139. Kestner an seinen früheren Hauslehrer.

(Wetzlar entweder am Ende des Jahres 1767 oder Anfang 1768.)

Liebster Freund,

Eine solche Correspondenz läßt sich noch unterhalten, wo man sich alle Jahr nur einmal schreibt. Nicht wahr? Aber die Entschuldigungen bei Seite gesetzt. Sollte es uns so sehr an Materie zur Unterhaltung fehlen, daß wir auch noch die zu Hülfe nehmen müßten!

Viel wichtiger, viel interessanter kömmt es, mir wenigstens vor, wenn ich Ihnen sage, daß mir Ihre Freundschaft noch immer eben so schätzbar ist, als vormals. Sie glauben vielleicht, daß Sie hier unbekannt wären? Da müßte ich weniger stolz auf Ihre Freundschaft seyn. Nein! meine Freunde, solche, die Verdienste zu schätzen wissen, kennen Sie. Sie wissen es, daß Sie mein Lehrmeister waren, dessen Lehren und Grundsätze mir auch in der Folge, und da am meisten, zur Richtschnur gedienet; daß Sie jenes nicht allein, nein, auch mein Freund sind, den ich hochschätze, den ich verehre. Sehen Sie da noch die alten Empfindungen meines Herzens. Ich werde älter; alsdann soll man härter, unempfindlicher gegen die edlen Empfindungen werden; und, Danck sey es dem Höchsten, Ihm, der mich Ihm noch immer für seine Wohlthaten dancken läßt, daß ich noch allezeit mein Vergnügen darin finde. Fühlen Sie mit mir mein Glück; Ihr menschenliebendes, Ihr freundschaftliches Herz thut es gern. Ich bin gesund; ich habe wovon ich leben kann; ich habe Freunde. Es ist zwar alles vergänglich; es können Widerwärtigkeiten kommen. Aber ein Blick auf das Vergangene macht mir Muth. Meine Wünsche suche ich auf die Möglichkeit einzuschränken; dieß macht mir ihre Erfüllung hoffend.

Um etwas wichtiges habe ich Sie zu Rathe zu ziehen. Es geschieht im Vertrauen.

Ich bin hier in einem Hause bekannt; gewiß der beste Theil der Stadt; wem es die Eigenliebe nicht verbietet, erkennt es auch dafür, Vornehme und andere; wer genau darinn bekannt ist, ist so zu sagen entzückt davon. Ein redlicher Vater, ein munterer Alter, durch Mässigkeit und gute Natur noch stark, dienstfertig für jedermann, und rechtschaffen; obgleich ein wenig rauh (in Vergleichung mit der folgenden Person), doch menschenliebend. Die Mutter — hier weiß ich nicht, wo ich anfangen soll — mit einem Worte die beste Frau, die beste Mutter, und die beste Freundinn; ohne es zu wissen, wenigstens ohne de geringsten Schein, daß sie es weiß, zu haben, fehlt es ihr noch nahe im 40sten Jahre nicht an Reitz; das schönste, sanfteste, Menschenliebendste, gefälligste, zärtlichste Herz, Einsicht, Verstand und wahre Weisheit, auch gefälliger Witz; dabey ganz Bescheidenheit, ganz Tugend, religieux &c. &c., von jedermann verehrt, von ihren Kindern zärtlich geliebt; Diese sind ihr vornehmstes Geschäft und Augenmerk, und sie wiederum ihnen ihr bestes Gut. Wenn sie ausgeht, sind groß und klein betrübt und unzufrieden, und wenn sie zu Hause kömmt, lauter Bewillkommungen, Frohlocken, Händedrücken, Küssen und Umarmungen, und heitere Mienen, Fragen wo sie so lange gewesen, Erzählungen was in ihrer Abwesenheit vorgegangen &c. &c., ihre Verweise sind ihnen bitterer, als andern Kindern Schläge. Ich breche mit Mühe ab; und komme auf die Kinder. Zwey Töchter sind erwachsen, von 18 und 16 Jahren. Diese, so wie alle Kinder, sind ihrer Mutter würdig. Alle blondes Haar und blaue Augen; eines hübscher wie das andere; nach den Kleinen könnte ein Maler Liebesgötter zeichnen. Die älteste ist ziemlich regelmäßig schön, still, ruhig, von sanftem Charackter &c. &c. Die zweyte muß jener, wenn man sie nach Regeln beurtheilen will, weichen, ist aber nichts desto weniger reitzender und einnehmender. Sie hat ein fühlendes, weiches Herz. So wie überhaupt ihr (und aller Geschwister) Bau des Körpers zärtlich ist, so ist ihre Seele auch. Mitleidig gegen alle Unglücklichen, gefällig und bereit jedermann zu dienen, versöhnlich, gerührt wenn sie glaubt jemand beleidigt zu haben, gutthätig, freundlich und höflich; freudig wenn jemanden etwas gutes begegnet, gar nicht neidisch (wie unter jungen, auch alten Frauenzimmern sonst gewöhnlich ist). Dabey eine aufgeweckte, lebhafte Seele, geschwinde Begriffe, Gegenwart des Geistes, froh und immer vergnügt; und dieses nicht für sich allein, nein, alles was um sie ist, macht sie vergnügt, durch Gespräche, durch lustige Einfälle, durch eine gewisse Laune oder Humor. Sie ist das Vergnügen ihrer Aeltern und Geschwister; und wenn sie ein finsteres Gesicht darunter bemerckt, so eilt sie es aufzuklären. Sie ist bey jedermann beliebt, und es fehlt ihr nicht an Anbetern, worunter, welches sonderbar ist, sich dumme und kluge, ernsthafte und lustige, befinden. Sie ist tugendhaft, fromm und fleissig, geschickt in allen Frauenzimmerarbeiten, besonders gelehrig und willig alle......

Hier endet dieser unvollendete Briefs-Entwurf.

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