»Was, von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.«
Goethe.
Den Menschen ist seit jeher aufgefallen, daß ihre nächtlichen Traumgebilde mancherlei Ähnlichkeit mit den Schöpfungen der Poesie verraten, und Dichter wie Denker haben mit Vorliebe diesen in Form, Inhalt und Wirkung zu Tage tretenden Beziehungen nachgespürt. Die bei diesem Bemühen aufgetauchten Ahnungen und Einsichten sind, wenn sie sich auch nicht zur Erkenntnis verdichtet haben, doch für das Wesen der beiden miteinander verglichenen Phänomene so bezeichnend, daß sich auch für die wissenschaftliche Betrachtung eine Orientierung über diese Meinungen verlohnt. Den Traumforscher wird dabei vor allem interessieren, welche Schätzung und welches Verständnis die intuitiven Seelenkenner dem Traumrätsel entgegenbrachten, in welcher Art die Dichter ihre Kenntnis des Traumlebens in den Werken zu verwerten wußten, und endlich welche tieferen Zusammenhänge zwischen den sonderbaren Fähigkeiten der »schlafenden« und der »inspirierten« Seele sich etwa erkennen lassen.
Dichteraussprüche über Bedeutung und Wesen des Traumes.
Vor allem wird der Psychoanalytiker mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, daß die intuitive Erfassung genialer Menschen dem Traum immer eine Bedeutung beigemessen hat, die wohl in Widerspruch zu dem Urteil der offiziellen Wissenschaft und der intellektuellen Mehrheit tritt, sich aber dafür auf ein jahrtausende altes, endlich durch die Psychologie sanktioniertes Vorurteil des Volkes berufen darf. Die Überzeugung, daß im Traumleben der Schlüssel zur Erkenntnis der menschlichen Seele, also des Menschen überhaupt, gegeben sei, findet sich wiederholt mit dem größten Nachdruck ausgesprochen. So heißt es in Hebbels »Tagebüchern« (6. August 1838): »Die menschliche Seele ist doch ein wunderbares Wesen und der Zentralpunkt aller ihrer Geheimnisse ist der Traum.« Und der Dichter Jean Paul, der seinen Träumen besondere Aufmerksamkeit und ein sorgfältiges Studium widmete, sagt: »Wahrlich, mancher Kopf würde uns mehr mit seinen Träumen als mit seinem Denken belehren, mancher Dichter mehr mit seinen wirklichen Träumen als mit seinen gedichteten ergötzen, so wie der seichteste Kopf, sobald er in eine Irrenanstalt gebracht ist, eine Prophetenschule für den Weltweisen sein kann.« Und an einer anderen Stelle bemerkt er ergänzend: »Besonders könnte ich mich wundern, warum man den Traum nicht gebraucht, um daran den unwillkürlichen Vorstellungsprozeß der Kinder, der Tiere, der Wahnsinnigen zu studieren, sogar der Dichter, der Tonkünstler und der Weiber.«
Eine ähnliche Schätzung hat Ferdinand Kürnberger für den Traum: »Wahrlich, wären die Menschen sinniger, die feinen Winke der Natur zu beobachten und zu deuten, dieses Traumleben müßte sie aufmerksam machen. Sie müßten finden, daß von dem großen Rätsel, nach dessen Lösung sie dürsten, die Natur uns hier schon die erste Silbe eingeflüstert hat.«
Der geistreiche Philosoph Lichtenberg, dem wir feine Beobachtungen und Bemerkungen über dieses Thema verdanken, schreibt einmal: »Ich empfehle Träume nochmals. Wir leben und empfinden so gut im Traum als im Wachen, und das eine macht so gut als der andere einen Teil unserer Existenz aus. Es gehört unter die Vorzüge des Menschen, daß er träumt und es weiß. Man hat schwerlich noch den rechten Gebrauch davon gemacht. Der Traum ist ein Leben, das mit dem unserigen zusammengesetzt das wird, was wir menschliches Leben nennen. Die Träume verlieren sich in unser Wachen allmählich herein, und man kann nicht sagen, wo das eine anfängt und das andere aufhört.«
Und Nietzsche, den wir als direkten Vorläufer der Psychoanalyse auch auf diesem Gebiete anerkennen müssen, kennt ähnliche Beziehungen des Traumes zum Wachleben (184): »Was wir im Traume erleben, vorausgesetzt, daß wir es oftmals erleben, gehört zuletzt so gut zum Gesamthaushalt unserer Seele wie irgend etwas wirklich Erlebtes: wir sind vermöge desselben reicher und ärmer, haben ein Bedürfnis mehr oder weniger und werden schließlich am hellen lichten Tage und selbst in den heitersten Augenblicken unseres wachen Geistes ein wenig von den Gewöhnungen unserer Träume gegängelt.«
Daß er auch hier nicht vor den Konsequenzen seiner Auffassung zurückschreckte, zeigt folgende Stelle aus der »Morgenröte«: »In allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur nicht für eure Träume! Welche elende Schwächlichkeit, welcher Mangel an folgerichtigem Mute! Nichts ist mehr euer Eigen als eure Träume! Nichts mehr euer Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer – in diesen Komödien seid ihr alles ihr selber! Und hier gerade scheut und schämt ihr euch vor euch, und schon Ödipus, der weise Ödipus, wußte sich Trost aus dem Gedanken zu schöpfen, daß wir nichts für das können, was wir träumen(185). Ich schließe daraus: daß die große Mehrzahl der Menschen sich abscheulicher Träume bewußt sein muß. Wäre es anders: wie sehr würde man seine nächtliche Dichterei für den Hochmut des Menschen ausgebeutet haben!«
Ähnlich wertet auch Tolstoi den Traum: »Wenn ich wache, kann ich mich wohl über mich selbst täuschen, der Traum dagegen gibt mir den rechten Maßstab für die Stufe sittlicher Vollkommenheit, die ich erreicht habe.« (Nachl. Bd. III.)
Und Lichtenberg urteilt: »Wenn Leute ihre Träume aufrichtig erzählen wollten, da ließe sich der Charakter eher daraus erraten als aus dem Gesicht.«
Im gleichen Sinne hat sich jüngst noch Gerhart Hauptmann geäußert: »Alle verschiedenen Arten und Grade der Träume erforscht zu haben, würde bedeuten, in einem weit tieferen Sinne, als irgend einem heutigen Kenner der menschlichen Seele zu sein.« (Immanuel Quint.)
Ganz psychoanalytisch im Detail der Anweisung klingt endlich eine Eintragung aus Hebbels »Tagebüchern«: »Wenn sich ein Mensch entschließen könnte, alle seine Träume, ohne Unterschied, ohne Rücksicht, mit Treue und Umständlichkeit und unter Hinzufügung eines Kommentars, der dasjenige umfaßte, was er etwa selbst nach Erinnerungen aus seinem Leben und seiner Lektüre an seinen Träumen erklären könnte, niederzuschreiben, so würde er der Menschheit ein großes Geschenk machen. Doch so wie die Menschheit jetzt ist, wird das wohl keiner tun; im stillen und zur eigenen Beherzigung es zu versuchen, wäre auch schon etwas wert.«
Aber nicht nur die Bedeutung des Traumlebens für die Menschenkenntnis wird von den Dichtern anerkannt, sondern sie wissen auch über das Wesen des Traumes im einzelnen viel Interessantes auszusagen, was sich oft auffällig mit den Ergebnissen der psychoanalytischen Forschung deckt. Der von den Traumdeutern und Traumbüchern seit jeher angewandte Kunstgriff, die Traumauslegung dem Beruf des Träumers anzupassen, findet sich in der Dichtung wiederholt angedeutet, mit dem Hinweis, daß sich überhaupt die Gedanken des Tages ins Traumleben fortsetzen(186). Die Auffassung, daß jeder Mensch seinen Interessen und Neigungen entsprechend träume, wird häufig in einer dem Wunscherfüllungsprinzip angenäherten Form ausgesprochen. So heißt es bei Chaucer (The Parlement of Foules, 99 ff.):
»The wery hunter, sleping in his bed,
To wode ayein his minde goth anoon;
The juge dremeth how his plees ben sped;
The carter dremeth, how his cartes goon;
The riche of gold; the knight fight with his foon,
The seke met he drinketh of the tonne;
The lover met he hath his lady wonne.«
Ähnlich hat Shakespeare in der berühmten Stelle von »Romeo and Juliet« das Wirken der »Queen Mab« geschildert:
»And in this state she gallops night by night
Through lovers’ brains and then they dream on love;
O’er courtiers’ knees, that dream on court’sies straight,
O’er lawyers’ fingers, who straight dream on fees,
O’er ladies’ lips, who straight on kisses dream
. . . . . . . . . . . . . .
