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Kolarczik und Schneider haben, trotz Eid, das Geheimnis von Fritzens hochadliger Abstammung nicht gewahrt. — Bei der Witwe erscheint des öfteren ein Schlossergesell, begeisterter Gelegenheitsarbeiter und Brotzeitmacher, im Nebenberuf wüster Lebemann. Den haben die beiden ins Vertrauen gezogen, er aber hat die Enthüllung mit brüllendem Hohngelächter aufgenommen. Er kennt, wie die ganze kleine Stadt, den Sanitätsrat und seine Familie genau, kann sich an Fritzens und seiner Brüder Geburt und Kinderjahre genau erinnern und läßt keine Silbe von Fritzens kühner Dichtung bestehen. Letzte Zweifel der Buben zerstreut er, indem er seinerseits die Witwe als Zeugin anruft. Die stimmt ihm natürlich bei und verspottet die Jungen wegen ihrer unerhörten Leichtgläubigkeit: „Na, ihr seid’s mir schöne Eseln! Wenn ihr auch vom Dorf hereingekommen seid’s — aber so blöd braucht’s ihr euch doch nicht anschmieren lassen! — Der ein Sohn von einem Grafen! — Ich weiß noch wie heut — die Frau Czepinka, die Hebamme, hat ihn gebracht — damals haben sie am untern Markt gewohnt, in dem großen Haus, wo unten der Sattler Malik die Werkstatt hat! Da schaut man’s wieder: die Kinder von die feinen Leute! So lügen! Ob ich mich nie schämen möcht’!“

Gleich am nächsten Tage fielen sie über Fritz her und überschütteten ihn mit hohnvollen Vorwürfen so beißend und unerschöpflich, daß er gar nicht dazu kam, sie wegen des gebrochenen Eides zur Rede zu stellen. Kolarczik schnitt ihm gleich das Wort ab: „Du mit deinem Eid! Du kannst mir am Buckel steigen! So a Liegner! Weißt du, was du bist? Du bist a großer Schöps! Das bist du!“

So hatte die Freundschaft ein jähes Ende. Furchtbare Drohungen wurden ausgestoßen, doch blieb es dabei. Sie wußten gegenseitig zuviel „auf einander“ und keiner konnte wirksam den andern verpetzen, ohne selbst mit hineinzufallen. Eine kleine Genugtuung für Fritz war es, daß er die Einstellung der monatlichen Unterstützung an Schneider Josef durchsetzte. Zuerst hatte Kolarczik wohl gedroht, Fritzens Eltern „alles zu sagen“. Aber Fritz hatte ihm wütend entgegengehalten, daß erstens der Sanitätsrat einen so schmierigen Jungen wie den Kolarczik gar nicht einmal anhören würde. Und wenn schon, und wenn er, Fritz, auch totgeschlagen würde — vorher würde auch er noch „alles sagen“ — von der Kostbude, und dem Verhältnis zu der Witwe, und alles überhaupt — und dann würden sie alle aus der Schule hinausgeschmissen, und die Witwe würde sicher eingesperrt. Da hatten sich Kolarczik und Schneider zähneknirschend gefügt. Denn des einen Mutter wie des andern Vater befaßten sich zwar selten mit der Erziehung ihrer Sprößlinge, dann aber höchst gründlich, und schlugen beide keine schlechte Klinge. Und Fritzens Rachsucht kannten sie. Er war „ein Luder“!

Noch eine Folge hatte das Ereignis: als Gretl wieder einmal vom „Krieg“ hören wollte, sagte ihr der Bruder mit dürren Worten, daß er all die Geschichten nur erfunden habe. Gretl stürzte aus allen Himmeln — Lüge war ihr überhaupt unfaßbar — und nun eine so ausgedehnte, furchtbare, durch Jahre hingesponnene Kette von Lügen! Die blinde Verehrung, die sie dem Bruder für seine vermeintlichen Heldentaten gezollt — die rasende Selbstüberwindung, die sie aufgebracht hatte, um das Geheimnis zu wahren — die Gebete vor dem Schlafengehen, der Bruder möchte bei dem heimlichen Verlassen des Hauses oder morgens bei der Rückkehr nicht erwischt werden —: alles umsonst! Sie weinte fassungslos. Es war die erste große Enttäuschung.

Wenn ihn auch die Ablehnung der Schwester, die gehässige Verachtung der ehemaligen Freunde schmerzten, so fühlte Fritz doch starke Erleichterung bei dem Gedanken, daß er sich hinfort nicht mehr anzustrengen brauchte, die einmal erfundenen Lügen krampfhaft durchzuhalten. Und fein war es doch! Der Schneider Josef war ja ein Trottel — aber daß Kolarczik, der alte Gauner, ihm so lange geglaubt hatte — das war schon was wert! — Wegen Gretl schlug ihm wohl das Gewissen — sie hatte so blind vertrauensselig geglaubt. Und war nun so furchtbar traurig. Das sah er nicht gern.

Doch hatte diese Entfremdung auch ihr Gutes: Seit der Storchgeschichte war er fest entschlossen, der Schwester nie wieder von gewissen Dingen zu reden. Und wieviel Geheimnisse hatte er nun zu hüten: Das Rauchen, Trinken, die gelegentlichen Griffe in den Weinkeller, sein reiches Wissen um „die Weiber“, und vor allem: Betty. Mit der war er zu einem merkwürdigen Zustand gekommen: wo immer er sie erwischte, fing er mit ihr zu raufen an, und sie hielt ihm meist leidenschaftlich Widerpart. Er boxte sie heftig, rang mit ihr, warf sie zu Boden oder auf ein Sofa — sie ließ ihn mit heißen Augen gewähren, preßte ihn an sich, zog ihn mit in ihren Sturz. Dann fühlte er durch das dünne Kleid die weiche warme Mädchenbrust und glaubte zu vergehen in dunkler Sehnsucht. Oft endeten diese Zwischenfälle eigenartig — das Mädel machte sich plötzlich aus seiner Umschließung frei, wehrte ihn derb ab, wenn er sie halten wollte, blitzte ihn verächtlich an und lief davon. Einmal nannte sie ihn sogar einen dummen Jungen. Fritz blieb gedemütigt, ratlos zurück und brütete Rache.

Abends beschwerte er sich bei der Mutter, daß seine Schuhe und Kleider so schlecht geputzt würden. Und Betty bekam einen scharfen Verweis.

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