108. Kestner an v. Hennings.

Hannover d. 7. November 1774.

Ihren Brief, Liebster Freund, würde ich nicht verstehen, wenn ich es nicht längst vorausgesehen hätte, daß die Leiden des jungen Werthers den Mißverstand erregen würden, den ich aus Ihrem Briefe in Berlin gewahr wurde. Aber warum war nicht mein erster Ausruf: „Ich bin glücklich wie man es in der Welt seyn kann! Ich bin nicht zu bedauren, wenigstens nicht in dem Verstande, wie Sie meynen. Ich traure nicht.“ — Mit einem Worte, es ist alles Irrthum, und es geht mir nahe, daß dieses Sie betrüben müße. Ich will Ihnen, so viel wie möglich das Räthsel auflösen. Hätten Sie meinen Brief, den ich vor ohngefähr einem Jahre von hier schon an Sie nach Berlin geschrieben, erhalten, so hätte es zu dem Irrthum wahrscheinlich nicht kommen können. Er muß aber verloren gegangen seyn. Ich bin schon seit mehr als 1½ Jahren nicht mehr zu Wetzlar, sondern hier als königlicher Archiv-Secretair. Ehe ich aus Wetzlar gereiset, 2 Monat vorher, bin ich mit meinem Lottchen auf ewig verbunden, und es war mir wohl, als ich es war, und bin es noch. Darauf führte ich Lottchen in meinem Herzen im Triumph hierher. Sie ward aufgenommen, wie sie es verdiente. Zu Wetzlar war ich meiner Stelle müde, ich suchte daher zurückberufen zu werden, und erhielt die jetzige Stelle, die zwar noch nicht viel einträgt, die ich aber doch gern annahm, um erst wieder hierher zu kommen. Bald nachher erhielt ich einen Brief über Wetzlar von Ihnen. Ich antwortete bald und schrieb Ihnen meine ganze Geschichte. Ich schickte diesen Brief an den Churbrandenburgischen Legations-Secretair Ganz zu Wetzlar; der ihn aber nicht bestellt haben muß, oder er ist sonst verloren. Nunmehr erwartete ich längst eine Antwort und war immer im Begriff noch einmal zu schreiben, denn Sie sind noch immer mein erster Freund, und ich Ihnen ganz der nämliche, der ich immer war. Zu Wetzlar habe ich nur einen gefunden, den ich Ihnen gleich nachsetze; sein Namen ist schon bekannt genug, er heißt Goethe. Sie können es daraus schliessen, daß er mir mit den Leiden des jungen Werthers, ohne Vorsatz jedoch, und in seiner Autor-Wärme, oder Etourderie, keinen angenehmen Dienst gethan hat; indem mich vieles darin verdrießt, so wie meine Frau auch, und der Erfolg uns doppelt verdrießt: Aber dennoch bin ich geneigt es ihm zu verzeihen; doch soll er es nicht wissen, damit er sich künftig in Acht nimmt. Im Vertrauen will ich Ihnen dieses und die Geschichte des Werthers näher erklären, wovon Sie aber nur einen behutsamen Gebrauch machen sollen; doch aber bitte ich einigen Gebrauch davon zu machen.

Im ersten Theile des Werthers ist Werther Goethe selbst. In Lotte und Albert, hat er von uns, meiner Frau und mir, Züge entlehnt. Viele von den Scenen sind ganz wahr, aber doch zum Theil verändert; andere sind, in unserer Geschichte wenigstens, fremd. Um des zweyten Theils Willen, und um den Tod des Werthers vorzubereiten, hat er im ersten Theile verschiedenes hinzugedichtet, das uns gar nicht zukömmt. Lotte hat z. B. weder mit Goethe, noch mit sonst einem anderen in dem ziemlich genauen Verhältniß gestanden, wie da beschrieben ist; Dieß haben wir ihm allerdings sehr übel zu nehmen, indem verschiedene Nebenumstände zu wahr und zu bekannt sind, als daß man nicht auf uns hätte fallen sollen. Er bereut es jetzt, aber was hilft uns das. Es ist wahr, er hielt viel von meiner Frau; aber darin hätte er sie getreuer schildern sollen, daß sie viel zu klug und zu delicat war, als ihn einmal so weit kommen zu lassen, wie im ersten Theile enthalten. Sie betrug sich so gegen ihn, daß ich sie weit lieber hätte haben müssen, als sonst, wenn dieses möglich gewesen wäre. Unsere Verbindung ist auch nie declarirt gewesen, zwar nicht heimlich gehalten; doch war sie viel zu schamhaft als es irgend jemanden zu gestehen. Es war auch keine andere Verbindung zwischen uns, als die der Herzen. Erst kurz vor meiner Abreise, (als Goethe schon ein Jahr von Wetzlar weg, zu Franckfurt, und der verstellte Werther ½ Jahr todt war) vermählten wir uns. Hier erst, nach Verlauf eines ganzen Jahres, seit unseres Hierseyns, wurden wir Vater und Mutter. Der liebe Junge lebt noch, und macht uns Gottlob viel Freude. Sonst ist in Werthern viel von Goethe’s Character und Denkungsart. Lottens Portrait ist im ganzen das von meiner Frau. Albert hätte ein wenig wärmer seyn mögen.