Sometimes she gallops o’er a courtier’s nose,
And then dreams he of smelling out a suit;
And sometimes comes she with a tithe-pig’s tail
Tickling a parson’s nose as a’ lies asleep,
Then dreams he of another benefice« (Act I, Sc. 4).
Und als Beispiel aus der deutschen Dichtung sei Johann Peter Uz mit einem Vers zitiert(187):
»Ein jeder gleichet seinen Träumen:
Im Traume zecht Anakreon;
Ein Dichter jauchzt bei seinen Reimen
Und flattert um den Helikon.
Für euch, Monaden, flicht mit Schlüssen
Ein Liebling der Ontologie;
Und allen Mädchen träumt von Küssen:
Denn was ist wichtiger für sie?«
Die infantilen Traumquellen in der Dichtung.
Daß man sich in naiveren Zeitaltern auch vor der dichterischen Darstellung grob sexueller Traumbefriedigungen nicht scheute, mag das folgende griechische Liebesgedicht (Ausg. v. O. Kiefer) zeigen:
Wohlfeil kuriert.
Die Sthenelais, die Stadtentzündende, Feuerbezahlte,
Welche die Wünschenden all überschütten mit Gold,
Hat ganz nackt ein Traum in der Nacht mir zur Seite gezaubert;
Bis zum lieblichen Licht hat sie mir alles gewährt.
Nicht mehr werd’ ich nun knie’n vor der Grausamen; werde für mich nicht
Forthin weinen; der Schlaf hat es mir alles gewährt.
Als Gegenstück sei der griechische Schwank von dem weisen Richter genannt, »der einer Kurtisane das Spiegelbild ihres Lohnes empfahl, als sie von ihrem Liebhaber die Bezahlung forderte, weil er sie im Traume genossen hatte« (v. d. Leyen, p. 98). Möglicherweise gehört in diesen Zusammenhang auch die Fabel von dem schönen Jüngling Endymion, den seine Geliebte Selene, so oft er von der Jagd ermüdet entschlummert war, liebend in zärtlicher Umarmung besuchte, und dem sein Vater Zeus auf seine Bitten ewigen Schlaf und Jugend gewährte. Diese reizende Phantasie hat Wieland im »Musarion« als erotischen Wunschtraum gefaßt:
– – – – – – und wenn Endymion,
(Dem Luna, daß sie ihn bequemer küssen möge,
So schöne Träume gab) durch eine Million
Von Sonnenaltern stets in süßen Träumen läge
Und träumt’, er schmaus’ am Göttertisch
Mit Jupitern und buhle mit Göttinnen
– – – – – – –
Sprich, wer gestände unerrötend ein,
Er wünsche sich Endymion zu sein?
Nicht nur die wunschgerechte Fortsetzung des Wachdenkens im Schlafzustand ist den Dichtern bekannt, sondern auch die zweite bedeutsamere Traumquelle des infantilen Lebens. So sagt Dryden (The Cock and the Fox) vom Traum:
»Sometimes forgotten things long cast behind
Rush forward in the brain and come to mind.
The nurse’s legends are for truth received,
And the man dreams but what the boy believed.«
Am schönsten hat Lenau diese Rückkehr des Träumers ins Jugendland als tröstende und wunscherfüllende Traummacht gepriesen:
»Trägt aber uns der Schlaf mit weicher Hand
Ins Zauberboot, das heimlich stößt vom Strand,
Und lenkt das Boot im weiten Ozean
Der Traum herum, ein trunkner Steuermann,
So sind wir nicht allein, denn bald gesellen
Die Launen uns der unbeherrschten Wellen
Mit Menschen mancherlei, vielleicht mit solchen,
Die feindlich unser Innres tief verletzt,
Bei deren Anblick sich das Herz entsetzt,
Getroffen von des Hasses kalten Dolchen;
An denen gerne wir vorüberdenken,
Um tiefer nicht den Dolch ins Herz zu senken. –
Dann wieder bringen uns die Wellenfluchten,
Wohin wir wachend nimmermehr gelangen,
In der Vergangenheit geheimsten Buchten,
Wo uns der Jugend Hoffnungen empfangen.
Was aber hilft’s? Wir wachen auf – – entschwunden
Ist all das Glück, es schmerzen alte Wunden.
Schlaflose Nacht, du bist allein die Zeit
Der ungestörten Einsamkeit.«
E. T. A. Hoffmann, der dem Traum und ähnlichen Zuständen größte Beachtung schenkte, schreibt im »Kater Murr« (I, 1): »Ewig unerforschlich bleibt uns das erste Erwachen zum klaren Bewußtsein! – Wäre es möglich, daß dies mit einem Ruck geschehen könnte, ich glaube, der Schreck darüber müßte uns töten. Wer hat nicht schon die Angst der ersten Momente im Erwachen aus tiefem Traum, bewußtlosem Schlaf, empfunden, wenn er sich selbst fühlend, sich auf sich selbst besinnen mußte! – Doch, um mich nicht weit zu verlieren, ich meine, jeder starke psychische Eindruck in jener Entwicklungszeit läßt wohl ein Samenkorn zurück, das eben mit dem Emporsprossen des geistigen Vermögens fortgedeiht, und so lebt aller Schmerz, alle Lust jener Stunden der Morgendämmerung in uns fort und es sind wirklich die süßen, wehmutsvollen Stimmen der Lieben, die wir, als sie uns aus dem Schlafe weckten, nur im Traum zu hören glaubten, und die noch in uns forthallten.«
Und Jean Paul sucht diese Traumregel, die Hebbel in die Formel faßt: »Alle Träume sind vielleicht nur Erinnerungen«, zu begründen: »Die weiter rückwärts liegende Vergangenheit, in welche sich so viel nachherige eingesponnen, besucht und reizt uns Träumer mehr als die Leere des vorherigen Tages.« – »Der Traum setzt uns nach Herders schöner Bemerkung immer in Jugendstunden zurück; – ganz natürlich, weil die Enge der Jugend die tiefsten Fußtritte in dem Felsen der Erinnerung ließ, und weil eine ferne Vergangenheit schon öfter und tiefer in den Geist eingegraben wird als eine ferne Zukunft.«
Das diesem Infantilstreben zu Grunde liegende Problem der Regression hat Hebbel wenigstens geahnt: »Diejenigen Träume, welche etwas ganz Neues, wohl gar Phantastisches bringen, sind in meinen Augen bei weitem nicht so bedeutend als diejenigen, welche die ganze Gegenwart bis auf die leiseste Regung der Erinnerung töten und den Menschen in das Gefängnis eines längst vergangenen Zustandes zurückschleppen. Denn bei jenen ist doch nur dasselbe Vermögen wirksam, worauf die Kunst und alles, was mehr oder weniger annähernd zu ihr heranführt, beruht und was man Phantasie zu nennen pflegt; bei diesen aber eine ganz eigentümliche, rätselhafte Kraft, die den Menschen im eigentlichsten Verstande sich selbst stiehlt und die ausgemeißelte Statue wieder in den Marmorblock einschließt.« (Tgb. 6. August 1838.)
Und Nietzsche (Menschl. II, 27 ff.) hat es deutlich erkannt: »Im Schlafe und im Traume machen wir das ganze Pensum früheren Menschtums durch . . . . Der Traum bringt uns in ferne Zustände der menschlichen Kultur wieder zurück und gibt ein Mittel an die Hand, sie besser zu verstehen.«
Die Traumfunktion in dichterischer Auffassung.
