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Immer häufiger beginnt der Vater von seinem nahen Ende zu sprechen. Zwar ist er unverändert rüstig, und dem straffen, aufrechten Körper merkt niemand die vollen siebzig Jahre an. Noch waidwerkt er ungehemmt auf den Brunfthirsch in steilen Waldbergen, keine Frühpirsch, kein Nachtansitz, keine winterliche Treibjagd wird ihm zu sauer. Vielleicht ist es nur eine Redensart, um von den Zuhörern immer wieder die Versicherung zu erhalten, wie so gar kein Anlaß zu solcher Befürchtung gegeben sei. Eine späte Koketterie also, wie sie manchen rüstigen Greis befällt? Oder fühlt er innerlich, daß die Welt schneller zu laufen beginnt, zu schnell, als daß er lange noch mit ihr Schritt halten könnte? —

Nun hat die Stadt endlich ein Kraftwerk gebaut, und es gehört zum guten Ton, elektrisches Licht zu brennen. Die Einrichtung ist nicht länger mehr zu umgehen. Beim Abendessen kommt einmal das Gespräch darauf. Da sagt der Vater, leise und seltsam müde: „Mein Vater, mein Groß- und Urgroßvater haben Öllampen und Kienspan gebrannt, und an Festtagen Wachskerzen. Und mein Vater hatte noch mit neunzig Jahren Augen wie ein Luchs. Aber jetzt? In den letzten zehn Jahren haben wir viermal die Beleuchtung gewechselt — erst die neuen Petroleumlampen mit Rundbrenner, dann das offene Gaslicht, dann Auerlicht, jetzt soll Elektrisches kommen, und morgen vielleicht schon wieder was Neues! Man kommt gar nicht mehr zur Ruhe — die Welt ist verrückt!“ Fritz hat ein unbestimmtes Siegergefühl und beginnt unvermittelt seine Kenntnisse über die neue Erfindung auszukramen: „Die Glühbirne muß luftleer sein, sonst würde der Kohlenfaden verbrennen. Und gegen den Kurzschluß gibt es Sicherungen, das sind ganz dünne Silberdrähte, die in den Stromkreis eingeschaltet werden ...“ Da weist ihn der Vater heftig zur Ruhe: „Halt den Mund und warte, bis du gefragt wirst!“ Und Fritz verstummt, aber er schießt der Schwester einen Triumphblick zu. Und in ihm jubelt es: „Er kann nicht mehr mit — er kann nicht mehr mit!“

Schließlich werden die elektrischen Leitungen gezogen, aber der Vater weigert sich hartnäckig, in den Schlafzimmern Bettlampen anbringen zu lassen. Der Schalter kommt an die Eingangstür, in die Mitte des Zimmers eine Deckenlampe. Auf den Nachttischen werden nach wie vor Kerzen gebrannt. „Das Gas konnte man ja auch nicht vom Bett aus anzünden oder löschen,“ sagt der Vater. Fritz aber meint spöttisch zur Schwester: „Der glaubt, er hält die Zeit auf, wenn er sich’s ja recht unbequem macht! — Ist ja lächerlich!“ —

Und da ist das Telephon, das endlich auch seinen Einzug erzwungen hat. Mein Gott, da hängt nun so ein dunkelpolierter Holzkasten an der Wand, der mit Drahtwerk, Hartgummi- und Nickelteilen geradezu medizinisch anmutet. Das schrille Läutwerk bringt jedesmal das Haus in Aufruhr. Der Vater geht an den Apparat, hebt den Hörer ab, ruft „Halloh“ in die Sprechmuschel, alles mit gemessener, wenn auch etwas krampfhafter Würde. Dabei läßt er kein Auge von der breitgedruckten Gebrauchsanweisung, die daneben an der Wand hängt. Und nachher versäumt er es nie, den Inhalt des Gesprächs der aufhorchenden Gattin kurz zu wiederholen. „Der Direktor Keil bittet, ich soll gegen fünf Uhr nachmittags hinkommen, und ich habe ihm geantwortet ...“ — „Wie Moses nach der Rückkehr vom Berge Sinai, als er mit Gott geplaudert hatte,“ sagt Fritz zur Schwester. Ihm ist übrigens die Benützung des Telephons verboten. „Das ist ein sehr kostspieliger und komplizierter Apparat, den ich beruflich brauche, aber kein Spielzeug für die Kinder!“ So sagt der Vater. Und Fritz trägt, wie gewöhnlich, seinen Ärger zu Gretl: „Wenn er telephoniert, dann spricht er selbst und hört den anderen sprechen — aber deswegen glaubt er doch nicht, daß es so was überhaupt gibt! Ich bin überzeugt, er hat im Grunde Angst! Und wenn er telephonisch wohin gerufen wird, dann geht er zwar, aber bis zum letzten Augenblick ist er nicht sicher, ob es nicht nur ein dummer Witz war! Und deswegen darf ich nicht telephonieren, weil ich mich eben auskenne! Eifersucht, nichts weiter!“ Gretl lächelt gequält und sagt: „Laß ihn, du änderst ihn nicht mehr! Er ist alt!“

