischer Erschütterung infolge eines ungewöhnlich raschen Rückbildungprozesses und hatte zweifellos auf seine Art recht mit dieser Deutung. Die traurige Tatsache war jedenfalls, daß Dorothea schon während der letzten Lebensjahre ihres Gemahls Merkmale tiefer geistiger Trübung und Verstörung gezeigt hatte. Sie ward helligkeitsscheu, ordnete an, daß bei den Donnerstagkonzerten im Marmorsaal alle Lichter rot umkleidet wurden, und bekam Zufälle, als sie nicht durchzusetzen vermochte, daß diese Maßregel auch auf alle übrigen Festlichkeiten, den Hofball, den intimen Ball, das Diner, die große Cour ausgedehnt werde, da die Sonnenuntergangsstimmung im Marmorsaal ohnedies viel Anlaß zum Gespött gegeben hatte. Sie verbrachte ganze Tage vor ihren Spiegeln, und man beobachtete, wie sie diejenigen mit den Händen liebkoste, die aus irgendeinem Grunde ihre Erscheinung in günstigerem Lichte wiedergaben. Dann wieder ließ sie alle Spiegel aus ihren Zimmern entfernen, ja, die in die Wände eingelassenen verkleiden, legte sich ins Bett und rief nach dem Tode. Eines Tages fand Freifrau von Schulenburg sie völlig zerstört und entzündet vom Weinen im Saal der zwölf Monate vor dem großen Porträt, das sie auf der Höhe ihrer Schönheit darstellte … Gleichzeitig begann eine krankhafte Menschenfurcht ihrer Herr zu werden, und für Hof und Volk war es eine Pein, zu bemerken, wie die Haltung dieser ehemaligen Göttin an Sicherheit verlor, ihr Auftreten seltsam linkisch wurde und ein elender Ausdruck ihren Blick befing. Schließlich verbarg sie sich ganz, und bei dem letzten Hofball, dem er angewohnt, hatte Johann Albrecht statt seiner »unpäßlichen« Gemahlin seine Schwester Katharina geführt. Sein Tod war insofern eine Erlösung für Dorothea, als er sie aller Repräsentationspflichten enthob. Sie wählte als Witwensitz Schloß Segenhaus, ein klösterlich anmutendes altes Jagdschloß, das, anderthalb Stunden Wagenfahrt von der Residenz entfernt, inmitten seines ernsten Parkes lag und von einem frommen Jagdherrn mit religiösen und weidmännischen Emblemen in seltsamem Durcheinander geschmückt war. Dort lebte sie, verdüstert und wunderlich, und Ausflügler konnten manchmal von weitem beobachten, wie sie an der Seite der Freifrau von Schulenburg-Tressen im Park promenierte und mit gnädiger Neigung die Alleebäume zu beiden Seiten grüßte …

Was aber endlich Prinzessin Ditlinde betraf, so hatte sie sich, zwanzigjährig, ein Jahr nach dem Tode ihres Vaters, vermählt. Sie reichte ihre Hand einem Fürsten aus mediatisiertem Hause, dem Prinzen Philipp zu Ried-Hohenried, einem nicht mehr jugendlichen, aber wohlerhaltenen, kunstsinnigen, kleinen Herrn von vorgeschrittenen Anschauungen, der sich längere Zeit artig um sie bemüht, seine Sache ganz persönlich betrieben und der Prinzessin bei einem Wohltätigkeitsfest auf gut bürgerliche Art Herz und Hand angetragen hatte. Daß diese Verbindung im Lande stürmischen Jubel hervorrief, kann nicht gesagt werden. Sie ward mit Gelassenheit hingenommen, sie enttäuschte wohl gar stolzere Hoffnungen, die man im stillen für Johann Albrechts Tochter gehegt hatte, und die Krittler fanden, wenn man diese Heirat nicht geradezu unebenbürtig nennen müsse, so sei das alles. Daran war richtig, daß Ditlinde sich unzweifelhaft aus ihrer Hoheitssphäre in eine ungebundenere und zivilere Lebensgegend hinabließ, als sie – übrigens völlig unbeeinflußt von außen und aus freier Neigung – dem Fürsten ihre Hand reichte. Dieser Standesherr war nicht nur ein Liebhaber und Sammler von Ölgemälden, sondern auch Geschäftsmann und Gewerbetreibender in großem Maßstabe. Das Dynastengeschlecht war seit hundert Jahren der Landeshoheit entkleidet, aber Philipp war der erste seines Hauses, der seinen Privatstand wirtschaftlich ungezwungen zu nützen sich entschlossen hatte. Nachdem er seine Jugend auf Reisen verbracht, hatte er nach einer Tätigkeit ausgeschaut, die ihm innere Befriedigung gewähren, vor allem aber (was nötig geworden) seine Einkünfte vermehren würde. So ward er zum Unternehmer, errichtete Meiereien, Bierbrauereien, eine Zuckerfabrik, mehrere Sägemühlen auf seinen Gütern und fing namentlich an, die ausgebreiteten Torflager, die dazu gehörten, planmäßig auszubeuten. Da er all diesen Betrieben mit Sachkenntnis und umsichtigem Geschäftsgeiste vorstand, so begannen sie bald in Flor zu kommen und warfen Summen ab, die, wenn ihr Ursprung nicht sehr fürstlich war, ihm jedenfalls eine fürstliche Lebensführung erst eigentlich ermöglichten. Andrerseits mußte man den Krittlern die Frage vorlegen, was für einer Partie sie sich nüchternerweise für die Prinzessin hatten versehen können. Ditlinde, die ihrem Gatten beinahe nichts mitbrachte als einen unerschöpflichen Schatz von Leibwäsche, darunter viele Dutzende gänzlich veralteter und unnützer Gegenstände, wie Nachthauben und Halstücher, die aber ehrwürdiger Überlieferung nach zur Brautausstattung gehörten – sie gelangte durch diese Heirat in behaglich reiche und heitere Verhältnisse, wie sie sie von Hause aus schlechterdings nicht gewohnt gewesen war, wobei die Empfindungen ihres Herzens noch nicht einmal in Anschlag gebracht sind. Auch tat sie den Schritt ins Privatleben mit offenbarer Genugtuung und Entschlossenheit und behielt von den Äußerlichkeiten der Hoheit nichts als den Titel bei. Sie blieb in freundschaftlichem Verkehr mit ihren Damen, nahm aber dem Verhältnis alles Dienstliche und vermied es, ihrem Hauswesen den Charakter eines Hofes zu geben. Das mochte wundernehmen, bei einer Grimmburgerin überhaupt und bei Ditlinden im besonderen, mußte aber doch wohl ihren Bedürfnissen entsprechen. Das Paar verbrachte den Sommer auf den fürstlichen Landgütern, den Winter in der Residenz in dem schönen Palais an der Albrechtsstraße, das Philipp zu Ried erworben hatte; und hier war es, nicht im Alten Schloß, wo die großherzoglichen Geschwister – Klaus Heinrich und Ditlind, zuweilen auch Albrecht – sich dann und wann zu vertraulicher Aussprache zusammenfanden.

So geschah es, daß eines Tages zu Anfang Herbst, nicht ganz zwei Jahre nach dem Tode Johann Albrechts, der »Eilbote«, wohlunterrichtet wie er war, noch in seiner Abendausgabe die Nachricht brachte, heute nachmittag hätten Seine Königliche Hoheit der Großherzog und Seine Großherzogliche Hoheit Prinz Klaus Heinrich bei Ihrer Großherzoglichen Hoheit der Fürstin zu Ried-Hohenried den Tee genommen. Nur diese Notiz. Es waren aber an jenem Nachmittag zwischen den Geschwistern mehrere für die Zukunft belangreiche Dinge besprochen worden.

Klaus Heinrich verließ gegen fünf Uhr die Eremitage. Da sonniges Wetter herrschte, hatte er die Chaise bestellt, und das offene, braun lackierte Gefährt, blank gewaschen, wenn auch nicht sehr neu und modisch von Ansehen, näherte sich dreiviertel fünf Uhr, vom Stalle kommend, der mit seinem gepflasterten Hof am rechten Flügel der Wirtschaftsgebäude gelegen war, im Schritt auf dem breiten Kiesweg dem Schlößchen. Die Wirtschaftsgebäude, ockerfarbene, altväterische Erdgeschoß-Baulichkeiten, bildeten mit dem weißen und schlichten Herrenhause (wenn auch in einiger Entfernung davon) einen ziemlich langen Trakt, dessen in regelmäßigen Abständen mit Lorbeerbäumen gezierte Front dem schlammigen Teich und dem öffentlichen Teile des Parks zugewandt war. Der vordere Teil des Besitzes nämlich, der in den Stadtgarten überging, war dem Verkehr, Fußgängern und leichtem Fuhrwerk, geöffnet, und eingefriedigt nur der ein wenig ansteigende Blumengarten, auf dessen Höhe das Schloß lag, sowie der rückwärts gelegene und arg verwilderte Parkgrund, der durch Hecke und Zaun gegen wüste, mit Schutt bedeckte Vorstadtwiesen abgegrenzt war. – Der Wagen also fuhr auf dem Wege zwischen Teich und Wirtschaftsgebäude hin, lenkte durch die hohe, mit zwei ehemals vergoldeten Laternen geschmückte Gartenpforte, legte die Auffahrt zurück und wartete vor der kleinen, steifen, von Lorbeerbäumen flankierten Terrasse, die zum Gartenzimmer emporführte.