Erfreulich ist auch, zu sehen, wie die Dichter gewisse hartnäckige Vorurteile, die jeder tieferen Traumerkenntnis im Wege standen, durch ihre kühne antithetische Auffassung zu tiefen Einsichten ummünzen. So hat Hebbel die scheinbare Unverständlichkeit der Traumbilder daraus erklärt, daß wir die Sprache des Traumes nicht verstünden, und auf seine Zusammensetzung aus einzelnen, den Buchstaben vergleichbaren Elementen, hingewiesen. (»Tagebuch« 1842): »Wahnsinnige, verrückte Träume, die uns selbst im Traume doch vernünftig vorkommen: die Seele setzt mit einem Alphabet, das sie noch nicht versteht, unsinnige Figuren zusammen, wie ein Kind mit den 24 Buchstaben; es ist aber gar nicht gesagt, daß dies Alphabet an und für sich unsinnig ist.«
Die Auffassung des Traumes als Schlafhüter, die gerade beim Erwachen infolge eines Reizes dem subjektiven Empfinden so sehr zu widersprechen scheint, hat bereits Jean Paul vertreten: »Sobald der Geist sogar zu stärkeren Angriffen von außen nur eine Traumgeschichte zu erfinden weiß, die jene motiviert und einwebt: so verlängert gerade der Traum den Schlaf.«
Auch der uralte, wohl am tiefsten eingewurzelte Aberglaube von der divinatorischen Kraft des Traumes ist durch Hebbel im wahren Sinne des Wortes umgewertet worden: »Die Alten wollten aus dem Traum weissagen, was dem Menschen geschehen würde. Das war verkehrt! Weit eher läßt sich aus dem Traum weissagen, was er tun wird.« Und in anderer Form:
»Der Traum als Prophet.
Was dir begegnen wird, wie sollte der Traum es dir sagen?
Was du tun wirst, das zeigt er schon eher dir an.«
Angst- und Wunschträume in der Dichtung.
Nach diesen Proben wird es uns nicht wundern zu erfahren, daß die Ausnahmemenschen, deren geistiges Leben in einem hohen Grade der Selbstbeobachtung und Selbstdarstellung dient, im Verständnis des Traumes zu den tiefsten Einsichten gelangten. Ist die Konstatierung der Tagesanknüpfung und der Kindheitsreste nur eine – wenn auch scharfsichtige – Deskription des manifesten Trauminhaltes, so weisen einzelne feine Bemerkungen auf das Wirken latenter Traumfaktoren und die ihnen entsprechende Dynamik des Trieblebens hin. Wenn Goethe einmal (12. März 1828) zu Eckermann sagt: »Ich habe in meinem Leben Zeiten gehabt, wo ich mit Tränen einschlief; aber in meinen Träumen kamen nun die lieblichsten Gestalten, mich zu trösten und zu beglücken, und ich stand am anderen Morgen wieder frisch und froh auf den Füßen«, so kommt darin neben dem Wunschcharakter besonders der von der Traumarbeit bewirkte Stimmungswechsel durch Affektverkehrung zur Geltung.
Ganz Ähnliches berichtet Gottfried Keller in seinem Traumbuch (Baechtold I, 307): »Auffallend ist es mir, daß ich hauptsächlich, ja fast ausschließlich in traurigen Zeiten . . . . heitere und einfach liebliche Träume habe.«
Mit voller Deutlichkeit ist die wunscherfüllende Tendenz des Traumes ausgedrückt in Lenaus »Savonarola«, wo der Dulder, nachdem er die Qualen der Folter erlitten hat, von Paradieseswonnen träumt. Den gleichen Traumcharakter kennt E. T. A. Hoffmann, der noch die infantile Herkunft der tröstenden Traumbilder betont: »Wenn ich als ein Armer, Elender, ermüdet, zerschlagen von der mühseligen Arbeit nachts auf dem harten Lager ruhte, dann kam der Traum und goß, mir in lindem Säuseln die heiße Stirn fächelnd, alle Seligkeit irgend eines glücklichen Moments, in dem mir die ewige Macht die Wonne des Himmels ahnen ließ und dessen Bewußtsein tief in meiner Seele ruht, in mein Inneres« (»Doge und Dogaresse«).
Die hier ausgesprochene Überzeugung von einer dem manifesten Inhalt oft entgegengesetzten Traumregung scheut auch nicht vor der äußersten Konsequenz der Anwendung auf den Angsttraum zurück, der mit unterdrückten erotischen Regungen in Beziehung gebracht wird. So sagt der nach einem genußreichen Leben asketisch gewordene Zacharias Werner:
»Selbst in der sieben Hügel Schoß
War das Gelüst mein Taggenoß,
Mein Nachtgesell das Grauen!«
In sehr hübscher symbolischer Einkleidung ist der Angsttraum eines Mädchens in einem Gedicht aus »Des Knaben Wunderhorn« dargestellt(188):
Wenn ich den ganzen Tag
Geführt hab’ meine Klag’,
So gibt’s mir noch zu schaffen.
Bei Nacht, wann ich soll schlafen
Ein Traum mit großen Schrecken
Tut mich gar oft aufwecken.
Im Schlaf seh ich den Schein
Des Allerliebsten mein,
Mit einem starken Bogen,
Darauf viel Pfeil’ gezogen,
Damit will er mich heben
Aus diesem schweren Leben.
Zu solchem Schreckgesicht
Kann ich stillschweigen nicht,
Ich schrei mit lauter Stimmen:
»O Knabe laß dein Grimmen,
Nicht wollst, weil ich tu’ schlafen,
Jetzt brauchen deine Waffen!«
Das dem Angsttraum zugeordnete Alpdrücken hat Shakespeare an der bereits erwähnten Stelle direkt auf den Sexualakt bezogen:
This is the hag, when maids lie on their backs,
That presses them, and learns them first to bear,
Making them women of good carriage.
(Dies ist die Hexe, welche Mädchen drückt,
Die auf dem Rücken ruhn, und ihnen lehrt,
Als Weiber einst die Männer zu ertragen.)
(Schlegel-Tieck.)
Ein moderner Lyriker endlich, J. R. Becher, hat direkt die psychoanalytische Auffassung des Angsttraumes in Verse gebracht (Gedichte, Berlin 1912):
»Die Wünsche, die ich tags gedacht,
Sehnsüchte, die ich tags nicht stillen konnte,
werden die Ängste meiner Nacht.
Sie glühen Wahn,
den ich nicht fliehen kann,
daß ich in Feuer rings und Flammen steh’,
in der Geliebten meine Mutter seh’,
meinen Vater wie einen Fraß der Hunde . . .«
Die in der Angsttheorie angedeutete dynamische Auffassung, wonach das Unbefriedigte, Unterdrückte im Seelenleben sich im Traum durchzusetzen sucht, hat ebenso häufig poetischen wie erkenntnismäßigen Ausdruck gefunden. In Schillers »Wallenstein« ist die stolze Gräfin Terzky überzeugt, daß des Feldherrn Unternehmen glücken müsse und erstickt alle trüben Ahnungen im Entstehen: »Aber,« klagt sie, »wenn ich wachend sie bekämpft, sie fallen mein banges Herz in düstern Träumen an.« Ähnlich heißt es in Grillparzers bekannten Versen:
»Was die Brust im Wachen enget,
aber treu verschließt der Mund,
hat der Schlaf das Band gesprenget,
tut es sich in Träumen kund«,
die der Dichter an anderer Stelle im Sinne der Wunschtheorie ergänzt:
». . . . Die Träume,
Sie erschaffen nicht die Wünsche,
Die vorhand’nen wecken sie;
Und was jetzt verscheucht der Morgen,
Lag als Keim in dir verborgen.«
Gleiches findet sich wieder in Dichtungen moderner, der Psychoanalyse näherstehenden Autoren wie Arthur Schnitzler:
»Doch Träume sind Begierden ohne Mut,
sind freche Wünsche, die das Licht des Tags
zurückgejagt in die Winkel unsrer Seele,
daraus sie erst bei Nacht zu kriechen wagen.«
(»Der Schleier der Beatrice«)
oder Viktor Hardung:
. . . . . . . . . Im Traum,
Den wir doch zeugen aus geheimer Lust,
Begehren, Angst, Verlangen ungestanden,
Aus Süchten, unbekannt dem hellen Tag,
Und unser eigen doch, wo wir sie leugnen.