Es geht dem Herbst zu, und noch ist über Fritzens nächste Zukunft nicht entschieden. Gegen die Rückkehr an die Universität, in die Großstadt, sprechen gewichtige gesundheitliche Gründe: „Jetzt hat man den Buben ein Jahr lang mühsam herausgefüttert,“ sagt der Vater, „und in der staubigen Großstadt geht der Tanz nach ein paar Wochen wieder los! Dazu habe ich wenig Lust! — Und überhaupt die Universität! Bei deiner notorischen Faulheit brauchst du sicher fünf, sechs Jahre bis zum Doktor, und selbst dann kannst du dich noch lange nicht selbst erhalten. Und wenn ich heute oder morgen einmal nicht mehr da bin, dann möchte ich nicht, daß du etwa Jahrzehnte lang der armen Mama auf der Tasche liegst! — Es gibt ja auch praktische Berufe, in denen man viel schneller zum Verdienen kommt! Was sagst du dazu?“ — Und Fritz schweigt, hauptsächlich, weil er weiß, daß er den Vater damit ärgern kann. Teils aber auch aus wirklicher Ratlosigkeit. Das freie Studentenleben schreckt ihn nach den ersten Erfahrungen mehr, als es ihn reizt. Und wirklich studieren, die elende Schulpaukerei gleich wieder fortsetzen? — Aber ein praktischer Beruf? Schlosser vielleicht? — Der Vater hat wohl schon einen festen Plan, und will jetzt nur sein Einverständnis erlisten, um später einmal sagen zu können: „Du hast’s ja selbst gewollt — man hat dir ja die Wahl gelassen!“ — Wie kläglich war das! Früher einmal, da hieß es: Biegen oder brechen! Der Vater befahl, und die „Kinder“ hatten zu gehorchen. Kein schöner Zustand, bei Gott, aber einfach und klar. Jetzt aber, die Jesuitenkünste! Dem alten Löwen wackelten die Zähne!

Und Fritz schweigt, der Vater aber wird pünktlich böse: „Da hat man’s ja, da steht der ellenlange Kerl wie ein Stück Holz, und sagt nicht A noch B! — Aber ich werde mich nicht mit dir herumärgern und mir die Lunge aus dem Leib reden! — Du gehst heute nachmittag zum Herrn Rat, der wird dich vielleicht eher zum Sprechen bringen!“

Der Herr Rat empfängt den Jungen in seinem prunkvollen Wohnzimmer, weist ihm einen der üppigen, weichen Lehnstühle an, hüstelt ein wenig, saugt passend an seiner dicken Zigarre und beginnt endlich sichtbar verlegen eine vorbedachte Rede. Fritz fühlt sich geschmeichelt von dem großen Apparat, der seinetwegen in Bewegung gesetzt wird, ist aber auch gespannt auf die kommenden Enthüllungen. Das Bewußtsein augenblicklicher Wichtigkeit und der eifrige Wunsch, die dadurch bedingte Überlegenheit zu wahren und nötigenfalls auszunützen, beschäftigen ihn so stark, daß er der gutmütigen, leicht kurzatmigen Stimme des Herrn Rats zunächst nur wohlig lauscht, ohne auf den Sinn der Worte zu achten. Erst ein stark geräuspertes „Verstehst du mich auch?“ reißt ihn aus seinen Träumen.

