4.

Mitten im wilden, dichten Wald auf Java, findet der Wanderer oder Jäger, wenn er sich durch einen halbverwachsenen alten Pfad Bahn gehauen, manchmal weite Gruppen schlanker hochstämmiger Cocos- und Arekapalmen in der tiefsten Wildniß stehn. Sonst sind dies stets, besonders die letzteren, sichere Zeichen von der Nähe menschlicher Wohnungen, und noch mehr bestätigen gewöhnlich schattige Fruchtdistrikte von Mangusten-, Romboutan-, Nangka- und Manga-Bäumen, und wie die wundervollen Bäume alle heißen, solche Vermuthung, und scheinen dem Fremden wie bittend die beladenen Zweige entgegenzustrecken, daß er sie nur in etwas von ihrem drückenden Reichthum befreien möge. Und doch würde in den meisten Fällen der mit dem Land Unbekannte kaum ein Merkmal finden, daß solche Stelle je bewohnt gewesen und noch andere Geschöpfe als Tiger und Rhinoceros hier dem weichen Boden ihre Fährten eingedrückt.

Und dennoch standen dort früher die leichten Hütten der Eingeborenen, deren Spur jetzt freilich der Zahn der Zeit vom Boden vertilgt, und ihre letzten Überreste unter der verwesenden dichten Laubdecke dieser üppigen Vegetation begraben hat. Nur die Natur selber blieb ewig jung, und höher und kräftiger noch hoben die Palmen ihre wehenden Kronen empor, und schauten stolz und kühn aus dem dichten Laubmeer hervor, das sie ringsum überragten.

Unter diesen Palmen und dem wilden Gewirr von Pisang, Farren, Lianen und andern Fruchtbüschen hat in früherer Zeit einmal ein urbargemachtes Feld gelegen und des Menschen fleißige Hand dem Boden Nahrung für sich abgezwungen. Kaum aber wurden die Menschen wieder abgezogen, so forderte der Wald sein Eigenthum mit herrischer Gewalt zurück, streute seinen Saamen darüber hin, und trieb die alten, bis dahin nur mit Noth und Mühe zurückgehaltenen Wurzeln auf's neue in kräftigen Schößlingen empor. Was dabei die Vegetation allein zu leisten vermag, beweisen schon die Pisang oder Bananenstämme; denn in sechs Monaten treiben diese einen Stamm von Beinesdicke, um im nächsten Jahr den Boden damit zu düngen, und fünf oder sechs ähnlichen Schößlingen Saft und Nahrung zu geben.

Solche „todte Kampongs“ sind fast immer, und mit nur wenigen Ausnahmen, in früherer Zeit der überhand nehmenden Tiger wegen von ihren Bewohnern geräumt worden, die lieber ihre Fruchtbäume und das mühsam bestellte Feld im Stich ließen, um nur der gefährlichen Gesellschaft zu entgehen. Weiter dem bebauten Lande zogen sie dann zu, und wenn sie da auch ihre Arbeit von vorn beginnen, und das Wachsen neu gepflanzter Palmen und Fruchtbäume erwarten mußten, waren doch ihre Familien auch mehr gesichert, und Frau und Kinder brauchten nicht mehr, selbst in der Thür der Hütte, wie das im Walde oft der Fall gewesen, den Angriff des gierigen Räubers zu fürchten. Von den verlassenen Plätzen aber nahm der Fürst der Javanischen Waldung, der Königstiger, Besitz, und in der neu und dicht aufschießenden Wildniß konnte er seine Tage sicher und ungestört verträumen, um dann erst Abends mit der Dämmerung seiner Beute nachzugehn.

Auch diese Stelle, durch die der Fuß der armen geängstigten Maid geflohen, war ein solcher „todter Kampong,“ und die Tiger hatten sich in der Nachbarschaft so vermehrt, daß sie sogar von dort aus die dicht besiedelten Nachbardörfer aufsuchten und Schrecken und Entsetzen unter den Bewohnern verbreiteten. Nicht allein sah sich die holländische Regierung dadurch genöthigt, in der letzten Zeit einen erhöhten Preis auf die Einbringung oder Tödtung dieser gefährlichen Raubthiere zu setzen, sondern die Eingeborenen selber waren zusammengetreten und sicherten noch besonders dem glücklichen Erleger eines Tigers reiche Belohnung zu. Konnten sie doch nur auf solche Art hoffen, von ihnen befreit zu werden, und ihre grimmen Reih'n gelichtet zu sehn.

