IV.

Mit dem Auftreten der Zoë als Arzt erwache bei uns, sagten wir bereits, ein neues Interesse. Wir würden gespannt sein zu erfahren, ob eine solche Heilung, wie sie von ihr an Hanold vollzogen wird, begreiflich oder überhaupt möglich ist, ob der Dichter die Bedingungen für das Schwinden eines Wahnes ebenso richtig erschaut hat wie die seiner Entstehung.

Ohne Zweifel wird uns hier eine Anschauung entgegentreten, die dem vom Dichter geschilderten Falle solches prinzipielle Interesse abspricht und kein der Aufklärung bedürftiges Problem anerkennt. Dem Hanold bleibe nichts anderes übrig, als seinen Wahn wieder aufzulösen, nachdem das Objekt desselben, die vermeintliche »Gradiva« selbst, ihn der Unrichtigkeit all seiner Aufstellungen überführe und ihm die natürlichsten Erklärungen für alles Rätselhafte, z. B. woher sie seinen Namen wisse, gebe. Damit wäre die Angelegenheit logisch erledigt; da aber das Mädchen ihm in diesem Zusammenhange ihre Liebe gestanden, lasse der Dichter, gewiß zur Befriedigung seiner Leserinnen, die sonst nicht uninteressante Erzählung mit dem gewöhnlichen glücklichen Schluß, der Heirat, enden. Konsequenter und ebenso möglich wäre der andere Schluß gewesen, daß der junge Gelehrte nach der Aufklärung seines Irrtums mit höflichem Danke von der jungen Dame Abschied nehme und die Ablehnung ihrer Liebe damit motiviere, daß er zwar für antike Frauen aus Bronze oder Stein und deren Urbilder, wenn sie dem Verkehr erreichbar wären, ein intensives Interesse aufbringen könne, mit einem zeitgenössischen Mädchen aus Fleisch und Bein aber nichts anzufangen wisse. Das archäologische Phantasiestück sei eben vom Dichter recht willkürlich mit einer Liebesgeschichte zusammengekittet worden.

Indem wir diese Auffassung als unmöglich abweisen, werden wir erst aufmerksam gemacht, daß wir die an Hanold eintretende Veränderung nicht nur in den Verzicht auf den Wahn zu verlegen haben. Gleichzeitig, ja noch vor der Auflösung des letzteren, ist das Erwachen des Liebesbedürfnisses bei ihm unverkennbar, das dann wie selbstverständlich in die Werbung um das Mädchen ausläuft, welches ihn von seinem Wahn befreit hat. Wir haben bereits hervorgehoben, unter welchen Vorwänden und Einkleidungen die Neugierde nach ihrer leiblichen Beschaffenheit, die Eifersucht und der brutale männliche Bemächtigungstrieb sich bei ihm mitten im Wahne äußern, seitdem die verdrängte Liebessehnsucht ihm den ersten Traum eingegeben hat. Nehmen wir als weiteres Zeugnis hinzu, daß am Abend nach der zweiten Unterredung mit der Gradiva ihm zuerst ein lebendes weibliches Wesen sympathisch erscheint, obwohl er noch seinem früheren Abscheu vor Hochzeitsreisenden die Konzession macht, die Sympathische nicht als Neuvermählte zu erkennen. Am nächsten Vormittag aber macht ihn ein Zufall zum Zeugen des Austausches von Zärtlichkeiten zwischen diesem Mädchen und seinem vermeintlichen Bruder, und da zieht er sich scheu zurück, als hätte er eine heilige Handlung gestört. Der Hohn auf »August und Grete« ist vergessen, der Respekt vor dem Liebesleben bei ihm hergestellt.

So hat der Dichter die Lösung des Wahnes und das Hervorbrechen des Liebesbedürfnisses innigst miteinander verknüpft, den Ausgang in eine Liebeswerbung als notwendig vorbereitet. Er kennt das Wesen des Wahnes eben besser als seine Kritiker, er weiß, daß eine Komponente von verliebter Sehnsucht mit einer Komponente des Sträubens zur Entstehung des Wahnes zusammengetreten sind, und er läßt das Mädchen, welches die Heilung unternimmt, die ihr genehme Komponente im Wahne Hanolds herausfühlen. Nur diese Einsicht kann sie bestimmen, sich seiner Behandlung zu widmen, nur die Sicherheit, sich von ihm geliebt zu wissen, sie bewegen, ihm ihre Liebe zu gestehen. Die Behandlung besteht darin, ihm die verdrängten Erinnerungen, die er von innen her nicht freimachen kann, von außen her wiederzugeben; sie würde aber keine Wirkung äußern, wenn die Therapeutin dabei nicht auf die Gefühle Rücksicht nehmen, und die Übersetzung des Wahnes nicht schließlich lauten würde: Sieh', das bedeutet doch alles nur, daß du mich liebst.