Klaus Heinrich kam wenige Minuten vor fünf Uhr heraus. Er trug wie gewöhnlich die festsitzende Uniform eines Oberleutnants der Leibgrenadiere und hatte den Säbelgriff über den Arm gehängt. Neumann, in violettem Frack, dessen Ärmel zu kurz waren, lief vor ihm die Stufen hinab und verpackte mit seinen roten Barbierhänden den zusammengelegten grauen Mantel seines Herrn im Wagen. Dann, während der Kutscher, die Hand am Rosettenhut, sich ein wenig seitwärts vom Bock neigte, ordnete der Kammerdiener die leichte Wagendecke über Klaus Heinrichs Knien und trat mit stummer Verbeugung zurück. Die Pferde zogen an.

Draußen vor der Gartenpforte hatten sich einige Spaziergänger aufgestellt. Sie grüßten, führten, mit emporgezogenen Brauen lächelnd, ihre Hüte tief hinab, und Klaus Heinrich dankte ihnen, indem er seine weiß bekleidete Rechte an den Mützenschirm legte und mehrmals lebhaft den Kopf neigte.

Es ging am Rande unbebauten Geländes eine Birkenallee entlang, deren Laub schon vergilbte, und dann durch die Vorstadt, zwischen ärmlichen Wohnungen hin, auf ungepflasterten Straßen, wo Volkskinder einen Augenblick Tonnenreifen und Kreisel ruhen ließen, um dem Gefährt mit grüblerischen Augen nachzusehen. Einige schrien Hoch und liefen, den Kopf gegen Klaus Heinrich gewandt, ein Stückchen neben den Rädern her. Übrigens hätte der Wagen auch den Weg über den Quellengarten nehmen können; aber der durch die Vorstadt war kürzer, und die Zeit drängte. Ditlinde war von empfindlicher Ordnungsliebe und leicht gereizt, wenn man durch Unpünktlichkeit den Gang ihres Hauswesens störte.

Dort war das Dorotheen-Kinderhospital, das Überbeins Freund Doktor Sammet leitete; Klaus Heinrich fuhr daran vorüber. Und dann verließ sein Wagen die volkstümliche Gegend und gelangte in die Gartenstraße, eine stattliche, mit Bäumen bepflanzte Avenue, an welcher die Häuser und Villen begüterter Bürger lagen, und deren Trambahnlinie den Quellengarten mit dem Zentrum der Stadt verband. Hier herrschte ziemlich lebhafter Verkehr, und Klaus Heinrich war angestrengt beschäftigt, die Grüße zu erwidern, die man ihm darbrachte. Zivilisten zogen die Hüte und blickten von unten, Offiziere, zu Pferd und zu Fuß, erwiesen Honneur, Schutzmänner machten Front, und Klaus Heinrich in seiner Wagenecke führte die Hand zum Mützenschirm und dankte nach beiden Seiten mit jenem von Jugend auf geübten Nicken und Lächeln, das bestimmt war, die Leute in ihrer Teilnahme an seiner festlichen Persönlichkeit zu bestärken … Er hatte eine ganz eigentümliche Art, im Wagen zu sitzen – nicht träg und bequem in den Kissen zu lehnen, sondern beim Fahren auf ähnliche Weise beteiligt zu sein wie beim Reiten, indem er, die Hände auf dem Säbelgriff gekreuzt und einen Fuß etwas vorgestellt, die Unebenheiten des Bodens gleichsam »nahm«, sich tätig den Bewegungen des schlecht federnden Wagens anpaßte …

Die Chaise fuhr über den Albrechtsplatz, ließ das Alte Schloß mit der präsentierenden Doppelwache zur Rechten liegen, verfolgte die Albrechtsstraße in der Richtung gegen die Kaserne der Leibgrenadiere und rollte zur Linken in den Hof des Fürstlich Riedschen Palais. Es war ein Bau von intimen Verhältnissen, im Zopfstil errichtet, mit einem geschwungenen Giebel über dem Hauptportal, umschnörkelten oeils-de-boeuf im Zwischengeschoß, hohen Balkonfenstern in der Beletage und einer zierlichen cour d'honneur, die von den beiden nur einstöckigen Seitenflügeln gebildet wurde und gegen die Straße durch ein gebogenes Gatter abgeschlossen war, auf dessen Pfeilern steinerne Putten spielten. Aber die innere Ausstattung des Schlosses war im Gegensatz zu dem geschichtlichen Stil seines Äußeren durchaus in einem neuzeitlichen und behaglich-bürgerlichen Geschmack gehalten.

Ditlinde empfing ihren Bruder in einem großen Salon des ersten Stockwerks mit mehreren Gruppen geschweifter Causeusen in blaßgrüner Seide, dessen hinteres Viertel, durch schlanke Pfeiler gegen den Hauptteil abgegrenzt, ganz und gar mit Palmen, Blumenstöcken in Metallkübeln und farbig prangenden Blumentischen angefüllt war.

»Guten Tag, Klaus Heinrich«, sagte die Fürstin. Sie war zart und schlank, und üppig war nur ihr aschblondes Haar, das sich ehemals gleich goldenen Widderhörnern um ihre Ohren gelegt hatte und nun in dicken Flechten über ihrem herzförmigen Antlitz mit den Grimmburger Wangenknochen lastete. Sie trug ein Hauskleid aus weichem, blaugrauem Stoff mit einem spitz ausgeschnittenen, brusttuchartigen weißen Spitzenkragen, der am Gürtel mit einer altmodischen ovalen Brosche zusammengehalten war. Die feine Haut ihres Gesichtes ließ da und dort, an den Schläfen, auf der Stirn, in den Winkeln ihrer sanft und kühl blickenden blauen Augen, bläuliche Adern und Schatten durchscheinen. Es fing an, sichtbar zu werden, daß sie guter Hoffnung war.

»Guten Tag, Ditlinde, mit deinen Blumen!« antwortete Klaus Heinrich, indem er sich mit zusammengezogenen Absätzen über ihre kleine, weiße, ein wenig zu breite Hand beugte. »Wie es duftet bei dir! Und da drinnen ist auch alles voll, wie ich sehe.«

»Ja,« sagte sie, »die Blumen hab' ich nun einmal gern. Ich habe mir immer gewünscht, unter recht vielen Blumen wohnen zu können, lebenden, duftenden Blumen, die ich warten könnte – so etwas wie ein heimlicher Herzenswunsch war es, Klaus Heinrich, und eigentlich könnt' ich sagen, daß ich mich dazu verheiratet habe, denn im Alten Schloß, da gab's keine Blumen, wie du weißt … Das Alte Schloß und Blumen! Da hätten wir lange stöbern können, meine ich. Rattenfallen und solches Zeug, jawohl. Und genau besehen war das Ganze wie eine abgeschaffte Rattenfalle, so staubig und schrecklich … bewahre …«

»Aber der Rosenstock, Ditlinde.«

»Ja, großer Gott – ein Rosenstock. Und der steht im Reisebuch, weil seine Rosen nach Moder duften! Und dann steht da, daß sie eines Tages ganz natürlich und gut duften sollen wie andere Rosen. Aber das kann ich mir gar nicht denken.«

»Du wirst nun bald«, sagte er und sah sie lächelnd an, »etwas noch Besseres zu warten haben, kleine Ditlinde, als deine Blumen.«

»Ja,« sagte sie und errötete rasch und schwach, »ja, Klaus Heinrich, das kann ich mir nun freilich auch nicht denken. Und doch wird es sein, wenn es Gott gefällt. Aber komm herein. Wir wollen nun wieder einmal beieinander sitzen …«