Bei den Eingeborenen ging aber dabei nicht allein das Gerücht, sondern war in ihrem angsterfüllten Hirn, von abergläubischer Furcht gestachelt, zur festen Überzeugung herangewachsen, daß zwischen ihnen ein Menschentiger sein entsetzlich Wesen treibe. Zu viele Menschen, und zwar lauter Javanen, waren gerade in den letzten Monaten im Wald und selbst bei ihrer Arbeit auf den dicht am Wald liegenden Feldern zerrissen worden, von denen man viele unversehrt, nur mit zerrissener Kehle wieder aufgefunden. Unter ihnen hatte jedenfalls ein solches Ungeheuer gewüthet, und der Preis, den die Eingeborenen unter sich auf den Fang desselben gesetzt, wäre hoch genug gewesen, den glücklichen Jäger zum reichsten Mann des Kampongs zu machen, – nur daß sich der „Menschentiger“ eben nicht fangen ließ.

Diese hohen ausgesetzten Preise waren denn auch die Ursache gewesen, daß sich Maono, ein junger kräftiger Sundanese – wie die Bewohner der östlichen Gebirgshälfte von Java im Gegensatz zu den westlichen, den Javanen, eigentlich heißen – dem gefährlichsten Handwerk, das seine Berge kennen, dem Tigerfang ausschließlich zugewandt. Er hatte es aber nicht aus Gierde nach Schätzen gethan, denn der wackere Bursch bedurfte deren für sich selber nicht; sondern nur um sein Mädchen, seine Laykas, dem drängenden Vater abzukaufen, und für sich selber dann, an ihrer Seite, ein neues stilles Leben zu beginnen, wählte er sein gefährliches Geschäft, durch das allein er hoffen durfte, in kurzer Zeit ein kleines Capital zurückzulegen – wenn ihn nicht die Tiger selbst zerrissen. Ohne Laykas aber konnte er sich das Leben doch nicht denken, und was galt ihm jetzt die Gefahr, der er sich hier jede Stunde aussetzte, wenn er damit die Hoffnung gewann, ihren Besitz zu erkaufen! Dieser Platz schien ihm dabei vor allen andern passend, sein Vorhaben auszuführen, und in dem Dickicht selber, in dem er sich mit seinem Klevang einen kleinen Raum freigeschlagen, errichtete er aus Bambusstäben seine feste Hütte, deckte sie mit den Fasern der Arekapalme und Bambuslaub zu festen Matten geflochten, und stellte Fallen, legte Gruben an und fing in rascher Reihenfolge fünf starke Tiger, die er allein mit seiner Lanze in der Grube tödtete.

Maono war an dem Abend erst mit der Dämmerung nach Hause gekommen. Vor einigen Tagen fast selber von einem riesigen Tiger überrascht, dessen Wechsel er in dem Pfad, nahe bei seiner Hütte gespürt, hatte er kurz vor Dunkelwerden eine neue Grube beendet und mit der Lockspeise belegt, und sich jetzt, müde und erschöpft vom schweren Graben und Balkenschleppen, auf sein Lager geworfen. Aber sein Schlaf, fortwährend von Gefahr umgeben, war nur leicht, und wie der Griff seiner Thüre niederklappte, diese sich öffnete und eine dunkle Gestalt auf seiner Schwelle zusammenbrach, griff er die Lanze auf, die immer dicht neben ihm an seinem Lager lehnte, und fuhr, sprungfertig wie der Tiger selber, empor, dessen Angriff er fast fürchtete.

Aber Alles blieb ruhig – draußen rauschte der Wald, die Frösche quackten in dem nahen Sumpf, und laut und donnernd schlug plötzlich ein wild dröhnendes Gebrüll an sein Ohr.

„Ha?“ lachte der junge kecke Jäger vor sich hin, „hast du das Weite wieder gesucht, mein Bursche, wie du das Lager des Feinds gewittert? – Aber nein – das konnte der Tiger nicht sein, denn der steckt noch dort im Alang Alang[40] draußen, und folgt vielleicht jetzt gerade meiner ihm gelegten Witterung. Aber die Thür öffnete sich doch, und ich dächte, ich hätte vorhin einen dunklen Schatten dort gesehen.“ Vorsichtig, mit vorgehaltener, zur Vertheidigung oder zum Angriff bereiter Lanze näherte er sich langsam der Thür; der Mondenschein fiel hell und voll darauf, und bald erkannte sein scharfes Auge eine da kauernde menschliche Gestalt.

