30

Kolarczik und Schneider haben sich an Fritz herangemacht und mit Honigmienen Versöhnung angeboten. Sie quellen über von reumütigen Erinnerungen an die schöne Zeit von ehemals. Fritz spielt zunächst den Unerbittlichen, doch schmeichelt ihm die Unterwürfigkeit der andern doch so sehr, daß seine Widerstände rasch dahinschmelzen.

Im Stadtpark hausen die „Parkindianer“, das sind Kinder der untersten Schichten, von rohen Sitten, Schüler der Volks- und Fortbildungsschulen; auch viele Handwerker — und Fabrikslehrlinge sind darunter. Sie nennen die Gymnasiasten „Gimpel“ und die Realschüler „Retiradschüler“. Denn sie hassen alles, was eine höhere Schule besucht oder einen sauberen Rock trägt. Sie sind ein unzuverlässiges Volk, halten keine Bündnisse und kehren sich nicht an ritterliche Kampfregeln. Sie greifen nur an, wenn sie in der Überzahl sind, dann aber rücksichtslos und ohne Anlaß. „Gelbmütz“ und „Rotkappel“ sind ihre Führer, gefürchtet wegen ihrer Roheit. „Die schmeißen mit Dreck,“ behauptet die Sage.

Für Fritz und seine Freunde ist ein Gang in den Stadtpark stets mit der Gefahr verbunden, von einer erdrückenden Übermacht verprügelt zu werden. Denn wenn auch nur ein einzelner Parkindianer sie erblickt, dann ruft er mit gellendem Pfiff aus den Arbeiterhütten am Parkrand Verstärkung herbei und die Hetzjagd beginnt.

Fritz und seine Freunde gehen nicht — sie geben stets vor, mutige Renner zu reiten. Beim Verlassen der Stadt reißt sich jeder eine Gerte ab, die als Reitpeitsche dient. Damit klopfen sie sich die Waden und tänzeln dahin, während die steifgehaltene linke Faust gedachte Zügel handhabt. Dringt Übermacht auf sie ein, so rasen sie davon und geißeln sich wütend. Fritz besonders kann gänzlich das Gefühl verlieren, daß die Beine zu ihm gehören. Er schlägt sich blutige Striemen, während er atemlos vor den Verfolgern dahinjagt. Noch nie ist er eingeholt worden. Kolarczik und Schneider können auch gut rennen, doch ist er ihnen immer meterweit voraus. Sind sie dann in Sicherheit, so klopft er stolz und dankbar seine schlanken Schenkel. Er hat sie „Falko“ getauft.

An einem Winternachmittag ziehen die frisch versöhnten Freunde hinaus in den Park. Fritz tänzelt und kurbettiert auf Falko.

Weit draußen, am Ufer des dick gefrorenen Flüßchens, finden sie ein halbes Dutzend Parkindianer dabei, auf dem Eis eine lange Rutschbahn herzustellen. Es sind lauter kleine Burschen, die trotz ihrer Überzahl keinen Angriff wagen. Die drei Stadtbuben wollen aber auch nicht anfangen, denn sie wissen, daß ein kleiner Anfangserfolg sich unweigerlich in eine schließliche Niederlage verkehren müßte. Die herbeigepfiffene Verstärkung würde ihnen den Rückweg durch den Park verlegen. — So kommt es zu einem friedlichen Einvernehmen, die Parteien bemühen sich einträchtig um die Rutschbahn. Die ist unheimlich glatt und lang und endet wenige Meter vor einer offenen Stelle, wo das schwarze wirbelnde Wasser durch das Eis dringt. Es handelt sich darum, richtig Anlauf zu nehmen, die Bahn stehend zu durchfahren und möglichst knapp vor dem Loch im Eis mit kurzem Schwung anzuhalten. Das Spiel ist fesselnd. Fritz treibt es toller als die andern. Mit wahrer Wollust läßt er sich bis hart an die Kuhle gleiten. „Weil der Vater immer sagt, ich bin ein Feigling!“ denkt er mit zusammengebissenen Zähnen. „Der weiß viel!“

Da dröhnen durch die dunstige Winterluft die Schläge der Stadtuhr herüber: Dreiviertel vier! Und um vier ist Gesangsstunde, diesmal aber wirkliche Gesangsstunde. Im Laufschritt könnte man noch annähernd zurechtkommen, die kleine Verspätung wäre leicht zu entschuldigen. — Während Fritz noch überlegt, treten die beiden Freunde auf ihn zu: „Du denkst wegen der Gesangsstunde? Sei doch nicht blöd — jetzt wird’s grad schön, da werden wir doch nicht schon weggehen! Schwänzen wir halt! Es kommt ja nicht raus! Und singen können wir hier überhaupt auch!“ Und Kolarczik stimmt ein kerniges Lied an. Fritz ist schnell verführt. Und sie tollen weiter auf dem Eise. Knapp nach fünf brechen sie auf, durchjagen den nächtigen Park — hinter jedem der bereiften Büsche können Feinde lauern — und zu angemessener Zeit landet Fritz im Elternhaus. Falko ist prachtvoll galoppiert, allerdings nicht ohne Peitsche.