Das Verfahren, welches der Dichter seine Zoë zur Heilung des Wahnes bei ihrem Jugendfreunde einschlagen läßt, zeigt eine weitgehende Ähnlichkeit, nein, eine volle Übereinstimmung im Wesen, mit einer therapeutischen Methode, welche Dr. J. Breuer und der Verfasser im Jahre 1895 in die Medizin eingeführt haben, und deren Vervollkommnung sich der letztere seitdem gewidmet hat. Diese Behandlungsweise, von Breuer zuerst die »kathartische« genannt, vom Verfasser mit Vorliebe als »analytische« bezeichnet, besteht darin, daß man bei den Kranken, die an analogen Störungen wie der Wahn Hanolds leiden, das Unbewußte, unter dessen Verdrängung sie erkrankt sind, gewissermaßen gewaltsam zum Bewußtsein bringt, ganz so wie es die Gradiva mit den verdrängten Erinnerungen an ihre Kinderbeziehungen tut. Freilich, die Gradiva hat die Erfüllung dieser Aufgabe leichter als der Arzt, sie befindet sich dabei in einer nach mehreren Richtungen ideal zu nennenden Position. Der Arzt, der seinen Kranken nicht von vornherein durchschaut und nicht als bewußte Erinnerung in sich trägt, was in jenem unbewußt arbeitet, muß eine komplizierte Technik zu Hilfe nehmen, um diesen Nachteil auszugleichen. Er muß es lernen, aus den bewußten Einfällen und Mitteilungen des Kranken mit großer Sicherheit auf das Verdrängte in ihm zu schließen, das Unbewußte zu erraten, wo es sich hinter den bewußten Äußerungen und Handlungen des Kranken verrät. Er bringt dann Ähnliches zu stande, wie es Norbert Hanold am Ende der Erzählung selbst versteht, indem er sich den Namen »Gradiva« in »Bertgang« rückübersetzt. Die Störung schwindet dann, während sie auf ihren Ursprung zurückgeführt wird; die Analyse bringt auch gleichzeitig die Heilung.

Die Ähnlichkeit zwischen dem Verfahren der Gradiva und der analytischen Methode der Psychotherapie beschränkt sich aber nicht auf diese beiden Punkte, das Bewußtmachen des Verdrängten und das Zusammenfallen von Aufklärung und Heilung. Sie erstreckt sich auch auf das, was sich als das Wesentliche der ganzen Veränderung herausstellt, auf die Erweckung der Gefühle. Jede dem Wahne Hanolds analoge Störung, die wir in der Wissenschaft als Psychoneurose zu bezeichnen gewohnt sind, hat die Verdrängung eines Stückes des Trieblebens, sagen wir getrost des Sexualtriebes, zur Voraussetzung, und bei jedem Versuch, die unbewußte und verdrängte Krankheitsursache ins Bewußtsein einzuführen, erwacht notwendig die betreffende Triebkomponente zu erneutem Kampf mit den sie verdrängenden Mächten, um sich mit ihnen oft unter heftigen Reaktionserscheinungen zum endlichen Ausgang abzugleichen. In einem Liebesrezidiv vollzieht sich der Prozeß der Genesung, wenn wir alle die mannigfaltigen Komponenten des Sexualtriebes als »Liebe« zusammenfassen, und dies Rezidiv ist unerläßlich, denn die Symptome, wegen deren die Behandlung unternommen wurde, sind nichts anderes als Niederschläge früherer Verdrängungs- oder Wiederkehrkämpfe und können nur von einer neuen Hochflut der nämlichen Leidenschaften gelöst und weggeschwemmt werden. Jede psychoanalytische Behandlung ist ein Versuch, verdrängte Liebe zu befreien, die in einem Symptom einen kümmerlichen Kompromißausweg gefunden hatte. Ja, die Übereinstimmung mit dem vom Dichter geschilderten Heilungsvorgang in der »Gradiva« erreicht ihre Höhe, wenn wir hinzufügen, daß auch in der analytischen Psychotherapie die wiedergeweckte Leidenschaft, sei sie Liebe oder Haß, jedesmal die Person des Arztes zu ihrem Objekte wählt.

