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Draußen bei den Pyramiden steht das Wasser meterhoch auf den Feldern, setzt guten, schwarzen Schlamm ab und spart den Fellachen das Düngen.

Durch die Stadt geht das Herbstfieber, Denga nennen sie es, packt ein paar sommerbleiche Europäer und schüttelt sie, bis sie krebsrot sind, wie vom Sonnenbrand. Morgens und abends ziehen Nebel durch die Straßen, herrisch und drohend, wie die feiernden Soldaten eines Invasionsheeres. Das ist die Zeit, wo die Schiiten zu Ehren ihres Heiligen ihren alljährlichen Umzug halten.

Von einer Moschee hoch oben in der Mouski kommt der Zug und geht durch die Mouski zum Hause eines persischen Notabeln. Es sind fast durchwegs Perser, die mittun.

Die kleinen Krämer zu beiden Seiten der engen Straße stellen Sessel auf den schmalen Bürgersteig vor ihren Läden und vermieten sie zu ein, zwei Piastern. In der Straße drängt sich das Volk. Der Ordnungsdienst ist einfach: Wenn die Schauîsche zu Fuß nicht mehr ausreichen, um die Bahn freizuhalten, dann werden oben irgendwo soviel Berittene nebeneinander gestellt, daß sie die Straße eben ausfüllen. Dann ein letztes, warnendes „Ouaah hazîb — oha, Achtung!“ des Polizeioffiziers, und los, vom Fleck weg im Galopp, die Straße hinunter. Überritten wird fast nie jemand; und wenn schon — die Pferde sind nicht beschlagen. Nur hinter den Reitern ist die Straße dicht bestreut mit großen, gelben Lederpantoffeln, Tarbouschen und Nabbûts, den krummen Bauernstöcken.

So oft auch die Straße unter der Menschenmenge verschwindet, die Reiter fegen sie immer wieder rein, bis auch die Hartnäckigsten es müde werden und sich in die Seitengäßchen verziehen, oder sich in die Lücken der Sesselreihen auf dem Bürgersteig quetschen.

Auf den Sesseln sitzen die Europäer und warten.

Der aufwirbelnde Staub, der schwere Geruch von Hammelfett, von gebackenen, gebratenen, gesottenen Unmöglichkeiten, der Dunst der Menge liegt wie eine wuchtende Plache über der engen Straße, läßt den Schall nicht verflattern, wirft ihn wieder und wieder zurück — Schreie, Flüche, klappernde Hufe, Stimmengesumm.

Endlich — der Zug. Ein letztes Mal fegen die Reiter vorbei; hinter ihnen her schweres Blutlicht, überholt sie, hüllt sie ein. Näher — jetzt — der Zug.

Ein kleiner Eselwagen mit Holzscheiten, Fackelträger zu beiden Seiten. Die Fackeln: an langen Stangen Körbe, aus Eisenbändern geflochten. Darin brennen Holzscheite; will eine verlöschen, so wird aus dem Wagen neu nachgelegt.

Die offen brennenden Scheite geben Glut und Rauch; es ist, als würde aus den Eisenkörben dicker, dunkler Wein hochgeschleudert und flösse an Dingen und Menschen herunter.

Dann ein Pferd, reiterlos, altertümlich reich gezäumt.

Im Sattel stecken ein paar lange Pfeile; früher einmal staken sie im Pferdeleib — jetzt nur im Sattel.

Das Pferd als lebendige Erinnerung an das Schlachtroß des toten Heiligen.

Dann der persische Konsul mit den Notabeln, alle im dunklen Kaftan, und dem dunklen persischen Tarbousch. Stumm, würdig und — ein wenig unbeteiligt schreiten sie vor sich hin.

Ob sie der Glaube treibt, oder die Pflicht? Wir kennen diese Mienen — zu europäisch — weiter!

Die Gläubigen. Die erste Gruppe — zehn, zwölf Leute. Sie haben den Kaftan offen, die linke Brust entblößt, rufen die Heiligen: Hussein! Hassan!

Bei jedem Ruf ein Faustschlag an die Brust.