Das Zimmer, auf dessen Schwelle sie geplaudert hatten, war klein im Verhältnis zu seiner Höhe, mit einem graublauen Teppich versehen und ausgestattet mit anmutig geformten und silbergrau lackierten Möbeln, deren Sitze blasse Seidenbezüge zeigten. Ein Lüster aus milchigem Porzellan hing von dem weiß umschnörkelten Mittelpunkt der Decke herab, und die Wände waren mit Ölbildern von verschiedener Größe geschmückt, Erwerbungen des Fürsten Philipp, lichterfüllten Studien im neuen Geschmack, die weiße Ziegen in der Sonne, Federvieh in der Sonne, besonnte Wiesen und bäuerliche Menschen mit blinzelnden, von der Sonne gesprenkelten Gesichtern zur Anschauung brachten. Der dünnbeinige Damensekretär beim weiß verhangenen Fenster war bedeckt mit hundert peinlich geordneten Sächelchen, Nippes, Schreibutensilien und mehreren zierlichen Notizblocks – denn die Fürstin war gewohnt, sich über alle ihre Pflichten und Absichten sorgfältige und übersichtliche Notizen zu machen –, vorm Tintenfaß lag offen ein Wirtschaftsbuch, daran Ditlinde augenscheinlich soeben gearbeitet hatte, und neben dem Schreibtisch war an der Wand ein kleiner, mit seidenen Schleifen verzierter Abreißkalender befestigt, unter dessen gedruckter Tagesangabe der Bleistiftvermerk zu lesen war: »5 Uhr: meine Brüder«. Gegenüber der weißen Flügeltür zum Empfangssalon war zwischen der Sofabank und einem Halbkreis von Stühlen der ovale Tisch mit zartem Damast und einem blauseidenen Läufer gedeckt; das blumige Teegeschirr, ein Aufsatz mit Konfekt, längliche Schalen mit Zuckergebäck und winzigen Butterbrötchen waren in ebenmäßiger Anordnung darauf verteilt, und seitwärts dampfte auf einem Glastischchen über seiner Spiritusflamme der silberne Teekessel. Aber überall, in den Vasen auf dem Schreibtisch, dem Teetisch, dem Spiegeltisch, dem Glasschrank voll Porzellanfiguretten, dem Tischchen neben der weißen Chaiselongue, waren Blumen, und ein Blumentisch voller Topfgewächse stand zum Überfluß auch hier vor dem Fenster.

Dies Zimmer, abseits und im Winkel zu der Flucht der Empfangsräume gelegen, war Ditlindens Kabinett, ihr Boudoir, der Raum, in dem sie ganz enge Nachmittagsempfänge gab und eigenhändig den Tee zu bereiten pflegte. Klaus Heinrich sah ihr zu, wie sie die Kanne mit heißem Wasser spülte und mit einem silbernen Löffelchen Tee hineinschüttete.

»Und Albrecht … wird er kommen?« fragte er mit unwillkürlich gedämpfter Stimme …

»Ich hoffe es«, sagte sie, indem sie sich aufmerksam über die kristallene Teebüchse beugte, wie um nichts zu verschütten (und auch er vermied es, sie anzusehen). »Ich habe ihn natürlich gebeten, Klaus Heinrich, aber du weißt, er kann sich nicht binden. Es hängt von seinem Befinden ab, ob er kommt … Ich mache nun erst einmal unsern Tee, denn Albrecht bekommt seine Milch … Übrigens kann es sein, daß auch Jettchen heute ein bißchen vorspricht. Es wird dich freuen, sie wiederzusehen. Das lebhafte Ding weiß immer so viel zu erzählen …«

Mit »Jettchen« war ein Fräulein von Isenschnibbe gemeint, der Fürstin vertraute Dame und Freundin. Sie standen seit Kindestagen auf du und du.

»Und immer gerüstet?« sagte Ditlinde, indem sie den gefüllten Teetopf auf den Untersatz stellte und ihren Bruder betrachtete … »Immer in Uniform, Klaus Heinrich?«

Er stand mit geschlossenen Absätzen und rieb seine linke Hand, die an Kälte litt, in der Höhe der Brust mit der Rechten.

»Ja, Ditlinde, ich habe es gern so, es ist mir lieber. Es sitzt so fest, weißt du, und man ist angezogen. Außerdem ist es billiger, denn eine ordentliche Zivilgarderobe läuft, glaube ich, schrecklich ins Geld, und Schulenburg klagt ohnedies beständig, daß alles so teuer wird. So komm ich mit zwei, drei Röcken aus und kann mich mit Ehren sogar bei meinen reichen Verwandten sehen lassen …«

»Reiche Verwandte!« lachte Ditlinde. »Ja, damit hat es noch gute Weile, Klaus Heinrich!«

Sie setzten sich an den Teetisch, Ditlinde auf die Sofabank, Klaus Heinrich auf einen Stuhl gegenüber dem Fenster.

»Reiche Verwandte!« wiederholte sie, und man sah, wie der Gegenstand sie erwärmte. »Nein, weit gefehlt, wie sollten wir reich sein, wo doch das Barvermögen gering ist und alles in den Unternehmungen steckt, Klaus Heinrich. Und die sind jung und im Werden, sind allesamt noch im Wachstum begriffen, wie mein guter Philipp sagt, und werden wohl erst unsern Nachkommen die vollen Früchte tragen. Aber es geht vorwärts, so viel ist wahr, und ich halte Ordnung in der Wirtschaft …«

»Ja, das tust du, Ditlinde, Ordnung hältst du!«

»… halte Ordnung und schreibe alles auf und passe auf die Leute, und bei allem Aufwand, den man der Welt schuldet, bringt man alljährlich was Ansehnliches auf die Seite und denkt an die Kinder. Und mein guter Philipp … Er läßt dich grüßen, Klaus Heinrich, ich vergaß das, er bedauert herzlich, heute nicht anwesend sein zu können … Da sind wir nun kaum von Hohenried zurück, und er ist schon wieder unterwegs, in Geschäften, auf den Gütern – so klein und zart von Natur, wie er ist, aber wenn es um seinen Torf und seine Sägemühlen geht, so bekommt er rote Backen, und er sagt selbst, daß er viel gesünder geworden ist, seitdem er so viel zu tun hat …«

»Sagt er das?« fragte Klaus Heinrich, und in seine Augen kam etwas Trübes, während er geradeaus über den Blumentisch hin auf das helle Fenster blickte … »Ja, ich kann es mir ganz gut denken, daß es gewissermaßen anregend wirken muß, so recht tüchtig beschäftigt zu sein. Bei mir im Park sind nun auch wieder die Wiesen gemäht, zum zweitenmal dieses Jahr, und es macht mir Spaß, zu sehen, wie das Heu zu regelrechten Hügeln aufgebaut wird, mit einem Stock mitten durch, daß es aussieht wie ein Lager von kleinen Indianerhütten, oder so ähnlich, und dann wird Schulenburg es verkaufen. Aber das ist natürlich nicht zu vergleichen …«

»Ach, du!« sagte Ditlinde und drückte das Kinn auf die Brust. »Mit dir ist es doch etwas anderes, Klaus Heinrich! Der nächste am Thron! Du bist doch zu anderen Dingen berufen, sollte ich denken. Bewahre! Freu' du dich deiner Beliebtheit bei den Leuten …«

Sie schwiegen eine Weile.

»Und du, Ditlinde,« sagte er dann, »nicht wahr, dir geht es ebenfalls gut und besser als früher, da müßt' ich mich täuschen. Ich sage nicht, daß du rote Backen bekommen hast, wie Philipp von seinem Torf; ein bißchen durchsichtig warst du ja immer und bist du geblieben. Aber du hast einen frischen Ausdruck, wie? Ich habe noch nie gefragt, seit du verheiratet bist, aber ich glaube, man kann getrost sein in Hinsicht auf dich.«

Sie saß in friedlicher Haltung, die Arme leicht unter der Brust verschränkt.

»Ja,« sagte sie, »mir ist wohl, Klaus Heinrich, du hast recht gesehen, und das wäre Undank, wollt' ich mich nicht zu meinem Glücke bekennen. Siehst du, ich weiß sehr gut, daß manche Leute im Land enttäuscht sind von meiner Heirat und sagen, ich hätte mich vertan und sei hinabgestiegen und was noch alles. Und solche Leute sind gar nicht weit zu suchen, denn Bruder Albrecht, das weißt du so gut wie ich, im Herzen verachtet er meinen guten Philipp und mich dazu und kann ihn nicht leiden und nennt ihn bei sich einen Händler und Bürgersmann. Aber das kann mich nicht kümmern, denn ich habe es gewollt und habe Philipps Hand genommen – ergriffen würd' ich sagen, wenn es nicht so wild klänge –, habe sie genommen, weil sie warm und gut war und sich bot, mich aus dem Alten Schlosse herauszuführen. Denn wenn ich daran zurückdenke, an das Alte Schloß und das Leben darin, wie ich es ohne den guten Philipp wohl immer fortgeführt hätte, dann graust mir, Klaus Heinrich, und ich fühle, daß ich es nicht ertragen hätte und wirr und wunderlich geworden wäre wie die arme Mama. Ich bin ein bißchen zart von Natur, wie du weißt, ich wäre ganz einfach zugrunde gegangen, in so viel Öde und Traurigkeit, und als der gute Philipp kam, da dacht' ich: das ist deine Rettung. Und wenn die Leute sagen, daß ich eine schlechte Prinzessin bin, weil ich gewissermaßen abgedankt habe und hierhergeflüchtet bin, wo es ein bißchen wärmer und freundlicher ist, und wenn sie sagen, daß es mir an Würdegefühl oder Hoheitsbewußtsein, oder wie sie es nennen, gebricht, dann sind sie dumm und unwissend, Klaus Heinrich, denn ich habe zuviel, ich habe im Gegenteile zuviel davon, das ist die Sache, sonst hätte das Alte Schloß mir nicht solche Angst gemacht, und das sollte Albrecht verstehen können, denn er hat auch zuviel davon auf seine Art – wir Grimmburger haben alle zuviel davon, und darum sieht es zuweilen aus, als hätten wir zuwenig. Und manchmal, wenn Philipp unterwegs ist, so wie jetzt, und ich hier sitze, unter meinen Blumen und Philipps Bildern mit all ihrer Sonne – nur gut, daß es gemalte Sonne ist, denn bewahre! sonst müßte man Schutzvorkehrungen treffen – und alles ist ordentlich und nett, und ich denke an das Bessere, wie du es nennst, das ich nun bald zu warten haben werde, dann komme ich mir vor wie die kleine Meernixe in dem Märchen, das Madame aus der Schweiz uns vorlas, wenn du dich erinnerst – die eines Menschen Frau wurde und Beine erhielt statt ihres Fischschwanzes … Ich weiß nicht, ob du mich verstehst …«