(»Godiva«(189).)
Ähnliche Gedanken haben Jean Paul und Hebbel geäußert; dieser im »Silvesternachtstraum«, wo es ganz allgemein heißt: »[Der Schlaf] verhilft auch den unterdrückten Elementen in der Menschennatur, ja der Natur überhaupt, zu ihrem Rechte . . . . . und wenn er sich an das Gesetz, das uns im wachen Zustand beherrscht, nicht kehrt, wenn er unser gewöhnliches Maß und Gewicht zerbricht und alle unsere Anschauungs- und Aneignungsformen durcheinander wirft, so geschieht das nur, weil er selbst der Ausdruck eines viel höheren Gesetzes ist.« – Jener an einer Stelle, die speziell die asozialen, vom Kulturmenschen mit Mühe unterdrückten Regungen betrifft: ». . . . . das weite Geisterreich der Triebe und Neigungen steigt in der zwölften Stunde des Träumens herauf und spielt dicht verkörpert vor uns. Fürchterlich tief leuchtet der Traum in den uns gebauten Epikurs- und Augiasstall hinein, und wir sehen in der Nacht alle die wilden Grabtiere oder Abendwölfe ledig herumstreifen, die am Tage die Vernunft in Ketten hielt.«
Die weitestgehende intuitive Vorwegnahme der psychoanalytischen Traumlehre aber müssen wir einem »Erleben und Erdichten« überschriebenen Abschnitt aus Nietzsches »Morgenröte« zugestehen, wo der Traum als Mittel der halluzinatorischen Triebbefriedigung erkannt ist: »Vielleicht würde diese Grausamkeit des Zufalles (bei der Triebbefriedigung) noch greller in die Augen fallen, wenn alle Triebe es so gründlich nehmen wollten wie der Hunger: der sich nicht mit geträumter Speise zufrieden gibt; aber die meisten Triebe, namentlich die sogenannten moralischen, tun gerade dies, – wenn meine Vermutung erlaubt ist, daß unsere Träume eben den Wert und Sinn haben, bis zu einem gewissen Grade jenes zufällige Ausbleiben der ›Nahrung‹ während des Tages zu kompensieren . . . . . . Diese Erdichtungen (des Traumes), welche unseren Trieben . . . . . Spielraum und Entladung geben, – und jeder wird seine schlagenderen Beispiele zur Hand haben, – sind Interpretationen unserer Nervenreize während des Schlafens, sehr freie, sehr willkürliche Interpretationen. . . . . . Daß dieser Text, der im allgemeinen doch für eine Nacht wie für die andere sehr ähnlich bleibt, so verschieden kommentiert wird, daß die dichtende Vernunft heute und gestern so verschiedene Ursachen für dieselben Nervenreize sich vorstellt: das hat darin seinen Grund, daß der Souffleur dieser Vernunft heute ein anderer war, als er gestern war, – ein anderer Trieb wollte sich befriedigen, betätigen, üben, erquicken, entladen, – gerade er war in seiner hohen Flut, und gestern war ein anderer darin(190).«
Träume in Dichtungen.
Alle diese Einsichten in das Wesen des Traumes, die sich uns zu einer der psychoanalytischen Auffassung nahestehenden Traumtheorie zusammenschlossen, sind eigentlich nur gelegentliche Abfallsprodukte der intuitiven Seelenkenntnis, die der Dichter in seinen Schöpfungen künstlerisch darstellt. Er ist zu diesem Wissen weder auf empirischem noch auf spekulativem Wege gekommen, und es zeigt nur von der Echtheit und Unmittelbarkeit seiner Erfahrung, wenn in den poetischen Werken selbst die Träume eine praktische Verwendung finden, die ihrer geschilderten Schätzung und Würdigung durchaus entspricht.
Vor allem fällt die Häufigkeit auf, mit der seit jeher die Volks- wie die Kunstdichtung den Traum im Dienste der Schilderung komplizierter Seelenzustände verwertet hat. Die Werke der schönen Literatur – Epen, Romane, Dramen und Gedichte –, in denen Träume bedeutsam in die Handlung und das Seelenleben der Figuren eingreifen, sind unzählbar. Von den homerischen Gedichten bis zum Nibelungenlied und den Kunstepen Miltons, Klopstocks, Wielands, Hebbels, Lenaus u. a., vom Roman gar nicht zu sprechen, der in manchen Richtungen, wie beispielsweise der weit in unsere moderne Literatur hineinreichenden romantischen, Traumerscheinungen zum unentbehrlichsten Requisit zählte. Ist doch bekannt, mit welcher Vorliebe Dichter wie Tieck, E. T. A. Hoffmann, Jean Paul ihre Personen träumen und diese Träume entscheidend auf den Gang der Handlung einwirken lassen. Selbst im Drama finden sich, wenn auch bei weitem seltener und bedeutungsloser, Träume verwertet, während anderseits die Einkleidung der ganzen Handlung in einen Traum sich gerade der Form des Schauspieles am ehesten anpaßt, wie die bekannten Stücke von Calderon, Shakespeare (Widerspenstige), Holberg (Jeppe paa Bierget), Grillparzer, Hauptmann (Schluck und Jau), in noch höherem Maße aber die modernen, von der wissenschaftlichen Traumforschung nicht ganz unabhängigen Traumdichtungen von Strindberg (Traumspiel), Paul Apel (»Hans Sonnenstößers Höllenfahrt«), Franz Molnar (»Das Märchen vom Wolf«) u. a. zeigen. Gelegentlich wird übrigens die Traumeinkleidung auch in den epischen Dichtungsformen mit Erfolg verwendet, wie beispielsweise in Dickens’ »Christmas Carol« oder in dem einzigartigen Werk des Zeichners Alfred Kubin (»Die andere Seite«), dessen psychoanalytische Bedeutung Dr. Hanns Sachs (Wien) dargelegt hat (»Imago«, I, 1912, p. 197). Endlich sind noch in der Lyrik, die in ihrem innersten Wesen dem Traum sehr nahe steht, derartige Einkleidungen immer sehr beliebt gewesen. Insbesondere Minne- und Meistergesang haben in Traumbildern geradezu geschwelgt und den Traum direkt als Wunscherfüller gepriesen. Am schönsten ist dies in manchen Liedern Walters von der Vogelweide, auf die bereits Riklin hingewiesen hat. Die zahlreichen Traumgedichte des alten Hans Sachs würden eine eigene Bearbeitung erfordern; zur Charakterisierung sei nur die ergötzliche Darstellung angeführt, wie der Traum einem Krämer eine Dorfkirchweih mit glänzendem Erlös vorspiegelt in dem Moment, wo ihm spitzbübische Affen alles zerstört und besudelt hatten(191). Die Lyrik der Romantik und der ihr nahestehenden Richtungen ist hier noch besonders zu nennen: Heine, Chamisso, Mörike, Uhland, die Droste, Keller, Hebbel, Byron (The dream) und andere mehr haben Traumgedichte geschaffen; C. G. Meyers »Lethe«, Hebbels »Geburtsnachttraum«, Spittelers Balladen »Der Vater«, »Das Begräbnis«, »Das Gastmahl« und Ähnliches in des »Knaben Wunderhorn« gehören zum Eindruckvollsten, was die Lyrik zu bieten hat.
Verwendung der Symbolik in gedichteten Träumen.