„Der Menschentiger!“ knirschte er zwischen den Zähnen durch, und die krampfhaft gepackte Lanze drängte sich fast unwillkürlich zurück, zum Todesstoß ausholend. – Aber das sah nicht wie ein Angriff aus; die Arme fortgestreckt vom Körper lag die dunkle Gestalt still und regungslos zu seinen Füßen – in seiner Gewalt. So hätte sich ihm das Ungeheuer, das er mehr fürchtete als alle Tiger der Welt, im Leben nicht preis gegeben. Das war ein Mensch. Und als er endlich, noch immer scheu und vorsichtig und sprungbereit dem fremden Wesen näher trat, und sich langsam und scheu niederbog, um es mit der Hand zu berühren, da fühlte er unter den Fingern das weiche warme zarte Fleisch und wußte jetzt, daß es ein jedenfalls im Wald verirrtes Weib sein mußte, das vor den Tigern flüchtend, hier bei ihm Schutz gesucht.

Er stellte die Lanze neben die Thür, und beugte sich nieder, die Arme aufzuheben und in die Hütte zu tragen, als der bewußtlose Körper wieder Leben gewann. Die erste Bewegung aber war der scheu nach rückwärts gedrehte Kopf, ob der Entsetzliche ihr folge und – „Laykas!“ schrie Maono, und schlang staunend und erschreckt den Arm um die Geliebte.

„Schütze mich, Maono!“ war aber alles, was Laykas im Anfang über die bleichen Lippen bringen konnte, und zugleich drängte sie sich jetzt scheu von der Thür hinweg.

„Fürchte dich nicht, mein Herz,“ sagte Maono freundlich ihre Angst beschwichtigend. „Wenn ich auch nicht begreife, wie du in Nacht und Dunkel den Weg – Allah schütze mich!“ rief er plötzlich, in Todesschreck emporfahrend – „wie bist du denn zu dieser Hütte gekommen? Den Pfad entlang?“

„Den Pfad entlang, bis zum Pinangdickicht, und dann in wilder Flucht durch die Stämme und Dornen durch, die mir die Haut zerfleischten.“

„Dich hat dein guter Geist beschirmt,“ sprach Maono, liebkosend ihr die Haare aus der feuchten Stirn streichend. „Aber um deiner Liebe willen, Laykas, was führt dich in der Nacht in dieses Dickicht, das selbst die Männer deines Kampongs nur am hellen Tag in Trupps betreten? Wenn du nun in die Klauen einer der gierigen Bestien gefallen wärst? Wie elend wäre ich gewesen, ob ich auch deinen Tod blutig an ihnen gerächt! Oder droht dir Gefahr von anderer Seite, als den wilden Thieren dieser Waldung?“

Das Mädchen hatte sprechen, hatte dem Geliebten die Vorgänge des letzten Abends erzählen, und dann ruhig von ihm Abschied nehmen wollen, um ins weite ferne Land hinaus zu ziehn. Das Schreckbild aber, das in der letzten Stunde wie aus dem Boden herausgewachsen, vom Mondlicht bleich beschienen, vor ihrem entsetzten Blicke aufgetaucht war, hatte ihre Sinne und Gedanken so betäubt, verwirrt, daß nur das eine Wort Raum in ihnen fand. – „Schang-hai!“

„Ha! – was mit dem?“ fuhr Maono auf, „drängte der alte Sünder deinen Vater zum Äußersten? Den Tod über ihn! Aber nicht lange mehr, so hat Maono Geld und wird –.“

„Dort – dort – hinter mir!“ stöhnte Laykas und deutete mit zitterndem Arm durch die noch offene Thür hinaus ins Freie, „er folgt mir – schütze mich!“

„Wer? – Schang-hai?“ rief Maono mit weit geöffneten stieren Augen, indem ein furchtbarer Verdacht vor seiner mit all den Schreckbildern blinden Aberglaubens gefüllten Seele emporstieg. „Schang-hai – jetzt im Wald? – Auf deiner Fährte?“ Und rasch und unwillkürlich suchte die Hand die fort gestellte Waffe.