»O ja, Ditlinde, doch, ich verstehe dich ausgezeichnet. Und ich bin herzlich froh, daß alles sich so gut und glücklich für dich gefügt hat. Denn es ist gefährlich, will ich dir sagen, es ist meiner Erfahrung nach schwer für uns, auf eine angemessene Art glücklich zu werden. Man gerät so bald auf Irrwege und wird mißverstanden, denn das Schlimme ist, daß eigentlich niemand unsere Würde hütet, wenn wir es nicht selber tun, und dann artet alles so leicht in Schimpf und Schande aus … Aber wo ist der richtige Weg? Du hast ihn gefunden. Mich haben sie auch neulich in den Zeitungen verlobt gesagt, mit unserer Cousine Griseldis. Das war ein Versuchsballon, wie sie es nennen, und es scheint ihnen wohl an der Zeit. Aber Griseldis ist ein törichtes Mädchen und halbtot vor Bleichsucht und sagt immer nur ›jä‹, soweit ich sie kenne. Ich denke gar nicht an sie, und Knobelsdorff, Gott sei Dank, auch nicht. Die Nachricht ist ja auch gleich als unbegründet bezeichnet worden … Jetzt kommt Albrecht!« sagte er und stand auf.

Man hatte draußen gehüstelt. Ein Diener in olivengrüner Livree öffnete mit einer raschen, festen und lautlosen Bewegung seiner beiden Arme die Flügeltür und meldete mit gesenkter Stimme: »Seine Königliche Hoheit, der Herr Großherzog.«

Dann trat er in Verbeugung zur Seite. Albrecht kam durch den großen Salon.

Er hatte die hundert Schritte vom Alten Schlosse hierher in geschlossenem Wagen, den Jäger auf dem Bocke, zurückgelegt. Er war in Zivil wie fast immer, trug einen geschlossenen Gehrock mit kleinen Atlasaufschlägen und Lackstiefel an seinen schmalen Füßen. Seit seiner Thronbesteigung hatte er sich einen Spitzbart wachsen lassen. Sein kurzgeschnittenes blondes Haar trat in zwei Buchten von seinen feinen, eingedrückten Schläfen zurück. Sein Gang war ein linkisches und dennoch unbeschreiblich vornehmes Stolzieren, wobei seine Schulterblätter sich auf befangene Art verzogen. Er trug den Kopf zurückgelehnt und schob seine kurze, gerundete Unterlippe empor, indem er leicht damit an der oberen sog.

Die Fürstin ging ihm bis zur Schwelle entgegen. Da er die Bewegung des Handkusses scheute, so reichte er ihr einfach mit einem leisen, fast geflüsterten Grußwort die Hand – seine magere, kalte Hand von seltsam empfindlichem Ausdruck, die er dicht an der Brust ausstreckte, ohne auch nur den Unterarm vom Körper zu lösen. Dann begrüßte er auf dieselbe Art seinen Bruder Klaus Heinrich, der ihn mit geschlossenen Absätzen vor seinem Stuhle erwartet hatte – und sagte nichts mehr.

Ditlinde redete. »Das ist liebenswürdig, Albrecht, daß du kommst. Es geht dir also gut? Du siehst vorzüglich aus. Philipp läßt dir sein Bedauern ausdrücken, heute abwesend sein zu müssen. Bitte, nimm Platz, wo es dir am besten gefällt, zum Beispiel hier, mir gegenüber. Der Stuhl ist ziemlich bequem, du hast ihn das letztemal auch gehabt. Ich habe einstweilen unseren Tee gemacht. Du bekommst sogleich deine Milch …«

»Danke«, sagte er leise. »Ich muß um Entschuldigung bitten … ich habe mich verspätet. Du weißt, wenn der Weg am kürzesten ist … Und dann muß ich nachmittags liegen … Wir werden unter uns bleiben?«

»Ganz unter uns, Albrecht. Höchstens, daß Jettchen Isenschnibbe ein bißchen vorspricht, wenn es dir nicht unangenehm ist …«

»Ah?«

»Aber ich kann mich ebensogut verleugnen lassen.«

»Oh, bitte …«

Man servierte die heiße Milch. Albrecht umfaßte das hohe, dicke, gebuckelte Glas mit beiden Händen.

»Ah, etwas Wärme«, sagte er. »Wie es schon kalt ist hierzulande. Und den ganzen Sommer habe ich in Hollerbrunn gefroren. Ihr habt noch nicht geheizt? Ich habe schon heizen lassen. Andererseits leide ich unter dem Ofengeruch. Alle Öfen riechen. Von Bühl verspricht mir jeden Herbst die Zentralheizung für das Alte Schloß. Aber es scheint nicht tunlich.«

»Armer Albrecht«, sagte Ditlinde. »Um diese Jahreszeit warst du schon immer im Süden, solange Papa noch lebte. Du mußt Sehnsucht haben.«

»Dein Mitgefühl ehrt dich, meine gute Ditlinde«, antwortete er, immer sehr leise und ein wenig lispelnd. »Aber wir müssen einsehen, daß ich nicht abkömmlich bin. Ich muß bekanntlich das Land regieren, dazu bin ich da. Heute habe ich die gnädigste Entschließung gefaßt, zu gestatten, daß irgendein Staatsbürger – es tut mir leid, seinen Namen vergessen zu haben – einen fremden Orden annimmt und trägt. Ferner habe ich ein Telegramm an die Jahresversammlung der Gartenbaugesellschaft abgehen lassen, worin ich das Ehrenpräsidium dieser Gesellschaft annehme und mein Wort verpfände, ihre Bestrebungen auf alle Weise zu fördern – ohne daß ich freilich wüßte, was ich außer dem Telegramm noch zur Förderung beitragen soll, denn die Herren besorgen ihre Angelegenheiten ganz gut allein. Außerdem habe ich geruht, die Wahl eines gewissen braven Mannes zum Bürgermeister meiner guten Stadt Siebenberge zu bestätigen – wobei sich fragen ließe, ob dieser Untertan durch meine Bestätigung ein besserer Bürgermeister wird, als er ohne sie sein würde …«

»Nun ja, Albrecht, das sind Kleinigkeiten!« sagte Ditlinde. »Ich bin überzeugt, daß dir wichtigere Geschäfte vorgelegen haben …«

»Oh, unbedingt. Ich habe meinen Minister für Finanzen und Landwirtschaft bei mir gesehen. Es war an der Zeit. Doktor Krippenreuther hätte es mir bitter übelgenommen, wenn ich ihn nicht wieder einmal befohlen hätte. Er ist summarisch verfahren und hat mir zur Übersicht über mehrere untereinander verwandte Gegenstände auf einmal Vortrag gehalten, über die Ernte, über die neuen Grundsätze für die Aufstellung des Budgets, über die Steuerreform, mit der er beschäftigt ist. Die Ernte soll schlecht gewesen sein. Die Bauern sind von Mißwachs und Wetterschäden betroffen worden, und darum sind nicht nur sie, sondern auch Krippenreuther übel daran, denn die Steuerkraft des Landes, sagt er, ist wieder einmal beeinträchtigt. Außerdem hat es leider in einem und dem anderen Silberbergwerk Katastrophen gegeben. Die Betriebe stehen, sagt Krippenreuther, sie sind erträgnislos, und die Wiederherstellung wird große Summen verschlingen. Ich habe das alles mit einer passenden Miene angehört und getan, was ich tun konnte, indem ich meinem Kummer über soviel Mißgeschick Ausdruck gab. Hierauf habe ich die Frage erörtern hören, ob die Kosten der notwendigen Neubauten für die Rentämter und für die Behörden der Forst- und Zoll- und Steuerverwaltung auf den ordentlichen oder den außerordentlichen Etat zu setzen sind, habe mehreres von Progressionsskala und Kapitalrentensteuer und Wandergewerbssteuer und Entlastung der notleidenden Landwirtschaft und Belastung der Städte aufgefangen und hatte im ganzen den Eindruck, daß Krippenreuther seine Sache verstünde. Ich selbst verstehe natürlich so gut wie gar nichts davon, was Krippenreuther auch weiß und billigt, und so habe ich denn ›ja, ja‹ und ›freilich wohl‹ und ›ich danke Ihnen‹ gesagt und habe alles gehen lassen, so gut es kann.«