Besonders reizvoll wird es für den Psychoanalytiker, sich davon zu überzeugen, wie die als Dichtung oder in der Dichtung dargestellten Träume nach den empirisch ermittelten Gesetzen gebaut sind und sich der psychologischen Betrachtung wie wirklich erlebte Träume darbieten. Ja, manche Regeln sind als Nebenprodukt philologischer Forschung unmittelbar aus dem Studium der gedichteten Träume erschlossen worden. So zeigt Mentz an den französischen Volksepen, »wie Träume, welche von einer Person in derselben Nacht geträumt werden, immer zusammengehören und ein Ganzes, Einheitliches darstellen« (p. 45). Oder Jaehde findet in den englisch-schottischen Volksballaden, in denen Träume aus zwei zeitlich aufeinanderfolgenden Bildern bestehen, daß »das erste nur symbolisch und unklar andeutet, was das zweite klar und unverhüllt erkennen läßt«. Dies bezieht sich, wie wir wissen(192), insbesondere auf die Symbolik, die ja dem Dichter als poetisches Ausdrucksmittel geläufig ist. So hat Ovid im 3. Buche der »Amores« als 5. Elegie in ausführlicher Weise einen Traum geschildert, in dem die Hitze als Liebesglut, die Kuh als Geliebte, der Stier als der liebesbegierige Träumer gedeutet wird(193). Eine andere, uns gleichfalls aus dem Traumstudium geläufige Sexualsymbolik verwendet Byron im VI. Gesange des »Don Juan«, wo der Held als Frau verkleidet das Lager der Dudu teilt, die aus einem symbolisch dargestellten Sexualtraum, der sich an den Sündenfallmythus anlehnt, mit Angst erwacht(194). Daß gelegentlich einem Dichter die eigentliche Bedeutung gewisser typischer Symbole ganz klar werden konnte, beweist die Schilderung der eleusinischen Mysterien in der XII. römischen Elegie Goethes(195), wo es heißt:
»Wunderlich irrte darauf der Eingeführte durch Kreise
Seltner Gestalten; im Traum schien er zu wallen; denn hier
Wanden sich Schlangen am Boden umher, verschlossenes Kästchen,
Reich mit Ähren umkränzt, trugen hier Mädchen vorbei:
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Erst nach mancherlei Proben und Prüfungen ward ihm enthüllet,
Was der geheiligte Kreis seltsam in Bildern verbarg.
Und was war das Geheimnis, als daß Demeter, die große,
Sich gefällig einmal auch einem Helden bequemt,
Als sie dem Saoon einst, dem rüstigen König der Kreter,
Ihres unsterblichen Leibs holdes Verborgne gegönnt,
Da war Kreta beglückt! Das Hochzeitsbette der Göttin
Schwoll von Ähren und reich drückte der Acker die Saat.«
Wie ein moderner Autor den typischen Geburtstraum in vollkommen korrekten Symbolen darzustellen weiß, möge schließlich ein Beispiel aus allerneuester Zeit illustrieren:
In Moritz Heimanns Tragödie »Der Feind und der Bruder«(196) erzählt eine junge Frau ihren Traum, der von einer älteren, die bereits Mutter war, als Schwangerschafts- resp. Geburtstraum gedeutet wird; wir dürfen dies als intuitive Bestätigung der typischen psychoanalytisch eruierten Symbolik von Wasser (Geburtswasser) und Kästchen – hier Glocke – (Mutterleib) ansehen:
Pallas.
Vergangne Nacht sah ich im Meer mich schwimmen;
und vor mir schwamm auf der lichtblinden Bahn
ein schimmerndes Gebilde, eine Glocke
von rosenfarbnem Blut, ätherisch leuchtend,
daß sie zu klingen schien, – da regte sich,
an einem Fels empört, das glatte Wasser,
und jäh zerschlug der Sturz der Nereïde
dort vor mir die Gestaltung, daß sie riß
und ich davon in meinem Weiberleib –
sieh: hier – den heißen Stich des Schmerzes so empfing –
Maddalena.
Erwachtest du?
Pallas.
Noch nicht. Es hob mich nur
aus tiefem Traum zu minder tiefem Traum,
und wieder schwamm ich, und vor mir, fast schon
am Horizont, doch immer sichtbar, schwebten
zwei Glocken, eine wie die andre, zart
und feurig doch, und zogen her vor mir
bis in den uferlosen luft’gen Gischt
von Licht, darin ich dann erwachte, müd
und mit dem wunderlichen Schmerz, der jetzt
beim Steigen wieder mich erinnerte
an meinen Traum und an – ich weiß nicht was.
Maddalena.
Wo saß der süße Schmerz?
(Sie legt eine Hand auf Pallas Brust.)
Und fühlst du etwa
auch schon die zarten Brüstchen leise tickend
sich dir entfremden, einem andern zu?
Zwei wird zu eins; und daß die Rechnung stimme,
wird danach eins zu zwei, du junge Frau.
Die Analyse gedichteter Träume.
Detaillierte Untersuchungen über die in poetischer Darstellung verwendeten Träume sind leider erst vereinzelt unternommen worden, doch haben sie bereits wertvolle Einblicke in die dichterische Seelenkenntnis und das Wesen der künstlerischen Schöpfung gewährt. Es ist erfreulich, daß die erste derartige auf psychoanalytischer Grundlage ruhende Studie von einem Literarhistoriker herrührt, der die Bedeutung der analytischen Traumpsychologie frühzeitig erkannte und erfolgreich für sein Fachgebiet zu verwerten suchte. Es stand ihm allerdings das denkbar günstigste Material zu Gebote: »die Träume in Gottfried Kellers ›Grünem Heinrich‹.« Aus der kleinen Schrift von Ottokar Fischer, die im einzelnen eine Reihe von Bestätigungen der psychoanalytischen Traumlehre liefert, sei nur eine Stelle zur Probe angeführt:
»Dem Träumenden gibt sich, ihm selber unbewußt und unerwartet, ein gutes Stück seiner Ideenwelt und nicht zuletzt der eigentliche Inhalt seiner verborgenen, selbst uneingestandenen Wünsche kund. Im Traum erst bemächtigt sich Heinrichs grenzenloses Heimweh, da er im Wachen nicht Zeit gefunden hat, sich den Gefühlen hinzugeben. Im Traum erst tritt alles das in den Vordergrund, was bei Tage übertönt und nicht beachtet wurde, und was sich in seiner wahren Gestalt darstellen mußte als Vorwurf, Schmerz oder Sehnsucht. Ja, Sehnsuchtsträume sind so gut wie alle im »Grünen Heinrich« geschilderten Träume.«
»Der Roman ist aufgebaut auf dem Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Im Mittelpunkte von Heinrichs Träumen befindet sich der Gedanke an die Mutter, Sehnsucht nach ihr, Sorge um sie und doch Scham, sich zu dergleichen Gefühlsduseleien zu bekennen. Wieder trifft die allgemeine Bemerkung zu, in den Träumen stellen sich Ideen ein, die im Wachen unwirsch bei Seite geschoben wurden. Heinrich macht sich in der Tat eines argen Vergehens schuldig, indem er an die Mutter nicht schreibt, ja er will an sie kaum denken und ist sich selber seiner wahren Gefühle ihr gegenüber gar nicht bewußt. Erst der Schlaf klärt ihn über das eigene Empfinden auf« (p. 17 ff.).
Beschränkt sich diese Untersuchung auf den Nachweis, daß die allgemeinen Traumgesetze auch in den erdichteten oder dichterisch verwerteten Träumen wirksam und aufzuzeigen sind, so bemüht sich eine andere, gleichfalls von keinem Arzt unternommene Arbeit, an einem einzelnen Beispiel die analytische Deutungstechnik im Detail anzuwenden. Mit ihrem ganzen Rüstzeug versehen, hat Dr. Alfred Robitsek an der »Analyse von Egmonts Traum« gezeigt, daß der vom Dichter seinem Helden beigelegte Traum sich der Analyse gegenüber nach jeder Richtung hin wie ein wirklich geträumter erweist. Durch Zerlegung in seine Elemente und die Heranziehung der zugehörigen Partien der Dichtung gelang es, »die Anknüpfungen an Wachgedanken und ›Tagesreste‹ nachzuweisen, seine Symbolik zu deuten, hinter dem manifesten den latenten Inhalt zu zeigen, den Charakter der Wunscherfüllung im allgemeinen und einzelnen zu finden«. Der Autor konnte sich dabei wie bei seinen Schlußfolgerungen auf eine paradigmatische Untersuchung stützen: auf die bereits (p. 74 Anmkg.) erwähnte Analyse des Wahns und der Träume in W. Jensens »Gradiva«, welche gestattet hatte, die vom Dichter zur Schilderung des Seelenzustandes seines Helden eingeflochtenen Traumbilder in die ihnen zu grunde liegenden Gedanken zu übersetzen und in den Zusammenhang des seelischen Geschehens einzufügen. Die daraus gefolgerte intuitive Einsicht des Dichters in die Mechanismen der Traumbildung nötigt zu dem Schluß, daß er bei seiner Produktion aus derselben Quelle schöpft, die der Analytiker mit seiner mühseligen Technik erschließen muß, nämlich aus dem Unbewußten(197).