Die dumpfen Schläge und Rufe durchschüttern das glutige Dämmer wie das Hämmern eines gigantischen Herzens, das Blut durch die Riesenader dieser Straße triebe.

Ein Abstand — die zweite Gruppe. Leute mit nacktem Oberkörper — wieder zehn, zwölf — eine geschlossene, schwere Eisenkette in doppelter Windung um den Hals geschlungen. „Hussein! Hassan!“ bei jedem Ruf ein Riß an der Kette, einmal mit der linken, einmal mit der rechten Hand. Blut rieselt von den wundgerissenen Schultern.

Ein herrischer Geruch drängt sich vor, pocht hart an die Schläfen, macht die Augen glitzern —: Blut!

Kein Laut mehr aus den Reihen der Zuschauer; der Rhythmus hat sie bezwungen, ihre Herzen klopfen hart im Takt mit dem Anruf: „Hussein! Hassan!“

Noch ein Pferd; ein weißes Bündel darauf; eine Puppe — nein — ein Kind! Ein dreijähriger Bub in weißem Hemdchen, gestützt und gehalten von dem Mann, der das Pferd führt. Ein blankes Dolchmesser in der Kinderfaust. Auf dem kleinen, glattrasierten Kopf eine Schnittwunde. Das dünne Stimmchen kräht mit, fest im Rhythmus: „Hussein! Hassan!“ Und ein kurzes Schlürfen dazwischen, weil ihm das Blut in dünnem Faden übers Gesicht in den rechten Mundwinkel läuft.

Dringlicher wird der Blutdunst, drückender und aufreizender.

Nun die letzten — die Schwertmänner. Zu beiden Seiten der Straße je ein Dutzend Leute, mit kahlen Köpfen und langen, weißen Gewändern, die vom geronnenen Blut mit schweren, inkrustierten Mustern überdeckt sind und starren, wie Brokat. In den Händen alte Schwerter, haarscharf geschliffen. Alle hundert Schritte bleiben sie stehen, der Straßenmitte zugewandt, fassen die Schwerter mit beiden Händen und — Hussein! Hassan! — bei jedem Ruf ein Schnitt über den Schädel. Im freien Raum zwischen ihnen springt ein Kerl herum, mit einem blutgetränkten Lappen; der wischt über die Gesichter, daß sie nicht geblendet werden vom rieselnden Blut. Und will einer nachlassen, dann springt er vor ihn hin und brüllt ihm ins Gesicht: „Hussein! Hassan!“ bis der wieder das Schwert fester packt und losschlägt. Der Heilige will keine Schwächlinge unter seinen Dienern.

Die Schwertmänner schreiten weiter; hundert Schritte. Hinter ihnen läßt ein kurzes Grauen noch einen freien Raum, dann schlägt die Menschenflut über der Straße zusammen und verebbt langsam in die Seitengassen.

Der Blutdunst bleibt liegen, wie ein sattes Tier ...