Dann setzen freilich die Unterschiede ein, welche den Fall der Gradiva zum Idealfall machen, den die ärztliche Technik nicht erreichen kann. Die Gradiva kann die aus dem Unbewußten zum Bewußtsein durchdringende Liebe erwidern, der Arzt kann es nicht; die Gradiva ist selbst das Objekt der früheren, verdrängten Liebe gewesen, ihre Person bietet der befreiten Liebesstrebung sofort ein begehrenswertes Ziel. Der Arzt ist ein Fremder gewesen und muß trachten, nach der Heilung wieder ein Fremder zu werden; er weiß den Geheilten oft nicht zu raten, wie sie ihre wiedergewonnene Liebesfähigkeit im Leben verwenden können. Mit welchen Auskunftsmitteln und Surrogaten sich dann der Arzt behilft, um sich dem Vorbild einer Liebesheilung, das uns der Dichter gezeichnet, mit mehr oder weniger Erfolg zu nähern, das anzudeuten, würde uns viel zu weit weg von der uns vorliegenden Aufgabe führen. –

Nun aber die letzte Frage, deren Beantwortung wir bereits einigemal aus dem Wege gegangen sind. Unsere Anschauungen über die Verdrängung, die Entstehung eines Wahnes und verwandter Störungen, die Bildung und Auflösung von Träumen, die Rolle des Liebeslebens und die Art der Heilung bei solchen Störungen sind ja keineswegs Gemeingut der Wissenschaft, geschweige denn bequemer Besitz der Gebildeten zu nennen. Ist die Einsicht, welche den Dichter befähigt, sein »Phantasiestück« so zu schaffen, daß wir es wie eine reale Krankengeschichte zergliedern können, von der Art einer Kenntnis, so wären wir begierig, die Quellen dieser Kenntnis kennen zu lernen. Einer aus dem Kreise, der, wie eingangs ausgeführt, an den Träumen in der »Gradiva« und deren möglichen Deutung Interesse nahm, wandte sich an den Dichter mit der direkten Anfrage, ob ihm von den so ähnlichen Theorien in der Wissenschaft etwas bekannt worden sei. Der Dichter antwortete, wie vorauszusehen war, verneinend und sogar etwas unwirsch. Seine Phantasie habe ihm die »Gradiva« eingegeben, an der er seine Freude gehabt habe; wem sie nicht gefalle, der möge sie eben stehen lassen. Er ahnte nicht, wie sehr sie den Lesern gefallen hatte.