Verwandtschaft von Traum und Dichtung.
Wir stehen hier wieder vor dem interessanten Problem, von dem wir ausgegangen waren, der Verwandtschaft des poetischen Schaffens mit der Traumproduktion. Frühzeitig schon müssen die Menschen hier einen Zusammenhang beobachtet haben, welchen die Alten in ihrer naiven Weise so auffaßten, daß irgendwie bevorzugten Sterblichen von einem Gott die Dichtergabe im Traume verliehen worden sei: Von den großen Epikern Homer und Hesiod glaubten sie dies und erzählten es auch von ihrem ursprünglichsten Dramatiker Aischylos. Auch in aufgeklärteren Zeitaltern konnte man sich ähnlichen Eindrücken nicht ganz entziehen, besonders da die Dichter selbst an solche Quellen ihrer Inspiration glaubten, wie wir es beispielsweise von Pindar u. a. wissen(198). Daß wir in dem Glauben vom Ursprung der Dichtkunst aus dem Traum »ein altes indogermanisches Motiv« (Henzen) vor uns haben, zeigt sich in dem zähen Festhalten an der in verschiedener dichterischer Einkleidung immer wieder auftauchenden Idee. Als Beispiel sei auf Hans Sachsens »Dichterweihe« verwiesen und in der daran anknüpfenden »Zueignung« von Goethe hat man einen letzten Ausläufer dieses Themas erkannt. Es ist auch kein Zufall, wenn Richard Wagner gerade seinem Hans Sachs die bekannten Verse in den Mund legt:
»Mein Freund, das grad’ ist Dichters Werk,
daß er sein Träumen deut’ und merk’.
Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn
wird ihm im Traume aufgetan:
All’ Dichtkunst und Poeterei
ist nichts als Wahrtraumdeuterei.
Was gilt’s, es gab der Traum euch ein,
wie heut’ ihr sollet Sieger sein?«
(Meistersinger, III. Akt.)
Ähnliches hat Hebbel ausgesprochen in dem epigrammatischen Gedicht »Traum und Poesie«, wo es heißt:
»Träume und Dichtergebilde sind eng miteinander verschwistert,
Beide lösen sich ab oder ergänzen sich still . . .«
und in einzelnen Tagebuchnotizen:
»Mein Gedanke, daß Traum und Poesie identisch sind, bestätigt sich mehr und mehr.«
»Der Zustand dichterischer Begeisterung (wie tief empfind’ ich’s in diesem Augenblick) ist ein Traumzustand, so müssen andere Menschen sich ihn denken. Es bereitet sich in des Dichters Seele vor, was er selbst nicht weiß.«
Derartige Beobachtungen und Bekenntnisse sind bei den Dichtern nicht vereinzelt. Wir wissen unter anderem von Goethe, daß er viele seiner Gedichte »instinktmäßig und traumartig niederzuschreiben sich getrieben fühlte« und Paul Heyse sagt in seinen Jugenderinnerungen, persönliche Erfahrungen verallgemeinernd: »Nun vollzieht sich freilich der letzte Teil aller künstlerischen Erfindungen in einer geheimnisvollen unbewußten Erregung, die mit dem eigentlichen Traumzustand nahe verwandt ist.«
Häufig sind es auch ganz spezielle Erlebnisse, welche zur Konstatierung dieser Beziehungen geführt haben. Dichtern, die ihren Träumen besondere Aufmerksamkeit schenkten, wie Hebbel oder Gottfried Keller, ist eine gewisse Abhängigkeit der poetischen Produktion von ihrem Traumleben aufgefallen. Am 6. November 1843 schreibt jener in Paris: »Als ich noch dichterische Werke ausführte, träumte ich dichterisch, nun nicht mehr.« Nachdem er eine Reihe seltsamer Träume angeführt hat, fährt er in einem Gedichte fort:
»Damals aber konnt’ ich noch keine Tragödien dichten,
Seit ich dieses vermag, bleiben die Träume mir aus.
Wären die Träume vielleicht nur unvollkommene Gedichte?
Ist ein gutes Gedicht ein vollkommener Traum?«
Bei Keller ist ganz deutlich zu sehen, wie er eine rein subjektive, dem Tagebuch (15. Januar 1848) anvertraute Beobachtung dem ihm am nächsten stehenden Helden, dem »Grünen Heinrich« zuschreibt: »Wenn ich am Tage nichts arbeite, so schafft die Phantasie im Schlafe auf eigene Faust, aber das neckische, liebe Gespenst nimmt seine Schöpfungen mit sich hinweg und verwischt sorgfältig alle Spuren seines spukhaften Wirkens.« (Tagebuch bei Baechtold I, 308.)
»Seit ich nämlich die Phantasie und ihr ungewöhntes Gestaltungsvermögen nicht mehr am Tage beschäftigte, regten sich ihre Werkleute während des Schlafes mit selbständigem Gebaren und schufen mit anscheinender Vernunft und Folgerichtigkeit ein Traumgetümmel.« (D. Gr. H. 4, 102.)
Andere Male tritt an Stelle dieses vikariierenden Verhältnisses von Traum und Dichtung ein förderndes oder gar eine Identität. Hieher gehören die zahlreichen Fälle, in denen einzelne im Traum aufgetauchte Verse und Reime oder ganze Gedichte sich als poetisch wertvoll erwiesen haben sollen, wie in dem bekannten Beispiel von Coleridges »Kubla Khan«, dessen Sicherheit H. Ellis jedoch neuerdings bezweifelt hat (Welt d. Tr., p. 269). Andere Dichter haben wieder Geträumtes zum dichterischen Schaffen verwertet oder in poetische Form gebracht. So sind Uhlands Gedichte »Die Harfe« und »Die Klage« nach Träumen gedichtet, Hebbels »Traum« (»ein wirklicher«) und manches andere Lied von Mörike, Keller u. a. Auch Erzähler wie Stevenson, Ebers, Lynkeus (Jos. Popper) haben zugegeben, daß sie einzelne Stoffe oder Züge ihren Träumen verdanken. Ja selbst höhere künstlerische Leistungen, als im Wachleben möglich sein sollen, werden dem Traum zugeschrieben; das berühmteste Beispiel dieser Art, Tartinis Teufelssonate, wird allerdings auch bezweifelt (Ellis l. c. p. 269), und derartige poetische Darstellungen, wie E. T. A. Hoffmanns »Musiker Kreisler«, kommen als Beweis kaum in Betracht.
Bedeutung des Traumstudiums für die Probleme der Ästhetik.
