142. Kestner an Hennings.

Wetzlar 1770 vermuthlich im Herbst.

..... Mein letzter Brief war größtentheils nur Beantwortung. Da Sie mir noch nicht wiedergeschrieben, so will ich einmal ganz von mir allein oder was mich angeht, reden..... Vorher muß ich Ihnen einige Begebenheiten, und recht traurige Begebenheiten aus der Familie meiner Lottgen erzählen. Sie werden sich wundern, warum ich es nicht ehender gethan; denn sie sind schon alt. Allein bisher wußte ich mir weiter nicht, als durch das aus dem Sinn schlagen zu helfen; und wollte ich Ihnen vollständig erzählen; hiezu war ich bisher nicht im Stande. Die Zeit hat den Schmerz gemildert, und ich werde jetzt mehr im Stande seyn davon zu schreiben. Ich habe Ihnen schon vor einigen Jahren eine Beschreibung der Familie meines Mädchens gemacht. Sie erinnern sich noch, daß ihre Mutter eine Hauptperson darin war; ich sage war, denn ach! sie ist es nicht mehr. Ich glaube Ihnen gesagt zu haben daß sie die beste Frau, die beste Mutter und das vollkommenste weibliche Geschöpf war, das ich kenne. Sanft ihr Character, weich, gefühlvoll ihr Herz, zugleich munter und heiter. (Ich zähle ihre Eigenschaften her, wie sie mir einfallen.) In ihrer Jugend war sie eine Schönheit, und noch am 40sten Jahre, nachdem sie 14 oder 15 Kinder gehabt, versah man sie zu Zeiten für eine ihrer Töchter. Ihre Miene war einnehmend und ganz Bescheidenheit, sittsam und jungfräulich. Sie erröthete noch wie das unerfahrenste Frauenzimmer für einen freien Ausdruck. Ihr Körper war weiblich, schwach und zart; auch ihre Seele war weiblich, aber sie dachte auch wie ein Mann, groß, edel und war oft heldenmüthig. Ohne piquant witzig zu seyn, konnte sie aufmuntern, anderer Mienen aufheitern, wie sie wollte und war sehr unterhaltend. Sie redete viel ohne Weibergeschwätz. Ihre Kinder waren ihr vornehmstes Geschäft; für diese sorgte sie unaufhörlich; sie hatte sie immer um sich und bildete ihre jungen Seelen, ohne daß die Kinder es selbst wußten, ohne Strenge, ohne Furcht, durch lauter Liebe und Zärtlichkeit; doch gestattete sie ihnen auch keine Unart. Die Kinder liebten ihre Mutter dagegen eben so zärtlich; nirgends waren sie lieber als bey ihr; wenn sie ausgieng betrübten sie sich, sie lagen ihr an bald wieder zu kommen, und wenn sie wieder kam war lauter Freude; sie hingen sich an sie und küßten sich dann wieder satt. Auch ausser dem Hause war sie verehrt und geliebt. Sie war jedermann, wenigstens unter dem Namen: Die Frau mit den vielen schönen Kindern, bekannt. Von den Geringern verehrt, denn gegen jedermann war sie freundlich und gefällig, jedermann war ihr Nächster; ohne Reichthum that sie viel Gutes, entweder durch reellen Beystand, oder guten Rath, Zureden, trösten und aufmuntern, alles mit einem Anstande, der zugleich ihr gutes Herz, und ihren Verstand verrieth; ich meyne ihre Wohlthaten ertheilte sie mit einer solchen Leichtigkeit, woraus man sah, daß eine wahre innere Empfindung sie dazu veranlaßte, und doch mit einer Art, welche den Wohlthaten noch einen Werth mehr beylegte; gar vieles that sie heimlich, denn ihr Mann, zwar rechtschaffen und gut, und selbst gutthätig, machte gern ökonomische Anmerkungen.

Von ihres Gleichen hochgeachtet und geliebt, und bey den Vornehmern geachtet. Bey diesen vergab sie sich nichts, war bey verschiedenen, die sie ihrer würdig hielt, gern gesehene Gesellschafterin, auch vertraute Freundin und Rathgeberin. Ausser dem, daß sie von solchen selbst gesucht wurde, und sich mit Vorbedacht suchen ließ, hatte sie auch noch, in Rücksicht dessen, daß ihre Familie groß war, und sie das Glück ihrer Kinder wünschte, und dazu anderer Beistand nöthig hielt, die Absicht, solche Leute zu conserviren, die ihr oder ihren Kindern nützlich seyn könnten...... Sie war meine beste Freundin die ich je gehabt, und vielleicht je bekommen werde, und ob sie gleich gegen jedermann gefällig und liebreich war, so war sie doch mit ihrer genauen Freundschaft nicht so freigebig. Noch ehe sie daran denken konnte, daß ich in ihrer Familie mehr als blos Umgang und Freundschaft suchen würde, hatte ich ihre ganze Gewogenheit, und es fanden sich verschiedene, denen sie des Interesses wegen, einen Vorzug hätte einräumen müssen, die sie aber mir nachsetzte. Sie wissen, daß ich zu dem Eigenlobe nicht geneigt bin, und ich weiß es zu gut, daß ich in Erlangung anderer Gewogenheit, meinem Glücke, vielleicht meiner ehrlichen, treuherzigen Miene, mehr, als meinem Verdienste zuzuschreiben habe. Genug.....

Die Fortsetzung dieses Briefes fehlt.

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