»Du sprichst so bitter, Albrecht.«

»Nein, ich will euch etwas sagen, was mir heute während Krippenreuthers Vortrag eingefallen ist. Hier in der Stadt lebt ein Mann, ein kleiner Rentner mit einer Warzennase. Jedes Kind kennt ihn und ruft juchhe, wenn es ihn sieht, er heißt Fimmelgottlieb, denn er ist nicht ganz bei Troste, einen Nachnamen hat er schon lange nicht mehr. Er ist überall dabei, wo etwas los ist, obgleich seine Narrheit ihn außerhalb aller ernsthaften Beziehungen stellt, hat eine Rose im Knopfloch und trägt seinen Hut auf der Spitze seines Spazierstockes herum. Ein paarmal am Tage, um die Zeit, wenn ein Zug abfahren soll, geht er auf den Bahnhof, beklopft die Räder, inspiziert das Gepäck und macht sich wichtig. Wenn dann der Mann mit der roten Mütze das Zeichen gibt, winkt Fimmelgottlieb dem Lokomotivführer mit der Hand, und der Zug geht ab. Aber Fimmelgottlieb bildet sich ein, daß der Zug auf sein Winken hin abgeht. Das bin ich. Ich winke, und der Zug geht ab. Aber er ginge auch ohne mich ab, und daß ich winke, ist nichts als Affentheater. Ich habe es satt …«

Die Geschwister schwiegen. Ditlinde sah bekümmert in ihren Schoß, und Klaus Heinrich blickte, indem er an seinem kleinen bogenförmigen Schnurrbart zupfte, zwischen ihr und dem Großherzog hindurch auf das helle Fenster.

»Ich kann dir ganz gut folgen, Albrecht,« sagte er nach einer Weile, »obgleich es ja recht hart von dir ist, daß du dich und uns mit Fimmelgottlieb vergleichst. Siehst du, ich verstehe natürlich auch nichts von Progressionsskala und Wandergewerbssteuer und Torfstecherei, und da gibt es noch so vieles, wovon ich nichts verstehe – alles, was man sich vorstellt, wenn man sagt: das Elend in der Welt –, Hunger und Not, nicht wahr, und Kampf ums Dasein, wie man es nennt, und Krieg und Krankenhausgraus und alles das. Ich habe nichts davon gesehen und gespürt, ausgenommen den Tod selbst, als Papa starb, und das war auch wohl nicht der Tod, wie er sein kann, denn es war eher erbaulich, und das ganze Schloß war erleuchtet. Und zuweilen schäme ich mich, daß ich mir niemals den Wind habe um die Nase wehen lassen. Aber dann sage ich mir auch wieder, daß ich es nicht bequem habe, gar nicht bequem, obgleich ich doch auf der Menschheit Höhen wandle, wie die Leute es ausdrücken, oder gerade deshalb, und daß ich auf meine Art des Lebens Strenge, sein schmallippiges Antlitz, wenn du mir die Redensart erlauben willst, vielleicht besser kenne als mancher, der sich auf Progressionsskala oder sonst irgendein einzelnes Gebiet versteht. Und darauf kommt es an, Albrecht, daß man es nicht bequem hat – darauf kommt alles an, wenn ich dir das erwidern darf, und damit ist man gerechtfertigt. Und da die Leute juchhe rufen, wenn sie mich sehen, so müssen sie doch wohl wissen, warum, und mein Leben muß irgendeinen Sinn haben, obgleich ich außerhalb aller ernsthaften Beziehungen stehe, wie du so ausgezeichnet sagtest. Und deines erst recht. Du winkst zwar nur zu dem, was geschieht, aber die Leute wollen doch, daß du winkst, und wenn du ihr Wollen und Wünschen nicht wirklich regierst, so drückst du es doch aus und stellst es vor und machst es anschaulich, und das ist vielleicht nicht so wenig …«

Albrecht saß am Tische, ohne sich anzulehnen. Er hielt seine mageren Hände von seltsam empfindlichem Ausdruck auf der Tischkante vor dem hohen, zur Hälfte geleerten Glase Milch gekreuzt und die Lider gesenkt, indem er mit der Unterlippe an der oberen sog. Er antwortete leise: »Ich wundere mich nicht, daß ein so beliebter Prinz wie du mit seinem Lose einverstanden ist. Ich für mein Teil lehne es ab, irgend jemand anders auszudrücken und vorzustellen als mich selbst – ich lehne es ab, sage ich, und ich stelle dir frei, zu denken, daß mir die Trauben zu hoch hängen. Die Wahrheit ist, daß mir am Juchhe der Leute so wenig liegt, als nur einer Seele daran liegen kann. Ich meine nicht meinen Körper. Man ist schwach – irgend etwas in einem dehnt sich bei Applaus und krümmt sich bei kaltem Schweigen. Aber mit meiner Vernunft stehe ich über aller Beliebtheit und Unbeliebtheit. Ich weiß, was die Volkstümlichkeit wäre, wenn sie käme. Ein Irrtum über meine Person. Und damit zuckt man die Achseln bei dem Gedanken an das Händeklatschen fremder Leute. Einem anderen – dir – mag das hinter sich gefühlte Volk Hochgefühl verschaffen. Mir verzeih, daß ich zu vernünftig für solche geheimnisvollen Glücksgefühle bin – und zu reinlichkeitsliebend auch wohl, wenn du mir den Ausdruck nachsehen willst. Diese Art Glück riecht nicht gut, wie mir scheint. Auf jeden Fall bin ich dem Volke fremd. Ich gebe ihm nichts – was könnte es mir geben? Mit dir … oh, das ist etwas anderes. Hunderttausende, die dir gleichen, danken dir dafür, daß sie sich in dir wiedererkennen. Du könntest wohl lachen, wenn du wolltest. Die Gefahr besteht für dich höchstens darin, daß du allzu wohlig in deiner Volkstümlichkeit untertauchst und endlich dennoch bequemen Sinnes wirst, obgleich du das heut von der Hand weist …«

»Nein, Albrecht, ich glaube das nicht. Ich glaube nicht, daß ich diese Gefahr laufe.«

»Desto besser werden wir einander verstehen. Ich bevorzuge im ganzen nicht die starken Ausdrücke. Aber die Popularität ist eine Schweinerei.«

»Sonderbar, Albrecht. Sonderbar, daß du das Wort gebrauchst. Die Fasanen gebrauchten es immer, meine Mitzöglinge, die jungen Adeligen, weißt du, auf Schloß ›Fasanerie‹. Ich weiß, was du bist. Du bist ein Aristokrat, das ist die Sache.«

»Du meinst? Du irrst dich. Ich bin kein Aristokrat, ich bin das Gegenteil, aus Vernunft und aus Geschmack. Du wirst zulassen müssen, daß ich das Juchhe der Menge nicht aus Dünkel verschmähe, sondern aus Neigung zur Menschlichkeit und zur Güte. Es ist ein erbärmliches Ding um menschliche Hoheit, und mir scheint, daß alle Menschen das einsehen müßten, daß alle sich menschlich und gütig gegeneinander verhalten und einander nicht erniedrigen und beschämen sollten. Ohne Scham den Hokuspokus der Hoheit mit sich treiben zu lassen, dazu muß wohl eine dicke Haut gehören. Ich bin ein bißchen zart von Natur, ich fühle mich der Lächerlichkeit meiner Lage nicht gewachsen. Jeder Lakai, der sich an der Tür aufpflanzt und mir zumutet, an ihm vorüberzugehen, ohne ihn mehr zu beachten, mehr zu achten als den Türpfosten, setzt mich in Verlegenheit. Das ist meine Art von Volksfreundlichkeit …«

»Ja, Albrecht, das ist wahr. Es ist manchmal gar nicht leicht, mit guter Miene an so einem Gesellen vorüberzugehen. Die Lakaien! Wenn man nicht wüßte, daß es Kujone sind! Saubere Dinge weiß man von ihnen …«

