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Die Familie saß an dem quadratischen Eßtisch. Vor den einfachen Gedecken der Frau und der Kinder zeichnete sich der Platz des Vaters aus durch eine Wein- und eine Mineralwasserflasche, ein schwergeschliffenes Kelchglas von seltsam tiefer Form und ein reich facettiertes Wasserglas, die sämtlich auf silbernen Tellerchen standen. Besteck und Serviettenring aus schwerem Silber trugen das ihre zur Distanzierung bei. Tatsächlich schien der Vater, ein straffer Fünfziger mit eisengrauem Spitzbart und fast übertrieben energischen Zügen, irgendwie über der Runde zu thronen, wenn auch sein Stuhl denen der anderen gleich war. Die Mutter, eine zärtliche Blondine mit leisen Anzeichen des Verblühens, ließ ängstliche Blicke fliegen zwischen dem strengen Gemahl, — ob auch nichts seinen Unwillen errege — und den beiden Jungen, — ob sie Messer und Gabel richtig handhabten und auch sonst keine der verpönten Unarten zeigten. Glaubte sie an einem der Jungen etwas zu sehen, was einen Zornesausbruch des Vaters hervorrufen konnte, — daß er etwa Gabel und Messer benützte, wo die Gabel allein vorgeschrieben war, oder umgekehrt — so steigerte sich ihr Mienenspiel zu ungeahnter Heftigkeit. Durch hastige Kopfbewegungen und schreckhaftes Augenrollen suchte sie den Missetäter aufmerksam zu machen, erreichte aber damit nur zu oft, daß der Vater mit gebührender Schärfe ein Versehen rügte, das ohne ihre stummen und flehentlichen Warnungen wahrscheinlich unbemerkt geblieben wäre.

Der älteste Sohn, elfjährig, saß dem Vater, der dem Fenster den Rücken kehrte, in vollem Lichte gegenüber. Ein gedrückter Junge, mit schwermütigen Augen und einer Stirn, die viel zu wuchtig war für das schmale Kinn und den schmächtigen Leib und fast häßlich wirkte. Man sah es wohl, daß ihm Gehorsam und sklavische Angst in den Knochen saßen, die krampfhafte Abwehr eines zarten Organismus gegen jede leiseste Brutalität in Sprache und Ton. Der jüngere dagegen, stämmig, gedrungen, ein Rundkopf mit unregelmäßigen Zügen und Augen wie aus Quecksilber, schien nur durch die Witterung ewig naher Jagdhiebe in den Grenzen des steifen Tafelzeremoniells gehalten zu werden. Er war es auch, der sich erkühnte, die pädagogischen Donnerworte des Vaters, soweit sie sich an den Bruder richteten, mit lautlosem Gekicher und listigem Zwinkern zu glossieren, was ihm von der Mutter eine Reihe halb verzweifelter, halb vernichtender Blicke eintrug.

Das Gespräch floß karg und leer. Der Vater schien, wie viele schwerarbeitende Männer, die ihre Kinder nur bei den Mahlzeiten sehen, das Mittagessen als eine Doppelnummer seines Tagesprogrammes abzumachen: Nahrungsaufnahme mit Pädagogik gemengt. Eine namenlose Kälte lag über dem Zimmer. Der einzige, der sich gänzlich unberührt davon zeigte, war der Jüngste, ein goldblonder, zierlicher Bursch von knapp drei Jahren, der zwischen Vater und Mutter auf seinem hohen Kinderstühlchen herumturnte und mit Krähen, Lachen und Geplapper auf eigene Faust Konversation machte. Der Blick des Vaters verlor seine starre Würde, sobald er sich dem Kleinen zuwandte und zeigte eine so unverhohlene Zärtlichkeit, daß die strenge Stirn mit den lastenden, dichten Brauen fast als Maske erschien. Jeden solchen Blick quittierte das Söhnchen mit unbefangenem Gequietsch. Als sich aber einmal einer der ewig wandernden Warnerblicke der Mutter zu ihm verirrte und ihn zum Schweigen zu mahnen suchte, da piepste er ihr entgegen: „Ich bin dem Papa sein Stutzerle, mir darf niemand was tun!“, holte sich mit raschem Seitenblick beim Vater die lächelnde Zustimmung und sah dann siegessicher über die gekränkt errötende Mutter und die beiden älteren Brüder hin, die sich verbissen über ihre Teller neigten. Man merkte deutlich, daß der Ausspruch, irgendwann einmal spontan entstanden, dem Jungen durch steten Beifall zur Redensart geworden war, und daß es von äußerst fraglichem erzieherischem Wert sein mußte, ihn weiter zu dulden. Der Vater aber, ein fröhlicher Tyrann, schien nichts davon zu merken. Kaum war das Fleischgericht abgetragen, so kletterte der Kleine von seinem hohen Sitz und saß mit einem Sprung auf des Vaters Knie, zupfte ihn am Bart, spielte mit seiner Uhrkette und trieb allerlei Unsinn. Der Älteste sah dem mit seltsam brennenden Augen zu. Von ihm hätte der Vater nie eine körperliche Liebkosung geduldet, außer dem starren Handkuß, der bei jeder Begrüßung und nach jeder Mahlzeit zitternd gegeben und gleichgültig angenommen wurde.

Als das Mädchen mit der süßen Speise in der Tür erschien, sang der Kleine nach primitiver Kinderstubenmelodie: „Jetzt kommt was Gutes, und die Mama kriegt nix!“ Der Blick aber, den er dabei auf seine Mutter warf, zeigte klar, daß er in kindlicher Grausamkeit die Lust voll empfand, straflos wehtun zu dürfen. Die Mutter sah den Vater an mit einem Blick hilfloser, stummer Klage; es war zu sehen, daß auch dieser ursprünglich vielleicht naive Kindervers in täglicher Wiederholung zu einer demütigenden Demonstration geworden war. Der Vater aber hatte nur ein glückliches Lachen für seinen scharfsichtigen Sohn. Der plusterte sich selbstbewußt auf.

Die älteren Brüder sahen den Jüngsten an, wie Pferde in schwerem Zug nach den Fohlen sehen, die frei auf sonniger Koppel laufen. Sehnsucht und Neid war darin, und ein Wissen um künftiges Leiden.

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