Ja, also: Der Papa ist alt ... zwar außergewöhnlich rüstig ... aber immerhin — siebzig Jahre ... hat den begreiflichen Wunsch, die Kinder versorgt zu sehen. Bei Felix und Max sei das wohl erreicht, und Gretl, na ja, für die würde sich wohl ein braver Mann finden, ein so prächtiges Mädel, keine Frage ... Ja, aber (hm, hrrr, pschitt), Fritz! Ja! Da sei wohl reiflichste Überlegung am Platze! — Der Geldpunkt allein dürfe keinesfalls ausschlaggebend sein ... Obwohl natürlich ... das lange Studium und die Anfangsjahre in jedem akademischen Beruf, ohne oder fast ohne Gehalt ... immerhin recht weitgehende materielle Opfer ... aber diese Opfer würden ohne weiteres gebracht werden — im Vertrauen: des Vaters Vermögenslage sei durchaus nicht ungünstig, wenn er selbst sich auch als armen Mann hinzustellen liebe; durchaus nicht ungünstig, im Gegenteil, hm, hrr! Aber der Kernpunkt: Ob ausgesprochene Neigung zum Universitätsstudium vorhanden sei, ausgesprochene Neigung und der feste Wille, es darin rasch vorwärts zu bringen ... Darauf komme es wesentlich an ... denn sonst allerdings ... Obwohl von Zwang keine Rede sein solle ... aber immerhin — wie? Hm? —

Fritz beginnt Mitleid zu empfinden für den verlegen hüstelnden alten Freund und bricht mit einer Frage ein: „Um welchen praktischen Beruf handelt es sich?“

Der Herr Rat beantwortet diesen knabenhaften Entwirrungsversuch feingesponnener diplomatischer Fäden zunächst mit einem mißbilligenden Funkeln aus runden Brillengläsern und mit verstärktem Hüsteln. Dann entschließt er sich, in wesentlich trocknerem Ton, zu der sachlichen Mitteilung, er habe einen befreundeten Bankdirektor in Mailand, der bereit wäre, Fritz als Volontär einzustellen. Und er will sich über die Vorzüge und Nachteile des Bankfaches weiter auslassen. Fritz aber unterbricht ihn atemlos: „In Mailand? Wann könnte das sein?“ „Morgen, wenn du willst!“ gibt der Herr Rat gemessen zurück. „Oh ja, oh, bitte, ja, das will ich! Ich gehe nach Mailand!“ Fritz jubelt fast. Umsonst versucht der Herr Rat ihn zum Nachdenken zu bringen ... der endgültige Verzicht auf den akademischen Grad dürfe nicht der Entschluß eines Augenblickes sein, später, im Leben, hänge die gesellschaftliche Stellung nicht unwesentlich davon ab ... dann sei es aber zu spät zur Umkehr ...

Fritz aber hält ihm froh entgegen: „Sie sind ja auch nicht Doktor, und verkehren doch überall!“ Darauf hat der Herr Rat, leise verletzt, nichts mehr zu erwidern. Er fragt nur, etwas förmlich: „Es ist also dein freier und fester Wille?“ Und Fritz schmettert ein begeistertes Ja! Er hat nur Mailand erfaßt, die Weite, die Fremde, die Freiheit! Dorthin reichte die Zuchtrute nicht — dort mochte das Leben beginnen. Bankvolontär? Mein Gott, man konnte auch Kuhhirte sein — in Mailand! Er springt auf, will nach Hause laufen, einpacken ... da hält ihn der Herr Rat zurück: „Ich werde also meinem Freunde schreiben, daß du die Stellung, sagen wir, Mitte September antreten wirst!“ — „Mitte September, noch drei Wochen, warum so lang?“ fragt Fritz enttäuscht. „Bei der großen Entfernung ist an ein Nachhausekommen vor einem Jahre nicht zu denken, wahrscheinlich werden sogar zwei, vielleicht auch drei Jahre vergehen.“ Der Herr Rat spricht mit eindringlicher Würde, mit etwas Schärfe sogar. „Da ist nicht nur Verschiedenes vorzubereiten, an Wäsche, Kleidern und so fort, sondern,“ und die runden Brillengläser blitzen Ermahnungen, „deine Eltern werden dich vor der langen Trennung noch einige Zeit bei sich haben wollen!“ — „Wirklich!“ murmelt Fritz, und verzieht höhnisch den Mund. „Ich dächte, ich bin nun lange genug erzogen worden!“ — Aber der Herr Rat belächelt die Frechheit nicht. Er bleibt ernst und gemessen: „Du begehst ein großes Unrecht! Deine Eltern haben sicher immer nur dein Bestes gewollt! Du hast dir nur nicht die Mühe genommen, sie zu verstehen! Du bist vielleicht auch noch zu jung ...“ — „Sagen Sie lieber, mein Vater ist zu alt, fünfzig Jahre älter als ich, und die Mama dreißig, da ist es schwer mit dem Verstehen! Und mein Vater hat nie daran gedacht, etwa mich verstehen zu wollen ...“ — „Er ist dein Vater,“ sagt der Herr Rat mit Strenge. Und in Fritz erwacht der wilde Trotz seiner Jungenjahre: „Ich habe ihn nicht darum gebeten — und keinesfalls ist das so, daß der Vater nur Rechte hat und der Sohn nur Pflichten — und schließlich ist immer der Knüppel der einzige Dolmetsch! Mein Vater hat mich in die Welt gesetzt — aber darum bin ich noch nicht seine Sache!“