»Was für Dinge?«

»Oh, man tut immerhin seine Einblicke …«

»Bewahre!« sagte Ditlinde. »Davon wollen wir nichts wissen. Ihr sprecht von so allgemeinen Fragen, und ich hatte gedacht, daß wir heute nachmittag ein paar Punkte besprechen wollten, die ich mir aufgeschrieben habe … Willst du so freundlich sein, Klaus Heinrich, mir den Notizblock in blauem Leder dort auf dem Schreibtisch zu reichen?… Ich danke dir sehr. Hier habe ich alles, was ich mir merken muß, sowohl was den Hausstand, als was andere Dinge betrifft. Wie das wohltut, alles so schwarz auf weiß übersehen zu können! Mein Kopf ist entschieden schwach, er kann nichts beisammenhalten, und wenn ich nicht Ordnung hielte und mir alles notierte, so müßte ich am Leben verzweifeln. Erstens, Albrecht, und eh ich's vergesse, so wollte ich dich aufmerksam machen, daß du bei der Cour am ersten November Tante Katharina führen mußt – unmöglich kannst du umhin. Ich trete zurück, ich war es beim letzten Hofball, und Tante Katharina würde schrecklich verstimmt … Habe ich deine Einwilligung? Gut, dann streiche ich diesen Punkt … Zweitens, Klaus Heinrich, wollte ich dich bitten, beim Waisenkinder-Bazar im Rathaus am fünfzehnten ein wenig acte de présence zu machen. Ich habe das Protektorat, und du siehst, ich nehme es ernst. Du brauchst nichts zu kaufen … einen Taschenkamm … Kurz, nur, daß du dich zehn Minuten lang zeigst. Es ist für die Waisenkinder … Willst du kommen? Siehst du, so kann ich wieder etwas durchstreichen. Drittens …«

Aber die Fürstin wurde unterbrochen. Fräulein von Isenschnibbe, die Hofdame, ließ sich melden und trippelte augenblicklich durch den großen Salon herein, wobei ihre Federboa sich im Luftzuge sträubte und der Rand ihres enormen Federhutes auf und nieder wippte. Aus ihren Kleidern strömte der Geruch der frischen Luft von draußen. Sie war klein, aschblond, spitznäsig und so kurzsichtig, daß sie die Sterne nicht sehen konnte. An klaren Abenden stand sie auf ihrem Balkon und betrachtete den gestirnten Himmel durch ihr Opernglas, um zu schwärmen. Sie trug zwei scharfe Zwicker übereinander und streckte mit gekniffenen Augen spähend den Hals vor, indem sie knickste.

»Gott, Großherzogliche Hoheit,« sagte sie, »ich wußte nicht, ich störe, ich dringe ein, ich bitte untertänigst um Entschuldigung!«

Die Brüder hatten sich erhoben, und das Fräulein sank verschämt vor ihnen nieder. Da Albrecht seine Hand dicht an der Brust ausstreckte, ohne auch nur den Unterarm vom Körper zu lösen, so war ihr Arm fast senkrecht ausgestreckt, als der Knicks, den sie vor ihm ausführte, seinen tiefsten Punkt erreicht hatte.

»Gutes Jettchen,« sagte Ditlinde, »wie du sprichst! Du bist erwartet und willkommen. Und meine Brüder wissen, daß wir du zueinander sagen. Also nichts von Großherzoglicher Hoheit, wenn ich bitten darf. Wir sind nicht im Alten Schloß. Sitz nieder und sei gemütlich. Willst du Tee? Er ist noch heiß. Und hier sind gezuckerte Früchte. Ich weiß, du ißt sie gern.«

»Ja, tausend Dank, Ditlinde, die esse ich für mein Leben gern!« Und Fräulein von Isenschnibbe nahm mit dem Rücken gegen das Fenster, Klaus Heinrich gegenüber, an der Schmalseite des Teetisches Platz, streifte einen Handschuh ab und begann, spähend vorgebeugt, mit der silbernen Zange Süßigkeiten auf ihren Teller zu legen. Ihre kleine Brust atmete rasch und beklommen vor freudiger Erregung.

»Neuigkeiten weiß ich,« sagte sie, unfähig, länger an sich zu halten … »Neuigkeiten … mehr, als in meinen Pompadour gehen! Das heißt … im Grunde ist es nur eine, nur eine – aber die hat das Maß, die kann sich sehen lassen, und es ist ganz sicher, ich habe es aus bester Quelle, du weißt, daß ich zuverlässig bin, Ditlinde, noch heute abend wird es im ›Eilboten‹ stehn, und morgen wird die ganze Stadt davon sprechen.«

»Ja, Jettchen,« sagte die Fürstin, »das muß man zugeben, du kommst niemals mit leeren Händen. Aber nun sind wir gespannt, nun sage deine Neuigkeit.«

»Gut also. Ich bitte, Luft holen zu dürfen. Weißt du, Ditlinde, wissen Königliche Hoheit, wissen Großherzogliche Hoheit, wer kommt, wer in den Quellengarten kommt, wer auf sechs oder acht Wochen zum Kurgebrauch in den Quellenhof zieht, um das Wasser zu trinken?«

»Nein«, sagte Ditlinde. »Aber du weißt es, gutes Jettchen?«

»Spoelmann«, sagte Fräulein von Isenschnibbe. »Spoelmann«, sagte sie, lehnte sich zurück und machte Miene, mit den Fingerspitzen auf den Tischrand zu schlagen, tat aber der Bewegung ihrer Hand dicht über dem blauseidenen Läufer Einhalt.

Die Geschwister blickten einander zweifelnd an.

»Spoelmann?« fragte Ditlinde … »Besinne dich, Jettchen: der richtige Spoelmann?«

»Der richtige!« Des Fräuleins Stimme brach sich vor unterdrücktem Jubel. »Der richtige, Ditlinde. Denn es gibt ja nur einen, oder doch nur einen, den man kennt, und der ist es, den sie im Quellenhof erwarten – der große Spoelmann, der Riesen-Spoelmann, der ungeheure Samuel N. Spoelmann aus Amerika!«

»Aber Kind, wie käme wohl der hierher?«

»Nun, verzeih' mir die Antwort, Ditlinde, aber wie du fragst! Er kommt natürlich über den Ozean, auf seiner Jacht oder auf einem großen Dampfer, das weiß ich noch nicht – wie es ihm gefällt. Er geht in die Ferien, er macht eine Europareise, und zwar zu dem ausgesprochenen Zweck, im Quellengarten das Wasser zu trinken.«

»Aber ist er denn krank?«

»Gewiß, Ditlinde. Alle diese Leute sind krank, es muß wohl dazu gehören.«

»Das ist sonderbar«, sagte Klaus Heinrich.

»Ja, Großherzogliche Hoheit, es ist auffallend. Seine Art von Dasein muß es wohl mit sich bringen. Denn es ist gewiß ein anstrengenderes Dasein und keineswegs bequem und muß den Körper wohl rascher aufreiben, als ein gewöhnliches Menschenleben tut. Die meisten haben es mit dem Magen zu tun. Aber Spoelmann hat ja ein Steinleiden, wie man weiß.«

»Ein Steinleiden also …«

»Gewiß, Ditlinde, du hast es natürlich schon gehört und nur wieder vergessen. Er hat den Nierenstein, wenn ich mir das häßliche Wort erlauben darf – ein schweres, quälendes Leiden, und sicher hat er nicht den geringsten Genuß von seinen wahnwitzigen Reichtümern …«

»Aber wie in aller Welt ist er auf unser Wasser verfallen?«

»So, Ditlinde. Ganz einfach. Das Wasser ist doch gut, es ist vortrefflich, zumal die Ditlindenquelle mit ihrem Lithium, oder wie es heißt, ist ausgezeichnet gegen Gicht und Stein, und nur noch nicht nach Gebühr bekannt und geschätzt in der Welt. Aber ein Mann wie Spoelmann, das läßt sich denken, ein solcher Mann ist erhaben über Namen und Marktgeschrei und geht nach seinem eigenen Kopfe. Und so hat er denn unser Wasser entdeckt – oder sein Leibarzt hat es ihm empfohlen, das mag sein – und hat es in Flaschen bezogen, und es hat ihm wohlgetan, und nun mag er denken, daß es ihm an Ort und Stelle getrunken noch besser anschlagen muß.«

Alle schwiegen.

»Großer Gott, Albrecht,« sagte Ditlinde endlich, »wie man nun immer über Spoelmann und seinesgleichen denken mag – und ich denke vorsichtig über ihn, dessen kannst du versichert sein –, aber glaubst du nicht, daß der Besuch dieses Menschen dem Quellengarten zu großem Nutzen gereichen kann?«

Der Großherzog wendete den Kopf mit seinem feinen und steifen Lächeln.