In einem der kleinen Kaufläden drängt sich eine erregte Gruppe. Vielsprachiges Durcheinander: „Wasser! ... Einen Arzt! ... Einen Wagen!“ — Eine Europäerin ist ohnmächtig geworden. Bestrafter Touristenehrgeiz! — Und Fritz will gleichmütig den vorangehenden Fremden folgen. Da sieht er, die Menge der kopflos diensteifrigen Syrianer und Fellachen überragend, ein Mädchen im Hintergrund des Ladens stehen, deren Augen ihn mit ruhiger Bitte rufen. Er steht zögernd, kämpft mit wütender Schüchternheit, mit Mißtrauen, will achselzuckend fort, doch die blauen Augen lassen ihn nicht los. Er drängt sich durch den schmalen Raum, da klingt ihm ein tiefer Alt entgegen: „Sie sind Deutscher — bitte helfen Sie mir — meine Mutter hat den entsetzlichen Dunst nicht vertragen. — Es war so maßlos töricht vom Dragoman, uns herzuführen — wir hatten keine Ahnung ...“ Der feiste Dragoman, in knisternde Rohseide gekleidet, will den Vorwurf wortreich abwehren, beginnt tönende Versicherungen, daß dieses, gerade dieses Schauspiel von den fremden Ladies sehr geliebt sei — und seine breiten Lippen wollen Unrat schmatzen. Fritz sieht das fremde Mädchen peinvoll erröten und fällt dem Schwätzer scharf ins Wort: „Schweige, o Dragoman, und hole einen Wagen, sogleich und schnell!“ Und der Dragoman berührt bei dem arabischen Befehl demütig Brust und Stirne und eilt davon. Fritz wendet sich zu der Schar der schaulustigen Stutzer mit französischer Höflichkeit: „Die Herren haben zweifellos nur die Versicherung abgewartet, daß ihre Dienste von den Damen nicht gewünscht werden, um sich zurückzuziehen!“ Und die Syrianer stolpern mit verlegenem Grinsen hinaus. Nur der Ladeninhaber bleibt. „Durch deine Güte aber, o Hausherr,“ spricht Fritz ihn an, „wird sogleich ein wenig Essigwasser hierher gebracht werden!“ Und wieder klingt der tiefe Alt: „Vielen Dank ... es war nur eine kleine Schwäche ... die vielen zudringlichen Leute vor allem ... Vielen Dank!“ Fritz sieht die weißhaarige alte Dame an, die kraftlos hingesunken in der gepolsterten Eckbank lehnt: Gesicht und Hände wachsfarben, mühsames Atmen weitet zuckend die feinen Nasenflügel. Nun umfaßt ihn prüfend ein müder Blick aus großen, blauen Augen: „Gitta, wer ist der Herr?“ — „Ein Landsmann, Mama, der uns die Gaffer vom Hals geschafft hat!“ Und Fritz verbeugt sich gehemmt, stottert seinen Namen. — „Sie haben wenig Verkehr hier?“ fragt die weiche Stimme, und ein Unterton, wie von leisem Lachen, läßt ihn jäh aufschauen.

Das Mädchen steht frei vor ihm; knapp und klar fließt das weiße Tuchkleid von den kräftigen Schultern, der schmale Kopf sitzt stolz auf edlem Halse. Unter dem kleinen Lederhut quillt straffes, dunkles Haar, starke schwarze Brauen tragen die weiße Stirne, lange schwarze Wimpern säumen das Auge von tiefem Blau. Der Mutter Auge. Von der Mutter auch die feine Nase, den Lippen aber, blutvoll, fest, die sich über starken Zähnen öffnen, fehlt der Mutter kränkliche Weichheit. Darunter, fast zu wuchtig für das Mädchengesicht, ein kantiges Kinn, das keinen Kleinmut kennt. Da deutet nichts auf eine Kindheit voll Gewalt und Lüge — Ruhe und Freiheit liegen auf dem schönen Gesicht, und das Bewußtsein reicher Kraft. In Fritz züngelt trotziger Neid auf, doch der klare Blick entwaffnet ihn schnell. Sie wiederholt ihre Frage, und schickt ihr ein Lächeln nach, das wohl der hartnäckigen Musterung gelten mag: „Sie haben wenig Verkehr hier?“ — „Ich habe einige Kameraden,“ sagt Fritz. Aber es klingt leise und weich, und sollte doch scharfe Abwehr unerwünschten Spottes sein.

Da fährt der Wagen vor. Der Dragoman hüpft heraus, gibt, über die Schulter zurück, dem Kutscher laute und überflüssige Weisungen, füllt den Laden mit lärmender Geschäftigkeit. Die alte Dame erhebt sich, auf den Arm der Tochter gestützt. Fritz eilt an ihre andere Seite. Sie dankt mit leisem Kopfneigen und legt federleicht eine schmale Greisenhand auf seinen Arm, wie um seinen Diensteifer nicht zu verletzen. Nun sitzen die Damen im Wagen, der Dragoman schwingt sich auf den Bock, da beugt sich die Tochter vor: „Nochmals schönen Dank — und bitte, besuchen Sie uns doch — wir wohnen im Ghezireh-Palace — Hostrup, Gitta Hostrup heiße ich. — Ja?“ Die Mutter nickt bekräftigend, und Fritz verbeugt sich tief, unnötig tief, wie er wütend fühlt. Als er verwirrt aufschnellt, springen die Pferde, unter Peitschenknall, eben ins Geschirr, und eine Straßenbiegung schluckt den Wagen. Im letzten Augenblick noch trifft ihn ein Blick aus klaren Mädchenaugen.