Am nächsten Morgen wird Fritz in der Klasse mit den entsetzten Gesichtern, den Gebärden des Abscheus empfangen, wie sie die Mitschüler den überführten Verbrechern aus ihren Reihen zu zeigen pflegen. Er verlangt Aufklärung, doch alle ziehen sich scheu vor ihm zurück, besonders heftig Kolarczik und Schneider. Die erste Stunde, Mathematik, hat der Klassenlehrer. Er ruft sofort Kolarczik, Schneider und Fritz zu sich aufs Katheder und beginnt das Verhör: „Warum habt ihr gestern die Gesangsstunde geschwänzt?“ Und bevor Fritz noch den Mund auftun kann, um die verabredete Entschuldigung vorzubringen, legt Kolarczik schon heulend los. —

Es ist schmählicher Verrat. — Aus Rache! Fritz ist in eine plumpe Falle geraten. Er steht starr vor Entsetzen über soviel Niedertracht: Früh morgens schon waren Kolarczik und Schneider zum Direktor gerannt und hatten weinend gebeichtet, sie hätten sich von Fritz verleiten lassen, die Gesangsstunde zu schwänzen und sie wollten es auch nie, nie, nie wieder tun. Und man möchte sie doch um Gottes willen nicht bestrafen, ihre Kostfrau sei so streng, und ihre Eltern noch mehr. Und Fritz sei doch allein an allem schuld. — Ihr Fernbleiben war tatsächlich gar nicht bemerkt worden. Und da sie trotzdem — dies unterstrich der Klassenlehrer salbungsvoll — freiwillig ein reumütiges Geständnis abgelegt hätten, so sei gnadenweise von einer Bestrafung abgesehen worden. Nicht so bei Fritz, dem böswilligen Anstifter. „Du wirst vielleicht“ — die Stimme des Lehrers knarrte vor Verachtung — „durch gehäufte Lügen deine Schuld zu mindern, dich der wohlverdienten Strafe zu entziehen trachten! Versuche es nicht, zur Schuld noch die Schande zu fügen! Du bist überführt durch das gleichlautende Zeugnis deiner armen Mitschüler! Schweige also!“ — Doch Fritz dachte gar nicht an Verteidigung. Er war wie gelähmt und nahm wortlos das harte Urteil hin: Zwei Stunden Karzer und Bestätigung vom Vater. — Als er stumm auf seinen Platz zurückging, knarrte ihm die böse Stimme nach: „Ein verstockter Sünder! Nun, ich hoffe, daß dir dein Vater das Verständnis für die Tragweite deiner Handlungsweise erschließen wird! Haha!“ Die Klasse gröhlte pflichtschuldig Beifall. Kolarczik aber warf ihm hinter vorgehaltenem Buch einen Blick voll teuflischer Schadenfreude zu.

Und zufällig war am selben Vormittag die Mutter in der Schule und hörte vom Direktor brühwarm die empörende Nachricht. Sie empfing den Knaben zu Hause, bleich und bebend vor Entrüstung, sprach nur wenige schneidende Worte und schickte ihn in die kalte Küche, um die Heimkehr des Vaters abzuwarten. „Ich schlage dich nicht — o nein! Das kann der Papa besser! Warte nur, bis er kommt!“

Der Vater kam gerade diesmal mit arger Verspätung, müde und hungrig, und war doppelt wütend, daß er noch mit Erziehungsfragen aufgehalten wurde. Er fand den Buben halb ohnmächtig von dem stundenlangen Warten auf die Exekution. Irgendeine Verteidigung ließ der Vater so wenig zu, wie es die Mutter getan hatte. Der Fall lag ja sonnenklar. Und die Züchtigung fiel darnach aus. Mehr noch als die gewiß vollwichtigen Prügel schmerzte den Jungen aber die furchtbare Beschimpfung: „Ehrloser Schuft!“ — Und doch erfüllte ihn das Bewußtsein, daß er alle die Qualen zu Unrecht erduldete, mit grausamer Freude. Er zog nicht einmal Gretl nachher ins Vertrauen, auch Nanni und Betty nicht. Dieses stumme Leiden tröstete ihn.

Share on Twitter Share on Facebook