Es ist sehr leicht möglich, daß die Ablehnung des Dichters nicht dabei Halt macht. Vielleicht stellt er überhaupt die Kenntnis der Regeln in Abrede, deren Befolgung wir bei ihm nachgewiesen haben, und verleugnet alle die Absichten, die wir in seiner Schöpfung erkannt haben. Ich halte dies nicht für unwahrscheinlich; dann aber sind nur zwei Fälle möglich. Entweder wir haben ein rechtes Zerrbild der Interpretation geliefert, indem wir in ein harmloses Kunstwerk Tendenzen verlegt haben, von denen dessen Schöpfer keine Ahnung hatte, und haben damit wieder einmal bewiesen, wie leicht es ist, das zu finden, was man sucht, und wovon man selbst erfüllt ist, eine Möglichkeit, für die in der Literaturgeschichte die seltsamsten Beispiele verzeichnet sind. Mag nun jeder Leser selbst mit sich einig werden, ob er sich dieser Aufklärung anzuschließen vermag; wir halten natürlich an der anderen, noch erübrigenden Auffassung fest. Wir meinen, daß der Dichter von solchen Regeln und Absichten nichts zu wissen brauche, so daß er sie in gutem Glauben verleugnen könne, und daß wir doch in seiner Dichtung nichts gefunden haben, was nicht in ihr enthalten ist. Wir schöpfen wahrscheinlich aus der gleichen Quelle, bearbeiten das nämliche Objekt, ein jeder von uns mit einer anderen Methode, und die Übereinstimmung im Ergebnis scheint dafür zu bürgen, daß beide richtig gearbeitet haben. Unser Verfahren besteht in der bewußten Beobachtung der abnormen seelischen Vorgänge bei Anderen, um deren Gesetze erraten und aussprechen zu können. Der Dichter geht wohl anders vor; er richtet seine Aufmerksamkeit auf das Unbewußte in seiner eigenen Seele, lauscht den Entwicklungsmöglichkeiten desselben und gestattet ihnen den künstlerischen Ausdruck, anstatt sie mit bewußter Kritik zu unterdrücken. So erfährt er aus sich, was wir bei Anderen erlernen, welchen Gesetzen die Betätigung dieses Unbewußten folgen muß, aber er braucht diese Gesetze nicht auszusprechen, nicht einmal sie klar zu erkennen, sie sind infolge der Duldung seiner Intelligenz in seinen Schöpfungen verkörpert enthalten. Wir entwickeln diese Gesetze durch Analyse aus seinen Dichtungen, wie wir sie aus den Fällen realer Erkrankung herausfinden, aber der Schluß scheint unabweisbar, entweder haben beide, der Dichter wie der Arzt, das Unbewußte in gleicher Weise mißverstanden, oder wir haben es beide richtig verstanden. Dieser Schluß ist uns sehr wertvoll; um seinetwegen war es uns der Mühe wert, die Darstellung der Wahnbildung und Wahnheilung sowie die Träume in Jensens »Gradiva« mit den Methoden der ärztlichen Psychoanalyse zu untersuchen. –

Wir wären am Ende angelangt. Ein aufmerksamer Leser könnte uns noch mahnen, wir hätten eingangs hingeworfen, Träume seien als erfüllt dargestellte Wünsche, und wären dann den Beweis dafür schuldig geblieben. Nun, wir erwidern, unsere Ausführungen könnten wohl zeigen, wie ungerechtfertigt es wäre, die Aufklärungen, die wir über den Traum zu geben haben, mit der einen Formel, der Traum sei eine Wunscherfüllung, decken zu wollen. Aber die Behauptung besteht und ist auch für die Träume in der Gradiva leicht zu erweisen. Die latenten Traumgedanken – wir wissen jetzt, was darunter gemeint ist – können von der mannigfaltigsten Art sein; in der Gradiva sind es »Tagesreste«, Gedanken, die ungehört und unerledigt vom seelischen Treiben des Wachens übrig gelassen sind. Damit aber aus ihnen ein Traum entstehe, wird die Mitwirkung eines – meist unbewußten – Wunsches erfordert; dieser stellt die Triebkraft für die Traumbildung her, die Tagesreste geben das Material dazu. Im ersten Traume Norbert Hanolds konkurrieren zwei Wünsche miteinander, um den Traum zu schaffen, der eine selbst ein bewußtseinsfähiger, der andere freilich dem Unbewußten angehörig und aus der Verdrängung wirksam. Der erste wäre der bei jedem Archäologen begreifliche Wunsch, Augenzeuge jener Katastrophe des Jahres 79 gewesen zu sein. Welches Opfer wäre einem Altertumsforscher wohl zu groß, wenn dieser Wunsch noch anders als auf dem Wege des Traumes zu verwirklichen wäre! Der andere Wunsch und Traumbildner ist erotischer Natur; dabei zu sein, wenn die Geliebte sich zum Schlafen hinlegt, könnte man ihn in grober oder auch unvollkommener Fassung aussprechen. Er ist es, dessen Ablehnung den Traum zum Angsttraum werden läßt. Minder augenfällig sind vielleicht die treibenden Wünsche des zweiten Traumes, aber wenn wir uns an dessen Übersetzung erinnern, werden wir nicht zögern, sie gleichfalls als erotische anzusprechen. Der Wunsch, von der Geliebten gefangen genommen zu werden, sich ihr zu fügen und zu unterwerfen, wie er hinter der Situation des Eidechsenfanges konstruiert werden darf, hat eigentlich passiven, masochistischen Charakter. Am nächsten Tage schlägt der Träumer die Geliebte, wie unter der Herrschaft der gegensätzlichen erotischen Strömung. Aber wir müssen hier innehalten, sonst vergessen wir vielleicht wirklich, daß Hanold und die Gradiva nur Geschöpfe des Dichters sind.

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