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Eines Tages findet Fritz in einer technischen Zeitschrift eine Tabelle, die die fortschreitende Entwicklung der Schußwaffen und Verkehrsmittel vom Beginn der geschichtlichen Zeitrechnung bis in die letzte Neuzeit bildlich darstellt. Und er sieht, wie die Kurve durch Jahrtausende allmählich, unmerklich fast, ansteigt, um plötzlich scharf geknickt, senkrecht in die Höhe zu schnellen.

Mit den altpersischen Postreitern und Schnelläufern reisten Briefe ebenso rasch wie zu Napoleons Zeit. Und die Garden des großen Kaisers schossen nicht weiter als die schottischen Bogenschützen des Mittelalters.

Dann der Sprung: Eisenbahn, Telegraph, Telephon, Hinterlader, Schnellfeuergeschütz. — Wie sollte ein Geschlecht, dem jahrtausendaltes Beharrungsvermögen schwer im Blute lag, in seiner breiten Masse sich dem verzehnfachten Tempo anpassen? Mußte es nicht haltlosen Taumel, trotziges Gegenstemmen geben, bis neuer Nachwuchs herangereift war, der das schwebende Gleichgewicht, die ewige Sprungbereitschaft mitbrachte?

Und Fritz denkt an des Vaters müde Worte, als das elektrische Licht kam, an die Scheu vor dem Telephon, denkt auch mit Beschämung an sein eigenes Frohlocken: „Er kann nicht mehr mit!“ —

Nein, er konnte nicht mehr mit. — Aber wieviel knorrige Wurzelfestigkeit war doch in diesem Stehenbleiben! Ein Vater aus der Zeit, wo man allen Hausrat für Lebensdauer anschaffte, auch noch auf Kind und Kindeskinder vererbte; und ein Sohn, in stetem Wechsel groß geworden, immer bereit, das kaum erfaßte Heute für ein neues Morgen hinzuwerfen, abzutun: so wahr nie zuvor das Weltrad gleich rasend vorgeschnellt war, so wahr auch mußten an diesem Brechpunkt der Kurve Vater und Sohn einander fremd, feindlich fast gegenüberstehen, wie nie zuvor. Und die letzten Reste wehleidigen Stolzes auf die Unbilden der Kindheit, auf das harte Ausnahmsschicksal, verfliegen, weichen beschämender Frage: „Lebte wahrhaft das Neue in mir, fühlte ich mich mit emporgerissen im steigenden Ast —: warum dann habe ich nicht, hart auf hart, den Willen zum Neuen dem alten Willen entgegengesetzt? Warum aber, vor allem, warum habe ich nie wahrhaft versucht, dieses Gestern zu verstehen, zu durchdringen, das schön sein mochte, und ererbter Wahrheit voll —, warum habe ich gehaßt, ohne mich zu prüfen, ob ich nicht lieben könnte? Warum? ...“

Reuig trägt er seine Selbstanklage Gitta vor. Da kommt ein froher Schein in ihr Gesicht, und einen Augenblick lang fühlt er ihre Hand auf der seinen. „Liebe kommt nie zu spät“, sagt sie leise. Und er sehnt sich plötzlich nach dem Vater.

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