»Fragen wir Fräulein von Isenschnibbe«, antwortete er. »Sie hat zweifellos auch diese Seite der Sache bereits ins Auge gefaßt.«

»Da Königliche Hoheit befehlen … Zu gewaltigem Nutzen! Zu unermeßlichem, ganz unberechenbarem Nutzen – das liegt auf der Hand! Die Direktion ist selig, sie ist imstande und bekränzt das Füllhaus, illuminiert den Quellenhof! Welche Empfehlung! Welche Anziehung für die Fremden! Wollen Königliche Hoheit doch erwägen … Dieser Mann ist eine Sehenswürdigkeit! Großherzogliche Hoheit sprachen eben von ›seinesgleichen‹ – aber er hat nicht seinesgleichen, kaum, höchstens ein paar. Das ist ein Leviathan, ein Vogel Roch! Wie sollte man nicht weither kommen, um ein Wesen zu sehen, das täglich so gegen eine halbe Million zu verzehren hat!«

»Bewahre!« sagte Ditlinde erschüttert. »Und mein guter Philipp, der sich mit seinen Torfstichen plagt …«

»Die Sache fängt damit an,« fuhr das Fräulein fort, »daß seit ein paar Tagen in der Wandelhalle da draußen zwei Amerikaner herumlaufen. Wer sind sie? Es stellt sich heraus, daß es Journalisten sind, Abgeordnete zweier großer Neuyorker Zeitungen. Sie sind dem Leviathan vorangereist und telegraphieren ihren Blättern vorläufig Schilderungen der Örtlichkeit. Wenn er da ist, werden sie über jeden Schritt telegraphieren, den er tut – gerade wie der ›Eilbote‹ und der ›Staatsanzeiger‹ über Euere Königliche Hoheit berichten …«

Albrecht verbeugte sich dankend, mit niedergeschlagenen Augen und indem er die Unterlippe emporschob.

»Er hat die Fürstenzimmer im Quellenhof mit Beschlag belegt,« sagte Jettchen, »als vorläufige Unterkunft.«

»Für sich allein?« fragte Ditlinde …

»O nein, Ditlinde, du kannst denken, daß er nicht allein kommt. Ich weiß noch nichts Näheres über seine Umgebung und Dienerschaft, aber fest steht, daß seine Tochter und sein Leibarzt ihn begleiten.«

»Du sagst immer ›Leibarzt‹, Jettchen, das ärgert mich. Und dann die Journalisten. Und obendrein die Fürstenzimmer. Er ist doch kein König.«

»Ein Eisenbahnkönig, soviel ich weiß«, bemerkte Albrecht leise und mit niedergeschlagenen Augen.

»Nicht nur Eisenbahnkönig, Königliche Hoheit, und nicht einmal in der Hauptsache, nach allem, was ich höre. Da gibt es in Amerika drüben diese großen Handelsgesellschaften, die man Trusts nennt, wie Königliche Hoheit wissen, der Stahltrust zum Beispiel, der Zuckertrust, der Petroleumtrust und dann noch der Kohlen- und Fleisch- und Tabaktrust und wie sie heißen. Und bei fast all diesen Trusts hat Samuel N. Spoelmann seine Hand im Spiel und ist Großaktionär und Hauptkontrolleur – so nennt man es, ich habe es gelesen –, und sein Geschäft muß also wohl sein, was man bei uns eine Gemischte Warenhandlung nennt.«

»Ein sauberes Geschäft,« sagte Ditlinde, »ein sauberes Geschäft wird es sein! Denn daß man durch ehrliche Arbeit ein Leviathan und Vogel Roch werden kann, das wirst du mir nicht einreden, gutes Jettchen. Ich bin überzeugt, daß das Blut der Witwen und Waisen an seinen Reichtümern klebt. Wie denkst du, Albrecht?«

»Ich wünsche es, Ditlinde, ich wünsche es, dir und deinem Gatten zum Trost.«

»Wenn es so ist,« erzählte das Fräulein, »so trifft doch Spoelmann – unseren Samuel N. Spoelmann – nur geringe Verantwortung, denn er ist eigentlich nichts als ein Erbe und soll sogar nie so besondere Lust zu den Geschäften gehabt haben. Wer eigentlich das Ganze gemacht hat, das war sein Vater – ich habe alles gelesen und kann sagen, daß ich in großen Zügen Bescheid weiß. Sein Vater, das war ein Deutscher – gar nichts, ein Abenteurer, der über See ging und Goldgräber wurde. Und hatte Glück und gewann sich durch Goldfunde ein kleines Vermögen – oder auch schon ein ziemlich großes – und fing zu spekulieren an, in Petroleum und Stahl und Eisenbahnen und dann in allem Möglichen und wurde immer reicher und reicher. Und als er starb, da war eigentlich alles schon im Gang, und sein Sohn Samuel, der die Vogel-Roch-Firma erbte, der hatte so gut wie nichts mehr zu tun, als die fürchterlichen Dividenden einzustreichen und noch immer reicher und reicher zu werden, bis es kaum noch zu sagen war. So ist es vor sich gegangen.«

»Und eine Tochter hat er, Jettchen? Was ist denn das für ein Ding?«

»Jawohl, Ditlinde, seine Frau ist tot, aber er hat eine Tochter, Miß Spoelmann, und die bringt er mit. Ein sonderbares Mädchen, nach allem, was ich gelesen habe. Er selbst ist ja schon ein sujet mixte, denn sein Vater holte sich seine Frau aus dem Süden – kreolisches Blut, eine Person mit deutschem Vater und eingeborener Mutter. Aber Samuel heiratete dann wieder eine Deutsch-Amerikanerin mit halbenglischem Blut, und deren Tochter ist nun Miß Spoelmann.«

»Bewahre, Jettchen, das ist ja ein buntes Geschöpf!«

»Das magst du wohl sagen, Ditlinde. Und sie ist gelehrt, ich habe gehört, sie studiert wie ein Mann, und zwar Algebra und so scharfsinnige Dinge …«

»Nun, das kann mich auch nicht mehr für sie einnehmen.«

»Aber nun kommt das Stärkste, Ditlinde, denn Miß Spoelmann hat eine Gesellschaftsdame, und diese Gesellschaftsdame ist eine Gräfin, eine ganz richtige Gräfin, die ihr Gesellschaftsdienste leistet.«

»Bewahre!« sagte Ditlinde. »Schämt sie sich nicht? Nein, Jettchen, mein Entschluß ist gefaßt. Ich werde mich nicht um Spoelmann kümmern. Ich werde ihn hier in Frieden seinen Brunnen trinken lassen und ihn mit seiner Gräfin und seiner algebraischen Tochter wieder abziehen lassen, ohne mich nach ihm umzusehen. Auf mich macht er keinen Eindruck mit seinem Sündenreichtum. Wie denkst du, Klaus Heinrich?«

Klaus Heinrich blickte über des Fräuleins Kopf hinweg auf das helle Fenster.

»Eindruck?« sagte er … »Nein, Reichtum macht mir keinen Eindruck, glaube ich – ich meine, was man so Reichtum nennt. Aber mich dünkt, es kommt darauf an … es kommt, wie mir scheint, auf den Maßstab an. Wir haben ja auch ein paar reiche Leute hier in der Stadt … Seifensieder Unschlitt soll eine Million haben … Ich sehe ihn manchmal in seinem Wagen … Er ist recht dick und gewöhnlich. Aber wenn einer ganz krank und einsam ist vor lauter Reichtum … Ich weiß nicht …«

»Ein unheimlicher Mann jedenfalls«, sagte Ditlinde. Und allmählich beruhigte sich das Gespräch über Spoelmann. Man sprach über Familienangelegenheiten, über das Gut »Hohenried«, über die bevorstehende Saison. Gegen sieben Uhr schickte der Großherzog nach seinem Wagen. Man erhob sich, man verabschiedete sich, denn auch Prinz Klaus Heinrich brach auf. Aber in der Vorhalle, während die Brüder sich ihre Mäntel anlegen ließen, sagte Albrecht: »Ich wäre dir verbunden, Klaus Heinrich, wenn du deinen Kutscher nach Hause schicktest und mir noch eine Viertelstunde das Vergnügen deiner Gesellschaft gönntest. Ich habe noch eine Sache von einiger Wichtigkeit mit dir zu besprechen … Ich könnte dich zur Eremitage begleiten, aber die Abendluft ist mir nicht zuträglich …«

Klaus Heinrich antwortete mit geschlossenen Absätzen: »Nein, Albrecht, wo denkst du hin! Ich fahre mit dir ins Schloß, wenn es dir angenehm ist. Ich bin selbstverständlich zu deiner Verfügung.«

Dies war die Einleitung zu einer bemerkenswerten Unterredung zwischen den jungen Fürsten, deren Ergebnis wenige Tage darauf im »Staatsanzeiger« veröffentlicht und allgemein mit Beifall aufgenommen wurde.