Der Herr Rat winkt peinlich berührt ab: „Lassen wir das ... Du wirst älter werden und über all das ruhiger denken lernen! Da du aber gerade hier bist, hätte ich gerne noch etwas mit dir besprochen ... um so mehr, da du ja jetzt weit fort in die Fremde gehen sollst ... Ja! Hm!“ Und das Räuspern und Hüsteln setzt verstärkt wieder ein ... „Dein Vater findet es sehr schwer, sich mit dir zu verständigen — du tust ja auch tatsächlich nichts, um es ihm irgendwie leichter zu machen — ja! Hm! ... Und so hat er mich gebeten ... Es gibt gewisse Fragen, über die du schwerlich bisher nachgedacht hast, du bist wohl auch zu jung dazu ...; nun handelt es sich darum, dich vor Torheiten zu bewahren! Die Beziehungen des Mannes zum Weibe ... Hm! Hrr! Hrrr!“ Der Herr Rat versteckt sich zeitweilig hinter einem Hustenanfall. In Fritz aber knallt die vorherige Spannung zu der jähen Erkenntnis auseinander: „Er soll mich aufklären!“ Grell wie im Blitzlicht liegt die unerhörte, weltfremde Ahnungslosigkeit der alten Leute vor ihm: die meinen etwa, er glaube noch an den Storch, weil man es ihm vor Jahren einmal so eingeprügelt und seither nicht widerrufen hat! Und der Vater findet es unter seiner Würde, eine frühere Erziehungslüge zuzugeben, darum muß der Herr Rat an die Front! Und der gibt sich dazu her, ahnt nicht, oder will es nicht wahrhaben, daß ein junger Mensch mit neunzehn Jahren sich selbständig Gedanken gemacht, Erkenntnisse verschafft haben könnte! Oh, altes Eisen, altes Eisen! — Und eine entsetzliche, giftige Lachsucht, auf deren Grunde Tränen lauern mögen, erstickt den Jungen fast. Doch er bezwingt sich; Wissen zu zeigen, könnte gefährlich sein. Und dann: dem alten Herrn fällt es ersichtlich schwer, die heiklen Dinge zu erörtern. Mag er sich plagen — die beste Rache!

So senkt der Junge die Augen, um ihr Glitzern zu verbergen, klemmt schmerzhaft das Wangenfleisch zwischen die Backenzähne, damit nicht das Gesicht in breitem Grinsen zergehe, und knetet fieberhaft die Finger ineinander. Der Herr Rat nimmt es für schamhafte Verlegenheit, wird dadurch selbst noch befangener und räuspert, hustet, stottert linkische Erklärungen, Andeutungen, Warnungen ... — Alimente ... Erpressung ... Krankheit ... Zwangsehe ... Das Geheimnis der Menschwerdung wird in dem Greisenmund zur gefahrdrohenden Klippe, zum häßlichen Schattenfleck. Fritz fühlt seine Erinnerungen, seine Triebe sich regen, unrein und doch unwiderstehlich lockend; lastend, wie ein süßer Fluch. — Die niedergepreßten Augenlider erzeugen rotglühende Bilder, in deren Schauern es sich verliert — Weiber mit geil prunkenden Geschlechtsmerkmalen, Busen, Hüften, Schenkel, dunkles Kraushaar auf weißem Fleisch, Weiber, lüstig hingestreckt, kniend, kauernd, breitbeinig stehend — Weiber — doch keine hat ein Gesicht. Nur ihr Geschlecht lockt aus dem roten Nebel ... Weiber ...

Da klingt die Stimme des Herrn Rats, väterlich, mit ernster Rührung geladen: „Versprich mir das, mein lieber Junge!“ „Ja, ich verspreche es,“ sagt Fritz mechanisch und gibt eine bebende Hand. Er weiß nicht, was er versprochen hat. Die Erregung sitzt ihm an der Kehle wie eine würgende Hand. So tappt er heim.

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