Fritz beginnt, wo er steht, gegen sich selbst zu wüten — stampft hart den Fuß aufs Pflaster, krallt sich die Finger der Linken um die Kehle, und die rechte Faust fällt dröhnend auf den Schenkel. „Esel, neunmal verfluchter Esel — benimmt sich wie ein Wildschwein!“ zischt er giftig. Und wie er das Erlebnis überdenkt, wächst seine Wut. Das Zögern erst, bevor er sich zur Hilfe herbeiließ — zur Hilfe! Hilfe!! — Vielsprachige Mätzchen mit dem käuflichen Schwein, dem Dragoman, mit den schmierigen Syrianern! — Dem Dragoman einen Tritt in den speckigen Steiß und den Syrianern jedem eins in die Fresse, das wäre das Richtige gewesen! — Dafür wieder kein Wort zu der alten Dame, keine Frage nach ihrem Befinden, und dort, bei Gott, stand unbenützt die spitzbäuchige Messingkanne mit dem verlangten Essigwasser! Unbenützt! „Möge dein Haus den heutigen Abend nicht überleben, o Sohn zweier Juden!“ krächzt er dem bestürzten Krämer zu. „Warum hast du der kranken Frau das Essigwasser nicht angeboten?“ — „Durfte ich ihr etwas anbieten, o Herr,“ verteidigt sich der Gekränkte, „in ihrer Tochter und deiner Gegenwart? Gott ist gütig!“ — „Verflucht sei dein Vater!“ meint Fritz und wendet sich zum Gehen.

So also — das war die Lebensreise des Weltreisenden! Für die alte Dame keinen Finger gerührt, und der Tochter unverschämt ins Gesicht gestarrt, daß sie ihn zweimal fragen muß, ob er wohl wenig Verkehr hat? Natürlich, mit solchem Benehmen! Tanzstundenbär — Bauernlackel! Die ewige Schüchternheit, die ihn zwischen kopflosem Trotz und Lakaiendemut hin und her riß! Wie war es denn mit Komteß Christel — war das gestern oder vor zehn Jahren? — Und er ertappt sich dabei, wie er mit lautem Stöhnen Falko zum Galopp boxt. — Die blauen Augen unter dunklen Brauen! Das schlanke, edle Ebenmaß! — Schmerzgeschüttelt bleibt er stehen, beißt sich die Knöchel blutig, spuckt giftig aus: „Hab’ mich gern, Bestie!“ — Wie ihn der Blick immer noch durchsengt! O Schöne, Schöne! Und würgende Tränen ...

Dann plötzlich knallt die Frage auf: „Wozu der Jammer? — Ich gehe hin — gehe ins Hotel — mache meinen Besuch — Fräulein Gitta Hostrup, Hostrup, jawohl! — und wenn ich Zeit habe, mich vorzubereiten, nicht überrumpelt werde, wie heute, dann benehme ich mich sicher wie ein Herr!“

Ins Hotel — Ghezireh-Palace? — Das ist das ganz feine, unten auf der Nilinsel, wo Fürsten und Millionäre wohnen — drei Portiers und siebentausend verdammte Lakaien — dort Besuch?

Ach ja: Sich peinlich anziehen, im Wagen bis zum Portal fahren, dann die zwanzig Schritte bis zum Hauseingang — dann aufstampfen, ausspucken, und zum Wagen zurück rennen und fluchend heimfahren und sich tagelang elend und verworfen fühlen! Ach ja!

„Nicht mir bist du bestimmt, du Licht aus blauen Augen,

Nie werd’ ich, schlanke Hand, dich auf der Stirne fühlen,

Euch, roten Lippen, bleibt mein Name ewig fremd!“

„Ein Waschlappen bin ich — daran ändern die schlechtesten Verse nichts!“ Und verbissen in selbstgewollten Schmerz langt er zu Hause an.

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