Der Prinz begleitete den Großherzog ins Schloß, durch das Albrechtstor, über steinerne, breitgeländrige Treppen, durch Korridore, wo offene Gasflammen brannten, und schweigende Vorzimmer, zwischen Lakaien hindurch in Albrechts »Kabinett«, wo der alte Prahl die beiden bronzenen Petroleumlampen auf dem Kaminsims angezündet hatte. Albrecht hatte das Arbeitszimmer seines Vaters übernommen – es war immer das Arbeitszimmer der regierenden Herren gewesen und lag im ersten Stockwerk zwischen einem Adjutantenzimmer und dem im täglichen Gebrauch befindlichen Speisesaal, gegen den Albrechtsplatz, den die Fürsten von ihrem Schreibtisch aus stets überblickt und überwacht hatten. Es war ein außerordentlich unwohnlicher und widerspruchsvoller Raum, ein kleiner Saal mit einer zersprungenen Deckenmalerei, rotseidener, in vergoldete Leisten gefaßter Tapete und drei bis zum Fußboden reichenden Fenstern, durch die es empfindlich zog und vor denen jetzt die weinroten, mit Krepinen geschmückten Vorhänge geschlossen waren. Es hatte einen falschen Kamin im Geschmack des französischen Kaiserreichs, davor ein Halbkreis von kleinen modernen gesteppten Plüschsesseln ohne Armlehnen angeordnet war, und einen überaus häßlich ornamentierten weißen Kachelofen, in dem stark geheizt war. Zwei große gesteppte Sofas standen an den Seitenwänden einander gegenüber, und vor das eine war ein viereckiger Büchertisch mit roter Plüschdecke gerückt. Zwischen den Fenstern ragten zwei deckenhohe und schmale, in Gold gerahmte Spiegel mit weißen Marmorkonsolen empor, von denen die rechte eine ziemlich lüsterne Alabastergruppe, die linke eine Wasserkaraffe und Medizingläser trug. Der Schreibsekretär, ein altes Möbelstück aus Palisanderholz mit Rolldeckel und Messingbeschlägen, stand frei auf dem roten Teppich im Raum. Aus einem Winkel, von einem Pfeilertischchen herab, blickte eine Antike mit toten Augen ins Zimmer.

»Was ich dir vorzuschlagen habe,« sagte Albrecht – er stand am Schreibtisch und hantierte unbewußt mit einem Papiermesser, einem spielzeughaften und albernen Ding in Form eines Kavalleriesäbels –, »steht in gewisser Beziehung zu unserem Gespräch von heute nachmittag … Ich schicke voraus, daß ich die Angelegenheit diesen Sommer in Hollerbrunn mit Knobelsdorff durchgesprochen habe. Er ist einverstanden, und wenn auch du es bist, woran ich nicht zweifle, so kann ich meine Absicht sogleich verwirklichen.«

»Bitte, Albrecht, laß hören«, sagte Klaus Heinrich, der in aufmerksamer und militärischer Haltung am Sofatische stand.

»Mein Befinden«, fuhr der Großherzog fort, »läßt in letzter Zeit mehr und mehr zu wünschen übrig.«

»Das tut mir leid, Albrecht! Du hast dich also in Hollerbrunn gar nicht erholt?«

»Danke. Nein. Es geht mir schlecht, und meine Gesundheit zeigt sich den Anforderungen, die man an mich stellt, immer weniger gewachsen. Wenn ich sage ›Anforderungen‹, so meine ich in erster Linie die Pflichten festlicher und repräsentativer Natur, die mit meiner Stellung verbunden sind – und hier ist der Berührungspunkt mit der Unterhaltung, die wir vorhin bei Ditlinde führten. Die Ausübung dieser Pflichten mag beglücken, wo ein Kontakt mit dem Volke, eine Verwandtschaft, ein Gleichschlag der Herzen vorhanden ist. Mir ist sie eine Qual, und die Falschheit meiner Rolle ermüdet mich in einem Grade, daß ich darauf bedacht sein muß, Gegenmaßregeln zu treffen. Ich bin hierin – soweit das Körperliche in Frage kommt – im Einverständnis mit meinen Ärzten, die mein Vorhaben durchaus unterstützen … Höre mich also an. Ich bin unverheiratet, ich hege, wie ich dich versichern kann, nicht die Absicht, jemals eine Ehe einzugehen, ich werde keine Kinder haben. Du bist Thronfolger aus angeborenem Recht des Agnaten, du bist es noch mehr im Bewußtsein des Volkes, das dich liebt …«

»Ach, Albrecht, du sprichst immer von meiner Beliebtheit … Ich glaube gar nicht daran. Von weitem vielleicht … So ist es bei uns. Wir sind immer nur von weitem beliebt.«

»Du bist zu bescheiden. Höre weiter. Du hattest schon bisher zuweilen die Güte, mir diese und jene meiner repräsentativen Pflichten abzunehmen. Ich möchte, daß du sie mir alle abnähmest, ganz, auf immer.«

»Du denkst an Abdikation, Albrecht?« fragte Klaus Heinrich erschrocken …

»Ich darf nicht daran denken. Glaube mir, daß ich gern daran dächte. Aber man würde mir's verwehren. Woran ich denke, ist nicht einmal Regentschaft, sondern nur Stellvertretung – vielleicht erinnerst du dich aus irgendeinem Kolleg dieser staatsrechtlichen Unterscheidungen –, eine dauernde und amtlich festgelegte Stellvertretung in allen repräsentativen Funktionen, begründet durch die Schonungsbedürftigkeit meiner Gesundheit. Wie ist deine Meinung?«

»Ich stehe dir zu Befehl, Albrecht. Aber ich sehe noch nicht ganz klar. Wie weit soll die Stellvertretung gehen?«

»Oh, möglichst weit. Ich möchte, daß sie sich auf alle Gelegenheiten erstreckte, bei denen ein persönliches Auftreten in der Öffentlichkeit von mir gefordert wird. Knobelsdorff verlangt, daß ich die Eröffnung und den Schluß des Landtags nur, wenn ich bettlägerig bin, nur von Fall zu Fall an dich abtrete. Stellen wir das also dahin. Aber im übrigen würde dir meine Vertretung bei allen feierlichen Handlungen zufallen, die Reisen, die Besuche der Städte, die Eröffnung von öffentlichen Festlichkeiten, die Eröffnung des Bürgerballes …«

»Auch die?«

»Warum nicht auch die. Wir haben hier ferner die wöchentlichen Freiaudienzen – eine sinnige Sitte ohne Zweifel, aber sie bringt mich um. Du würdest die Audienzen an meiner Stelle abhalten. Ich zähle nicht weiter auf. Du nimmst meinen Vorschlag an?«

»Ich stehe dir zu Befehl.«

»Dann hör' mich zu Ende. Für alle Fälle, in denen du an meiner Stelle repräsentierst, teile ich dir meine Adjutanten zu. Es ist ferner wohl nötig, daß man dein militärisches Avancement beschleunigt. Du bist Oberleutnant? Du wirst zum Hauptmann ernannt werden – oder gleich zum Major à la suite deines Regiments … Ich werde das veranlassen. Drittens aber wünsche ich unserem Arrangement den nötigen Nachdruck zu geben, deine Stellung an meiner Seite gebührend zu kennzeichnen, indem ich dir den Titel ›Königliche Hoheit‹ verleihe. Es waren Formalitäten zu erledigen … Knobelsdorff ist schon fertig damit. Ich werde meine Entschlüsse in die Form zweier Schreiben an dich und an meinen Staatsminister kleiden. Knobelsdorff hat sie übrigens beide schon entworfen … Du nimmst an?«

»Was soll ich sagen, Albrecht. Du bist Papas ältester Sohn, und ich habe immer zu dir emporgeblickt, weil ich immer gefühlt und gewußt habe, daß du der Vornehmere und Höhere bist von uns beiden und ich nur ein Plebejer bin, im Vergleich mit dir. Aber wenn du mich würdigst, an deiner Seite zu stehen und deinen Titel zu führen und dich vorm Volk zu vertreten, obgleich ich mich gar nicht so präsentabel finde und diese Hemmung hier habe, mit meiner linken Hand, die ich immer verstecken muß – dann danke ich dir und stehe dir zu Befehl.«

»So darf ich dich bitten, mich jetzt zu verlassen. Ich bin ruhebedürftig.«

Sie gingen einander, der eine vom Schreibtisch, der andere vom Büchertisch, auf dem Teppich bis zur Mitte des Zimmers entgegen. Der Großherzog reichte seinem Bruder die Hand – seine magere, kalte Hand, die er dicht an der Brust ausstreckte, ohne auch nur den Unterarm vom Körper zu lösen. Klaus Heinrich zog die Absätze zusammen und verbeugte sich, als er die Hand empfing, und Albrecht neigte zum Abschied seinen schmalen Kopf mit dem blonden Spitzbart, indem er mit seiner kurzen, gerundeten Unterlippe leicht an der oberen sog. Klaus Heinrich kehrte nach Schloß »Eremitage« zurück.

Sowohl der »Staatsanzeiger« als der »Eilbote« veröffentlichten acht Tage später die beiden Handschreiben, welche die höchsten Entschließungen zum Inhalt hatten: dasjenige mit der Anrede »Mein lieber Staatsminister Doktor Freiherr von Knobelsdorff!« und jenes andere, das mit »Durchlauchtigster Fürst, freundlich lieber Bruder!« begann und »Euerer Königlichen Hoheit von Herzen anhänglicher Bruder Albrecht« unterzeichnet war.

Share on Twitter Share on Facebook