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Kurz darauf kam die Nachricht nach Hause, Fritz sei von der Lehrerkonferenz in Sitten getadelt worden, wegen Störung des Religionsunterrichts durch Schwätzen und Allotria. Mit diesem Sittentadel hatte es seine eigene Bewandtnis: Fritz hatte, bei der Erörterung der himmlischen Rangordnung, eine der Form nach einwandfreie Zwischenfrage getan — ob nämlich die Engel ewig in ihren Dienststufen verbleiben müßten, oder ob sie auch befördert würden? Aber in Tonfall oder Mienenspiel hatte er wohl den richtigen Ernst allzu unvorsichtig vermissen lassen. Und überdies wußte der Katechet im Augenblick tatsächlich keine Antwort auf die unerwartete Spitzfindigkeit. So goß er erst die Schale seines kanonischen Zornes über den frechen Frager aus und behielt ihn dann scharf im Auge. Und als Fritz, der das Unwetter vorbei wähnte, endlich grinsend einen beifallsuchenden Rundblick durch die Klasse schickte, da griff der Katechet zu, trug ihn ins Klassenbuch ein und verschaffte ihm den Sittentadel. Es war ein offensichtlicher Racheakt, wohl auch eine kleine Rechtsbeugung. Doch angesichts des Tadelbriefes ließen die Eltern keinerlei Rechtfertigung zu, hörten die Darstellung des Jungen gar nicht an. Der Vater prügelte ihn furchtbar, die Mutter aber bestand überdies noch darauf, er müsse mit ihr zum Katecheten gehen und um Verzeihung bitten. Das war das Schlimmste, weit ärger noch als die Prügel, obwohl ihm davon noch jeder Knochen im Leibe weh tat. Er bat flehentlich, ihm den Bittgang zu erlassen. Ihm wurde fast übel bei dem Gedanken, den tödlich gehaßten Schwarzrock um Verzeihung bitten zu sollen. Doch die Mutter gab nicht nach, faßte ihn am Arm und führte ihn, ganz verweint und verschwollen im Gesicht, mit sich. Im Vorflur des großen alten Stiftshauses, in dem der Katechet wohnte, machte Fritz einen letzten verzweifelten Versuch, der furchtbaren Demütigung zu entrinnen. Da wurde die Mutter böse, schlug ihn heftig ins Gesicht, krallte ihm die Finger in den Oberarm — sie kannte die empfindlichen Stellen — und zog die Glocke. Ein hallender Erzton durchzog das weite Haus, dann öffnete ein sanfter Pförtner die Tür, fragte nach dem Begehr der Besucher und führte sie durch lange Gänge, bis vor eine schmale Bogentür. Dort klopfte er an und ging.

Die Tür wurde von innen aufgetan, und der Katechet stand auf der Schwelle. In seinem Gesicht kämpfte Genugtuung und Rachsucht, als er Mutter und Sohn erblickte. Er bat sie ins Zimmer, und die Mutter setzte ihm auseinander, wie sehr sie und ihr Mann über das Benehmen des Jungen empört seien; er habe strenge Strafe bekommen und nun habe sie ihn hergebracht ... Der Katechet unterbrach sie höflich und salbungsvoll, sagte einiges, was Fritz nicht verstand. Haß und das Gefühl völliger Ohnmacht erstickten den Jungen fast. Da hörte er die Mutter sagen: „Also vorwärts — bitte um Verzeihung!“ Und wieder zwickte sie ihn unmerklich in den Arm. „Ich ... ich ...“ stotterte Fritz schluchzend. Immer noch hoffte er, das Aussprechen der widerlichen Formel werde ihm erspart bleiben. Doch der Katechet sagte gedehnt: „Nun ...?“ und Fritz hörte deutlich den beißenden Hohn des Siegers. Der schenkte ihm nichts! Da gruben sich abermals die Finger der Mutter in seinen Arm, und er stieß hervor: „Ich ... bitte ... um ...“ — das Wort „Verzeihung“ aber ging in furchtbarem Aufheulen unter. Der Katechet wollte wohl den Bogen nicht überspannen. Er gab sich zufrieden, gab süß lächelnd der Mutter einige Ratschläge, die ebenso viele giftige Spitzen waren und strich Fritz mit der Gebärde der Vergebung über den Kopf. Dem Jungen rann die Berührung der weichen, fetten Priesterfinger wie Gift durch den Körper. Dann zog ihn die Mutter hinaus.

Von da an zog Fritz nicht mehr den Hut, wenn er an einer Kirche, einem Kruzifix oder Heiligenbild vorbeikam, und zischte unflätige Lästerungen durch die Zähne: „Krepierter Hund!“ — Das war seine Rache.

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