Es ist begreiflich, daß diese nahe, oft für Wesensgleichheit gehaltene Verwandtschaft von Traum und Kunst dazu anregte, auf Grund mancher Einsichten in das eine Phänomen die Rätsel des anderen zu erschließen. Besonders den Romantikern unter den Dichtern und Philosophen mußte dies sehr nahe liegen. Bereits 1796 hat Tieck (in seiner Vorrede zu Shakespeares »Sturm«) ein förmliches Programm einer solchen Ästhetik entworfen, aus dem folgende Stelle angeführt sei: »Shakespeare, der so oft in seinen Stücken verrät, wie vertraut er mit den leisesten Regungen der menschlichen Seele sei, beobachtete sich wahrscheinlich in seinen Träumen, und wandte die hier gemachten Erfahrungen auf seine Gedichte an. Der Psychologe und der Dichter können ganz ohne Zweifel ihre Erfahrungen sehr erweitern, wenn sie dem Gange der Träume nachforschen.«
Schopenhauer, der in Anlehnung an die Weltbetrachtung der Inder einem extremen »Traumidealismus« huldigte, hat ähnliche Anschauungen auch in bezug auf die Kunst vertreten. An einer Stelle des Nachlasses, wo er »über die Dichtkunst« handelt (Reclam Bd. 4, p. 391 u. ff.), heißt es: »Daher sage ich, die Größe des Dante besteht darin, daß, während andere Dichter die Wahrheit der wirklichen Welt haben, so hat er die Wahrheit des Traumes: er läßt uns unerhörte Dinge gerade so sehen, wie wir dergleichen im Traume sehen, und sie täuschen uns eben so. Es ist, als ob er jeden Gesang die Nacht über geträumt und am Morgen aufgeschrieben hätte. So sehr hat alles die Wahrheit des Traumes . . . . Überhaupt, um sich von dem Wirken des Genius im echten Dichter, von der Unabhängigkeit dieses Wirkens von aller Reflexion einen Begriff zu machen, betrachte man sein eigenes poetisches Wirken im Traum.« ». . . wie weit übersteigen solche Schilderungen alles, was wir mit Absicht und aus Reflexion vermöchten: wenn Sie einmal aus einem recht lebhaften und ausführlichen dramatischen Traume erwachen, so gehen Sie ihn durch und bewundern Ihr eignes poetisches Genie. Daher man sagen kann: ein großer Dichter, z. B. Shakespeare, ist ein Mensch, der wachend tun kann, was wir alle im Traum.«
Ähnlich heißt es bei Jean Paul: »Die Phantasie kann im Traume am schönsten ihren hängenden Garten aufspannen und überblümen, und sie nimmt darein besonders die aus den liegenden so oft vertriebenen Weiber auf. Der Traum ist unwillkürliche Dichtkunst (199) und zeigt, daß der Dichter mit dem körperlichen Gehirn mehr arbeitet als ein anderer Mensch. . . . . Der echte Dichter ist ebenso im Schreiben nur der Zuhörer, nicht der Sprachlehrer seiner Charaktere . . . . er schaut sie wie im Traume lebendig an und dann hört er sie.«
Und Nietzsche preist in seinem Jugendwerk: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« den Traum als eine der Quellen der Kunst: »Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur Welt des Traumes; er sieht genau und gerne zu: denn aus diesen Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt er sich für das Leben. Nicht nur etwa die angenehmen und freundlichen Bilder sind es, die er mit jener Allverständigkeit an sich erfährt: auch das Ernste, Trübe, Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Neckereien des Zufalles, die bänglichen Erwartungen, kurz die ganze ›göttliche Komödie‹ des Lebens, mit dem Inferno zieht an ihm vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel, denn er lebt und leidet mit in diesen Szenen – und doch auch nicht ohne jene flüchtige Empfindung des Scheines; und vielleicht erinnert sich mancher, gleich mir, in den Gefährlichkeiten und Schrecken des Traumes sich mitunter ermutigend und mit Erfolg zugerufen zu haben: ›Es ist ein Traum! Ich will ihn weiter träumen!‹(200) Wie man mir auch von Personen erzählt hat, die die Kausalität eines und desselben Traumes über drei und mehr aufeinanderfolgende Nächte hin fortzusetzen im stande waren: Tatsachen, welche deutlich Zeugnis dafür abgeben, daß unser innerstes Wesen, der gemeinsame Untergrund von uns allen, mit tiefer Lust und freudiger Notwendigkeit den Traum an sich erfährt.«
Die Ähnlichkeiten zwischen Traum und Dichtung wurden dann besonders von idealistischen Ästhetikern wie Vischer und Volkelt studiert. So sagt Vischer, »daß alle die Gestalten, die die großen Dichter geschaffen, von einem Traumhauch umwittert sind«. »Was nicht Traumcharakter hat, ist nicht schön, nicht vollendet, nicht poetisch, nicht wahrhaft künstlerisch.«
Neuerdings hat Artur Bonus die Bedeutung des Traumes für das Verständnis der künstlerischen Technik betont und den Traum als das denkbar günstigste Mittel bezeichnet, um sich über das eigentliche Wesen des künstlerischen Schaffens zu verständigen. Den am weitesten gehenden Versuch, die Psychologie der Traumvorgänge zur Erklärung der ästhetischen Grundphänomene zu verwerten, hat Artur Drews in einer 1901 erschienenen Abhandlung: »Das ästhetische Verhalten und der Traum« unternommen. Er geht von dem auch psychoanalytisch(201) am ehesten zugänglichen Problem der widerspruchsvollen Doppelstellung des Genießenden aus und führt dessen gleichzeitige Einstellung zum Kunstwerk als Wirklichkeit und als Schein auf die das Traumleben charakterisierende reale Spaltung unseres Bewußtseins in ein Ober- und Unterbewußtsein zurück. »Das Kunstwerk vermag nur dadurch jene suggestive Wirkung auszuüben, daß es mit Umgehung des Oberbewußtseins sich gleichsam direkt an das Unterbewußtsein wendet.« Das Oberbewußtsein aber kennzeichnet diesen anschaulichen, konkreten und sinnlichen Inhalt des Unterbewußtseins als Schein. So wird das ästhetische Verhalten »nur möglich, weil der Glaube an den Schein und die Durchschauung des Scheins in zwei getrennten Bewußtseinssphären existieren, die sich zur höheren Einheit des ästhetischen Bewußtseins aufheben«. »Im Unterbewußtsein selbst ist das Ideale vom Realen nicht verschieden.« »Diese ganze symbolisierende Tätigkeit, die heute immer allgemeiner als der Kern des ästhetischen Verhaltens anerkannt wird, ist nur die Tätigkeit des Traumbewußtseins, welche darin beruht, Symbole zu schaffen, seine eigenen subjektiven Zustände in ein objektives Gewand zu kleiden und in Bilder, Gestalten und Vorgänge umzuwandeln.« »Bei dieser Übereinstimmung zwischen dem Inhalt des Traumbewußtseins und dem ästhetischen Schein können wir in der Tat nicht zweifeln, daß das ästhetische Verhalten auf der Entfesselung des Traumbewußtseins beruht.« – »Das Traumbewußtsein zeigt eine Herabminderung der Intelligenz ins Kindliche, Unentwickelte, Rudimentäre, Naive« und ähnlich läßt sich nach Drews »das ästhetische Verhalten mit seiner instinktiven Symbolisierungs- und Personifikationstendenz geradezu als ein zeitweiliger atavistischer Rückschlag in die Kindheitsanschauungen der Menschheit betrachten, wo jeder Gegenstand lebendig erscheint«. Diesen letzten Gesichtspunkt hatte bereits Du Prel in seinen auf dem Traumstudium basierenden Untersuchungen »Zur Psychologie der Lyrik« verwendet, die er als eine Art »paläontologischer Weltanschauung« zu verstehen sucht. Erwähnenswert ist, daß er den uns aus der Traumarbeit bekannt gewordenen »Verdichtungsprozeß von Vorstellungsreihen« bei jeder Art künstlerischer Produktion findet und zum Wesen der Intuition überhaupt rechnet(202). Er fußt dabei auf der Anschauung, »daß das Denken auf einem unbewußten Verfahren beruht und hier das Schlußresultat desselben fertig ins Bewußtsein tritt. Dies ist besonders der Fall bei der echten künstlerischen Produktion und überhaupt bei jeder genialen Leistung, im kleinen aber immer dann, wenn zu Tage kommt, was man im Deutschen einen Einfall, im Französischen un aperçu nennt«.
Tagtraum und Dichtung.
