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Hinter dem weiten Ezbekiehgarten dehnt sich ein Netz von Straßen und Gäßchen, in denen Haus um Haus mit grellen Lampen prunkt und lockt. Aus aufreizend verhängten oder schamlos weit offenen Fenstern dringt schrilles Lachen, Musik, Gläserklang. Weiber lehnen an den Brüstungen der Fenster und Balkone, lassen pralle Dirnenbeine in durchbrochenen Seidenstrümpfen sehen, nackte Arme und Brüste, mehlweiß gepudert und von Schweißperlchen getigert. Da und dort wirft eine einen Lockruf in den Straßenlärm, ein derbes Scherzwort auch, halb Schimpf. Und im Strome der Müßiggänger, der träge durch die Straße treibt, bleibt mancher Fant stehen, schickt prüfenden Käuferblick empor, lüsterne Wechselrede oder rohe Abwehr; Fische, die nach eklem Köder schnappen. — Beizend, würgend fast, springt der Geruch scharfen Räucherwerks aus Hausfluren, Wolken von Rosenöl, Sandelholz, Moschus dazwischen. Da und dort drängt sich billiges europäisches Riechwasser dünkelhaft vor. Ein Stadtteil, in dem hemmungslos der Trieb herrscht, die Brunst, die alles färbt und durchdringt, was in ihren Dunstkreis gerät. Da weiten sich gierige Nüstern über tierisch gebleckten Zähnen, aus rollenden Augen blitzt Fleischhunger, und die alltäglichen Rufe der Straßenhändler klingen wie Lustschreie in der überreizten Luft. Der röchelnde Schrei der Eselhengste aber weckt Vorstellungen maßloser Ausschweifung, weckt, ansteckend, das Tier in manchen der Männer, daß sie jäh die Gebärde des müßigen Bummlers abtun und sich atemlos, keuchend in eines der Haustore stürzen, um das erstbeste Weib ihrem Trieb zu unterjochen.

Weiter weg von der Stadtmitte werden die Gassen enger, die Häuser winkeliger, schmutziger, bis sie sich in das Elendsviertel des „Fischmarktes“ verlieren. Dort haben die Häuser keine Türen mehr. Derbe Holzgitter schließen die breiten Öffnungen der Erdgeschosse. In den schmutzigen Höhlen dahinter, von Messinglämpchen kaum erhellt, kauern Weiber auf dem nackten Lehmboden, eingeborene Weiber, in grelle Lumpen gekleidet, die unverhüllten Gesichter mit Henna und Kohle geschminkt, Messingzierat im verfilzten Haar, und ihre Lockrufe schneiden durch den stickigen Brodem wie Klageschrei gefangener Tiere: „Oh Moslim, bleibt stehen!“ So manche unter ihnen weist grausige Merkmale ihres Gewerbes auf, fressende Schwäre an Gesicht und Brust. Doch wer kennt die Männer und ihre Launen? Vielleicht läßt sich einer verlocken, oder er übersieht das Gebreste im spärlichen Lampenschein — und der sieche Leib verlangt seine Nahrung. „Bleibt stehen, oh Moslim: um ein Stück Brot, um ein Gericht Bohnen, oh Moslim!“

Fritz stolpert über das höckerige Pflaster wie in bösem Traum, von bitterem Ekel geplagt. — Die elendeste, räudigste Hündin folgte zur Paarung nur dem eigenen Trieb, biß sich die ungewollten Bewerber vom Leibe. Und jeder Hund, auch der stärkste, achtete ihr Wahlrecht, ließ sich beißen und biß nicht zurück. So konnte ein Menschenweib tiefer sinken als das elende Tier, unter die Grenzen der Natur hinab? Und herrische Verachtung will sich regen — Weib! — Der Mann aber, dem dies lustlose Anbieten und Gewähren gilt, der Mann, der es brünstig nutzt, feilschend entlohnt, entmenscht er sich nicht schamloser, schmutziger noch? War es Herrenlust, wenn man dem geilen Tier die Zügel ließ, gab nicht jeder, der einmal nur, irgendwann, blindem Trieb gefolgt, damit auch der letzten, aussätzigen Dirne recht? — Und die prahlend genossenen Erfolge der frühen Jugendjahre schrumpfen ein zu häßlichen Flecken. Betty, Minna, und Yvonne selbst — schmähliche Siege. Kam es darauf an, begehrt zu werden, in kaltem Jägerehrgeiz ein Wild zu hetzen, das gern erlegt sein wollte? Oh, Liebe fühlen können, frei und allmächtig durchflutend, wie die Wüstensonne draußen, ohne sinnepeitschendes Beiwerk, Liebe, die kein ekles Nachher kannte, von Selbstverachtung durchgeifert, Liebe, Liebe ...

Doch wo die Frau finden, der diese Liebe gelten konnte, die Frau, deren reiner Leib die Lust noch zu adeln, zu heiligen vermochte, wo sie suchen, die Erlöserin? Qual der Erwartung!

Draußen, hinter den Lehmmauern voll Brunst und Unrat atmet lau die nächtige Wüste. Dort ist der Jungbrunn, dort die sühnende Quelle. Dort laß den Leib Genesung finden, Vergessen trüber Lüste, daß er geläutert der Königin harre!

Und jeder freie Tag und drei Nächte in jedem Monat — Vollmond, die Nacht vor- und die nachher — gehören der Wüste. Stundenlanges Reiten durch feinen Sand, durch scharfes Geröll, über felsige Hänge hinauf, hinunter. Die kleinen Esel klettern wie Ziegen, legen sich schwer in die Zügelhand, ungeachtet des scharfen Stangengebisses. Der heiße Wüstenwind wirbelt feine Kieskörnchen an die dürrgebrannte Haut, bläht das weitoffene Hemd, weckt stürmende Daseinsfreude. „Nun erst bin ich jung!“ denkt Fritz beseligt. — Gibt es da oben im Norden irgendwo eine düstere Kleinstadt inmitten flacher Rübenfelder, die grau in endlosem Regen verschwimmen? Gab es je ein Leben, von Verboten eng umzirkt, einen Vater, dessen harte Strenge man haßte, mit Lüge umging — und doch neidisch ersehnte? — Armer, alter Mann, du hast dir, schwer genug, das bißchen Macht erkämpft — die Sonne aber, die Freude sind dir fremd geblieben! Laß mich stark werden hier draußen, und frei — dann will ich heimkehren, und ein Abglanz dieser farbensatten Tage soll Licht in deine müden Augen bringen!

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