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Über dem Hause lag eine dumpfe Spannung. Die alte Köchin fuhr aufgeregter als sonst in der Küche herum, zischte dem Mädchen nur abgerissene Schmählaute zu, statt laut zu schelten und schien überhaupt bemüht, auf irgendwas Rücksicht zu nehmen.

Der älteste Bruder saß stiller als je über seinen Büchern, der jüngere kobolzte in allen Ecken und deutete mit listigem Augenfunkeln und halben Worten geheimes Wissen an. Der Jüngste, endlos verwirrt, stand überall im Weg und wurde unaufhörlich beiseite geschoben. Doch wagte er nicht, in sein übliches Wehgeheul auszubrechen und begann schließlich still zu weinen.

Die Mutter fehlte bei Tisch. Der Vater schien unfroh und gereizt und hatte mit einmal keinen Sinn für die witzigen Unarten seines Lieblings. Vergebens haspelte der sein ganzes Repertoire ab, krähte, plapperte, bellte. Der gewünschte Beifall blieb aus. Auch die, ohne äußeren Anlaß übrigens, herausgeschmetterte Fanfare: „Ich bin dem Papa sein Stutzerle ...“ verpuffte wirkungslos. Die Brüder begannen heimlich zu grinsen. Als der Kleine aber die Mehlspeise mit seinem gewohnten Singsang begrüßen wollte, wies ihn der Vater, heftig wie noch nie, zur Ruhe und hatte dabei das Zucken in den Augenbrauen, das immer erschien, wenn er die Brüder schlug. Daraufhin wagte der zweite Bruder ein vernehmliches Feixen, bekam aber sofort, angeblich wegen unruhigen Sitzens, ein scharfes Kopfstück. Der Älteste erbleichte zitternd. Doch war das alles kein Trost für den Kleinen, der wie betäubt stumm dahockte.

Mit dem letzten Bissen im Munde stand der Vater hastig auf, nahm sich nicht Zeit, den Handkuß der Kinder abzuwarten und verließ grußlos das Zimmer. Man hörte ihn durch den langen Korridor nach dem Schlafgemach gehen. Das war zu dieser Tageszeit so ungewohnt, daß es irgendwie beängstigend wirkte.

Die drei Brüder blieben allein zurück. Max, der mittlere, zeigte sich herzhaft ausgelassen, sobald der Vater aus dem Zimmer war. Er juckte wild auf seinem Sitz herum, stieß mit Füßen nach dem Ältesten und fletschte dem Jüngsten die Zähne. „Ich bin neugierig, wann der Fritzl ...“ — das war der Jüngste — „seine erste Watsch’ kriegt! Vorhin hab’ ich schon geglaubt, es kracht!“ Und nachäffend sang er: „Jetzt kommt was Gutes ... ätsch!“ Dabei stieß er Felix, den Ältesten, schadenfroh und aufmunternd an. Der heftete seine schwermütigen Augen mit unbestimmbarem Ausdruck auf den Kleinen. In Fritzls blankem Kindergesicht aber zeigte sich ein so furchtbarer Schrecken, ein so namenloses Grauen vor Gewalttätigkeiten, daß die Brüder beide, halb beschämt, halb furchtsam, verstummten.

Am gleichen Tage wurde Fritzls Bett aus dem Schlafzimmer der Eltern in das der Brüder geschoben. Max hieß ihn plötzlich willkommen und trieb allerlei Schabernack, Felix aber sah ihn wieder nur stumm an. Wie ein Verurteilter einen neuen Zellengast betrachten mag.

Vor dem Einschlafen hatte Fritzl einen Weinkrampf. Alle Tröstungsversuche der böhmischen Magd wies er zurück, nannte auch keinen Grund seines Weinens. Erst Nanni, der alten Köchin, gelang es, ihn etwas zu beruhigen. Mit harten Arbeitshänden fuhr sie durch seine Locken und drückte immer wieder ihr gutes, verrunzeltes Sklavengesicht an den bebenden, schütternden Kinderleib. „Wos hoste denn, mein Engerle,“ stammelte sie, selbst dem Weinen nahe. „Do sog ma’s doch! Sie derfen dir nix tun! Keiner derf dir nix tun!“ — „Prügeln wollen sie mich — der Papa will mich prügeln!“ jammerte der Junge und wand sich in neuem Weinen. Der Alten, ob sie schon nicht wußte, woher dem verwöhnten Liebling gerade diese Angst kommen mochte, fuhr ahnungsvoller Schreck in die Glieder. Sie kannte die eiserne Faust des Herrn. Nun würde er bald beginnen, auch dies Sonnenkind da zu bändigen und abzurichten, wie er sie alle abgerichtet hatte: die blonde Herrin, sie selbst, die alte Nanni, die mit ihr gekommen war, und die beiden älteren Buben. Wie hatte er die ersten Jahre den Felix verzärtelt — und wer sah den Jungen jetzt noch lachen? Doch es war der Herr — und entsetzt über die eigenen aufrührerischen Gedanken bekreuzte sich die Alte, beugte sich tiefer über den schluchzenden Jungen und weinte still mit ihm. Als sie ihn schlafen sah, schlich sie in ihre Küche zurück.

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