Nur mit unendlicher Mühe bezwang sich das arme, zum Tod erschöpfte Mädchen endlich soweit, dem Jüngling zuerst die Vorgänge der letzten Viertelstunde, die plötzliche Erscheinung des Chinesen und ihre wilde Flucht zu erzählen, denn in des Geliebten Nähe fühlte sie sich wenigstens vor augenblicklicher Verfolgung sicher. Dann aber, wie sie sich mehr und mehr erhohlte, und Maono jetzt die Thüre schloß, auf dem kleinen Herd ein prasselndes Feuer von dürren Bambusstäben entzündete, das Licht und Wärme verbreitete, und dann seine Matte zur Flamme zog, daß sie ihnen als Sitz diene, da ging sie auch auf die Vorgänge des letzten Abends zurück, sagte, was ihr mit der heutigen Sonne gedroht und sie zur Flucht getrieben, und bat den Geliebten jetzt mit leiser ängstlicher Stimme sie am nächsten Morgen nur wenigstens bis durch den Wald zu geleiten, damit sie nicht etwa nach ihr ausgeschickten Verfolgern in die Hände fiele, und vor allem – dem furchtbaren Schang-hai nicht wieder begegnete.

Maono hatte mit keinem Laut, keinem Wort ihre ganze leidenschaftliche Erzählung unterbrochen – nur seine Augen funkelten, seine Glieder zitterten, und wie unwillkürlich suchte oft die Rechte, während er mit der Linken die an ihm lehnende Geliebte umfaßt hielt, den im Gürtel steckenden Khris. Laykas für ihn verloren, einem Ungeheuer verkauft oder in die Fremde hinausgestoßen – es blieb sich fast gleich, und keine Hülfe – keine Rettung aus dieser furchtbaren Noth! Blieb Laykas hier, so wußte er recht gut, daß schon am nächsten Morgen, noch dazu, da Schang-hai die Richtung ihrer Flucht wissen mußte, Boten nach ihr ausgesendet würden, um sie zurückzufordern; und setzte die Unglückliche auch ihre Flucht fort, was half es ihr – allein da draußen im Wald – allein in der Welt? –.

„Allein?“ rief er da plötzlich, und richtete sich rasch und hoch empor, „nein Laykas, nicht allein laß ich dich mehr hinaus in die fremde Welt, nicht allein selbst durch diese gefährdeten Waldungen mehr. Ich fliehe mit dir – die Berge kenn' ich alle, von den Reisfeldern, die an ihrem Fuße liegen, bis zu den nackten Lavagipfeln ihrer glühenden Krater, und nicht nach Batavia gehen wir dann, zu den fremden Weißen und ihren verdorbenen Sitten, wo dein Vater auch unsere Spur wieder auffinden und uns zurückfordern könnte in das alte Leid. Gerade Nord hinauf ziehen wir; in Indramaju lebt mir ein Bruder, und von dort führ' ich dich in dessen Prau hinauf nach den „tausend Inseln.“ Dorthin wagen sie nicht uns –.“ Er hielt plötzlich inne, denn gar nicht weit von der Hütte entfernt tönte so dröhnend, daß das Laub auf dem Dach zu zittern schien, das tiefe furchtbare Gebrüll eines Tigers herüber, dem sich ein wilder, gellender Schrei, wie fast aus gequälter Menschenbrust kommend, beimischte.

„Der ist in der Grube!“ jubelte Maono, in seiner Jagdlust fast die augenblickliche Gefahr der Geliebten vergessend, und mit dem rasch aufgegriffenen Speer sprang er der Thür der Hütte zu.

„Maono!“ bat aber Laykas, ängstlich seinen Arm ergreifend, „gehe nicht fort von mir. Laß mich nicht hier allein, ich würde vor Angst vergehen. Und wenn nun Schang-hai wirklich meinen Schritten gefolgt wäre.“

„Wäre er's nur!“ zischte Maono, den Speer fester packend, zwischen den Zähnen durch. „Aber horch, Laykas – hörtest du nicht jetzt –?“ – Er hatte die Thür aufgestoßen und horchte, halb unschlüssig, ob er gehen oder bleiben solle, in die Nacht hinaus.

„Ich höre nichts als das Rascheln des Windes im Wipfel der Bäume,“ flüsterte die Jungfrau; „es ist so furchtbar todt und still da draußen!“

Share on Twitter Share on Facebook