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Fritz geht es in der Schule nicht gut. — Nicht, daß er dumm wäre. Die Lehrer sind sich einig darüber, daß er sogar „einen sehr guten Kopf“ hat. — Aber sie wissen alle, daß er faul ist, die Hausaufgaben meist erst in der Schule macht, kurz vor Beginn des Unterrichts, oder sogar während der Stunde, in der er geprüft werden soll. Manchmal erwischen sie ihn, meist aber rettet ihn sein gutes Gedächtnis, und er rutscht an dem „Ungenügend“ vorbei. Auch ist er unaufmerksam, und schwätzt, und zeigt gelegentlich Ansätze zu Unbotmäßigkeit und frecher Kritik. Der Ehrgeiz und der verbissene Lerneifer seines älteren Bruders Felix, rühmlicher Erinnerung, sind ihm fremd.

Darum lieben sie ihn nicht und zwicken ihn gern. Wenn Vater oder Mutter in die Schule kommen, um nachzufragen, dann erhalten sie unerfreulichen Bescheid: „Der Junge ist begabt, er könnte viel leisten. Aber er hat zuviel Allotria im Kopf! Er müßte wohl kürzer gehalten werden!“ Die Eltern hören den Vorwurf heraus — als ob sie dem Jungen zuviel Freiheit ließen — und ärgern sich wütend. Besonders der Vater. Ihm zeigt der Junge bei den eindringlichsten Strafpredigten, doch auch sonst meist, ein fast dämlich starres Gesicht, hört wortlos, mit niedergeschlagenen Augen, alles an — Ermahnungen, Drohungen, Verbote, Befehle. Der Vater fühlt, daß diese augenscheinliche Fügsamkeit eine Maske ist, hinter der sich Auflehnung oder Trotz verbergen mögen. Doch scheint ihm der Gedanke so ungeheuerlich, daß er es vorzieht, den Jungen für einen Schleicher und Duckmäuser zu halten, für ehrlos kurzum. Das sagt er ihm auch immer wieder, und Fritzens Liebe für ihn wird dadurch nicht gesteigert, doch seine Ehrfurcht nimmt Schaden. „Der Alte kann lang reden,“ sagt Fritz dann verächtlich zur Schwester, „der weiß viel, wer ich bin!“ Und er erzählt ihr vom Krieg.

Der heimliche Verkehr mit den Freunden dauert an. Fritz hat ihnen erzählt, daß er wegen der Storchgeschichte Prügel bekommen hat. Das hat ihren Spott geweckt, aber doch auch eine gewisse Hochachtung vor dem feinen Haus, in dem die Naturgesetze willkürlich abgeleugnet werden. Zum Überfluß hat Fritz ihnen anvertraut, daß er gar nicht der richtige Sohn seiner jetzigen angeblichen Eltern ist, sondern ein Grafenkind, und daß er bis zu seinem zehnten Lebensjahr auf einem riesigen Gut, tief drinnen in Ungarn, aufgewachsen sei, mit Pferden, Hunden und Jagd. „Kannst du auch Ungarisch?“ fragen sie ihn. „Natürlich,“ sagt er stolz und spricht einige Sätze eines selbsterfundenen Kauderwelsch. Dann erzählt er von Bayard, seinem Lieblingsroß, von den Fuchshetzen und der Jagd auf Bär und Eber, nur mit dem kurzen Spieß und den treuen Hunden. Er kommt ins Feuer beim Erzählen, und die Freunde hören ihm gerne zu. Ihr Stillschweigen hat er sich durch furchtbaren Eid gesichert.

Kolarczik fühlt, daß er sein Ansehen als Ältester wahren muß, da ihn Fritz sonst ganz in den Schatten stellt. Darum erzählt er von seinem Vater, der sich totgesoffen habe. „Im Irrenhaus ist er gestorben. Die Ärzte haben gesagt Desiderium tramons oder sowas.“ „Desiderium,“ so weit reichten grade noch die Lateinkenntnisse der drei. Weit entfernt von jeder moralistischen Ablehnung, empfinden sie vielmehr tiefe Ehrfurcht vor der merkwürdigen Todesart. Kolarczik hat wieder das Übergewicht. Der Grafensohn ist beinahe ausgeglichen. Sie möchten selbst zu trinken anfangen, aber das Geld reicht nicht dazu. Fritz hat zehn Pfennige Monatsgeld. Sein Vater sagt: „Essen, trinken, schlafen kannst du zu Hause, Bücher und Kleider werden dir gekauft — also brauchst du kein Geld!“ Hin und wieder steckt ihm wohl der Herr Rat oder sonst ein Freund des Hauses ein paar Groschen zu, vielleicht gar eine Mark. Doch das sind seltene Glücksfälle. Und die Schulbücher kann man doch nur zu Ende des Jahres verkaufen. Schließlich ergibt sich ein Ausweg: Schneider Josef gehört zu den armen Schülern, die vom Hilfsverein für freien Mittagstisch oder monatliche Unterstützung empfohlen werden. Nun setzt es Fritz bei der Mutter durch, daß er sich monatlich einen Taler holen darf. Schneider Josef tut natürlich begeistert mit; so oft er aber seine Spende einkassiert hat, lauert ihn Fritz auf der Treppe ab und läßt sich sein Drittel, eine Mark, auszahlen. Dann geht es auf der finsteren Studentenbude ein paar Tage lang hoch her, mit Bier, Rollmöpsen und Zigaretten. Wein ist zu teuer, und Schnaps ist zu scharf. „Aber von Bier muß man so viel trinken, bis man richtig besoffen ist,“ meint Kolarczik. „Das ist fad! — Ihr habt’s doch so einen großen Weinkeller — schau halt, daß du ein paar Flaschen klauen kannst!“ Fritz wehrt sich zunächst — die Gefahren des Unternehmens sind ungeheuer. Aber die Freunde lassen nicht nach: „Ein schöner Grafensohn!“ höhnen sie. „Wenn’s einmal heißt, Kurasche haben, macht er in die Hosen!“ Das gibt den Ausschlag. Kurz darauf bringt Fritz zwei dickverstaubte Flaschen an. Mehr hat er nicht unbemerkt fortbringen können. Es ist uralter Bordeaux, ganz trüb vom Schütteln. Sie trinken ihn aus schlechtgespülten Biergläsern und singen wüste Lieder dazu. Die Witwe kommt herein und tut mit. Sie setzt sich neben Kolarczik, der sie dreist anfaßt, schlenkert mit den Beinen, daß man die groben, blau und weiß geringelten Strümpfe bis zum Knie hinan sieht. Sie ist recht unsauber und riecht stark. Fritz ist dabei übel zumut. Er fühlt sich als todeswürdiger Verbrecher, hat entsetzliche Angst vor Entdeckung — und ist doch prickelnd aufgeregt und stolz. — Bevor er nach Hause geht, rennt er im bloßen Rock in der Winterluft auf und ab und kaut Pfefferminz, um den Tabak- und Weingeruch loszuwerden. In der Dienstbotenkammer zieht er rasch den Hausanzug an und versteckt die verrauchten Kleider. Betty ist ihm beim Umziehen behilflich, mit merkwürdig eindringlichen Griffen. Fritz hält sich zeitweilig an ihrer Brust an, und sie läßt es geschehen. „Die ist verrückt auf mich!“ denkt er. Aber sein Sieg macht ihm Angst.

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