So beachtenswert diese Ergebnisse einer auf dem Studium des Traumes fußenden Psychologie des Kunstwerkes auch sind, und so nahe sie durch Berücksichtigung des Unbewußten an die psychoanalytische Auffassung heranrücken, so bleiben sie doch immer recht allgemein und entbehren überzeugender Detailnachweise. Erst mit Hilfe des analytischen Verständnisses der Traumarbeit und der Erkenntnis des Unbewußten ist es möglich geworden, mit der Parallelisierung von Traum und Dichtung, die bisher eigentlich immer nur ein, wenn auch zutreffendes, Gleichnis geblieben war, Ernst zu machen. Unsere vertiefte Einsicht in die Mechanismen sowie in den Sinn und Gehalt der Traumbildungen gestattet auch ein besseres Erfassen des nahestehenden künstlerischen Schöpfungsprozesses. Dabei leisten die sogenannten Phantasien oder Tagträume als ein Zwischenreich zwischen der Welt des Traumes und der Poesie wertvolle Dienste. Diese Produkte des Wachzustandes, welche die Sprache selbst mit unseren nächtlichen Erzeugnissen in engste Beziehung bringt, zeigen manches deutlich, was im Traume oft nur entstellten Ausdruck finden kann. Sie verraten uns einzelne Charaktere der Phantasietätigkeit, die der Traum erst mühseligem Studium preisgibt und die auf die Mitmenschen berechnete Dichtung kaum mehr erkennen läßt. Dazu gehören vor allem die egozentrische Einstellung des Phantasierenden, ferner der Wunscherfüllungscharakter seiner Schöpfungen und ihre erotische Färbung. Diese Tagträume, die manche Dichter selbst als Vorstufen ihres poetischen Schaffens erkannt haben, entsprechen unentstellten Träumen wie die Dichtungen etwa nach verschiedener Richtung idealisierten entsprächen. Sie erleichtern uns den Rückschluß von der Psychologie des Träumers auf die Psychologie des Künstlers und lassen deutlich erkennen, daß die unbewußten Triebkräfte wie der psychische Inhalt in beiden Fällen derselbe ist und nur die als »sekundäre Bearbeitung« gekennzeichnete Formgebung sich in wesentlichen Punkten unterscheidet. Im Grunde aber schafft auch der Dichter sich in seinem Werke eine mannigfach entstellte und symbolisch eingekleidete Erfüllung seiner geheimsten Wünsche, auch er ermöglicht den in der Kinderzeit verdrängten, aber im Unbewußten mächtig fortwirkenden Triebregungen zeitweise Befriedigung und Abfuhr (Katharsis).
Typische Traummotive in der Dichtung.
Dies läßt sich aber aus den Träumen, als einem ähnlichen Vorgang, nicht bloß erschließen, sondern gewisse Traumbilder gestatten, diese allgemein menschlichen Triebregungen aufzuzeigen und ihre Wandlungen bis zum Kunstwerk im einzelnen zu verfolgen. Es sind dies die sogenannten »typischen Träume«, die uns bereits über einzelne psychische Traumquellen entscheidende Aufschlüsse gegeben haben.
So hat der (p. 182 ff.) ausführlich erörterte Nacktheitstraum Anlaß gegeben, sich mit ähnlichen Gestaltungen der dichterischen Phantasie zu beschäftigen und in ihnen die gleichen von der psychischen Zensur gehemmten Triebregungen wirksam zu zeigen(203). Die im Text bereits erörterte Erzählung Andersens wie die Nausikaa-Episode aus der Odyssee konnten als gesetzmäßige Typen einer großen Gruppe von Phantasieschöpfungen eingeordnet werden, die sich als verschieden weitgehende und mannigfach eingekleidete Verdrängungsprodukte der infantilen Zeigelust erwiesen, welche in den Exhibitionsträumen so charakteristischen Ausdruck findet. Als solche typische Gestaltungen verdrängter exhibitionistischer Regungen ergaben sich die auch mythisch nachweisbaren dichterischen Motive der Kleiderpracht (Monna Vanna), der Fesselung (Odyssee), der körperlichen Entstellung (Armer Heinrich), der Unsichtbarkeit (Lady Godiva), die in entsprechenden Traumsituationen (Kleidungsdefekt, Hemmung usw.) ihr Vorbild und in gewissen neurotischen Symptomen (Urticaria) oder Phantasien sowie einzelnen Perversionen (Kleiderfetischismus usw.) gut verstandene Gegenstücke finden. Alle diese Gestaltungen des Nacktheitsmotivs beziehen ihre Triebkraft vorwiegend aus der namentlich den Eltern geltenden Sexualneugierde des Kindes, wobei die Regungen, welche eine Befriedigung der verbotenen Gelüste anstreben, in gleicher Weise Ausdruck finden wie die hemmenden, verdrängenden Strebungen des kulturell eingestellten Ich. Während aber die Sage die entsprechende Traumsituation veräußerlicht, gleichsam materialisiert, scheint die Dichtung eine Verinnerlichung, eine Verfeinerung derselben anzustreben.
Die Heranziehung der typischen Träume zum Verständnis anderer weitverbreiteter Dichtungsstoffe steht zum guten Teil noch aus, weil einerseits das Traumleben in dieser Hinsicht analytisch noch nicht genügend erforscht ist, anderseits das vielfach überarbeitete Material der Dichtung nicht immer – wenn auch manchmal – Rückschlüsse gestattet. Jedenfalls scheint es auffällig und der Hervorhebung wert, daß die wenigen bis jetzt unternommenen und zu erwartenden Versuche die erotischen Quellen der poetischen Schöpfung ins hellste Licht rücken.
Dies ist insbesondere bei der bedeutsamsten dieser Gruppen der Fall, die wir als Repräsentanten des sogenannten Ödipus-Komplexes kennen gelernt haben. Sophokles’ Tragödie vom König Ödipus, deren psychologisches Verständnis uns die Traumdeutung ermöglicht hat, stellt nur einen besonders deutlichen Ausdruck jener Neigungen dar, die sich beim Kinde im Verhältnis zu den Eltern regen, sobald es im Vater den störenden Konkurrenten um die Liebe und Zärtlichkeit der Mutter erblickt. Eine auf das Prinzip der Sekularverdrängung im Seelenleben der Menschheit gestützte Untersuchung der dichterischen Phantasiebildung vermag zu zeigen, daß mehr oder minder verhüllte, entstellte oder abgeschwächte Darstellungen desselben Urkonfliktes sich durch die Weltliteratur ziehen und die Dichter immer wieder aufs neue zur Bearbeitung locken. O. Rank hat an einem großen Material die Bedeutung der Inzestphantasie für das dichterische Schaffen, aber auch für das Seelenleben des Künstlers und das psychologische Verständnis seiner Werke aufgezeigt und dabei die Ubiquität des Inzestmotivs bei den bedeutendsten Dichtern der Weltliteratur festgestellt. Im einzelnen ist noch mancherlei zu verfolgen und aufzuklären, insbesondere die Zusammenhänge mit dem persönlichen Lebensschicksal des Dichters, wie auch die Probleme der künstlerischen Formgebung und technischen Gestaltung in jedem Einzelfalle einer speziellen Erörterung bedürfen. Dem Thema des »Hamlet« hat Ernest Jones eine ausführliche Untersuchung gewidmet. Auf eine reiche Kenntnis der einschlägigen Literatur gestützt, versuchte er dem Problem von den verschiedensten Seiten näherzukommen, um schließlich seine Lösung, übereinstimmend mit der bei den typischen Träumen gegebenen Deutung (p. 193 f.), in der Inzestphantasie zu finden(204). Jones hat seine Untersuchung aber nicht auf die Hauptpersonen des Dramas beschränkt, sondern gezeigt, wie auch die anderen Gestalten im Zusammenhang dieser Auffassung ihren guten psychologischen Sinn erhalten, wie sie sich als dramatische Abspaltungen und Verdoppelungen der seelischen Einheit erweisen, die wir im Ich des Dichters zu suchen haben. Der bereitliegende Einwand, daß es sich hier, ähnlich wie beim Ödipus, nur um die dramatische Gestaltung eines altüberlieferten mythischen Stoffes handelt, dessen Inhalt dem Dichter gegeben sei, bietet der Psychoanalyse willkommenen Anlaß, darauf hinzuweisen, daß auch die Schöpfungen der Volksphantasie den gleichen Gesetzen unterliegen wie die individuellen Leistungen eines einzelnen und daß ja der Dichter je nach der Vorherrschaft seiner Komplexe nicht nur die Wahl unter den vorliegenden Stoffen hat, sondern auch noch die Nötigung empfindet, das Thema in seinem Sinne um- und auszugestalten. Wie die Ödipus-Sage selbst, auf der so viele dichterische Bearbeitungen fußen, als universeller Ausdruck jener primitiven Urregungen aus der Kindheit des Menschengeschlechtes anzusehen ist, so läßt sich auch der Hamlet-Stoff in seinen mythologischen Überlieferungen als eine etwas entstellte Reaktion auf die gleichen seelischen Kämpfe verstehen, die den Dichter dann dazu drängen, sich dieses bereitstehenden Gefäßes zur Ablagerung seiner analogen psychischen Konflikte zu bedienen.