So viel vom ersten Theile. Der zweyte geht uns gar nichts an. Da ist Werther der junge Jerusalem; Albert der Pfälzische Legations-Secretair, und Lotte des letzteren Frau; was nämlich die Geschichte anbetrifft, denn die Charactere sind diesen drey Leuten größtentheils nur angedichtet. Von Jerusalem wußte aber der Verfasser seine vorherige Geschichte vermuthlich nicht, darum schickte er die im ersten Theile voraus, und setzte verschiedenes hinzu, um den Erfolg des zweyten Theils wahrscheinlich zu machen, und diesem mehreren Anlaß zu geben. Der Albert des zweyten Theils war freilich etwas eifersüchtig, aber stand doch nicht in dem Verhältniß mit seiner Frau, wie da beschrieben ist. Seine Frau ist ein sehr hübsches, sanftes, gutes Geschöpf; aber nicht das Leben in ihr, was ihr da beygelegt wird; sie war auch zu der kleinen Untreue nicht einmal fähig, und auch sie betrug sich viel eingezogener gegen Jerusalem, der sie freylich sehr liebte, aber doch im beleidigten Ehrgeiz, mehr als in der unglücklichen Liebe den Grund zu seinem letzten Entschlusse fand. Er beredete sich aber vielleicht selbst, daß das Letzte die Hauptursache sey, und die letzte Veranlassung ist die Liebe selbst gewiß gewesen. Es ist zwar wieder wahr daß ich ihm die Pistolen dazu hergeliehen. Aber daß er sie dazu mißbrauchen würde, ließ ich mir nicht einmal träumen. Ich kannte ihn nur wenig, und meine Frau noch weniger; denn er entfernte sich die mehrste Zeit von den Menschen. Ich wußte von seinen Grundsätzen nichts; und von seiner Liebes-Geschichte nur, was das Publicum wußte; das war nicht viel. Er war nur zwey Mal bey mir gewesen, und bey dieser Gelegenheit hatte er vielleicht die Pistolen bey meiner Cammerthür hängen sehen. Er schrieb mir das eingerückte Billet würklich, und aus Höflichkeit schickte ich ihm die Pistolen, ohne Bedenken. Sie waren nicht geladen; ich hatte nie damit geschossen. — Er war ein guter melancholischer Junge; aber das hätte sich niemand von ihm träumen lassen; es hat es mir auch niemand verdacht.

Diese Jerusalemische Geschichte, die ich möglichst genau erforschte, weil sie merkwürdig war, schrieb ich mit allen Umständen auf, und schickte sie Goethen nach Franckfurt; der hat denn den Gebrauch im zweyten Theil seines Werthers davon gemacht, und nach Gefallen etwas hinzugethan.

Sie sehen also, daß Sie mich ohne Ursache bedauert haben; und ob wir gleich sehr ungern durch das Buch in das Gespräch des Publicums auf solche Art kommen, so freut uns doch, daß es ohne Grund geschieht, und Dank seys dem Höchsten, wir glücklich, zufrieden und vergnügt mit einander gelebt haben und noch leben. Ein geheimer Schrecken überfällt mich manchmal, wenn ich denke, diese Welt, und in so glücklicher Ehe! Darum ertrage ich gern, wenn ich es mir übrigens ein wenig sauer werden lassen muß, da mein Vater inzwischen verstorben ist, meine Einnahme nicht groß, der Aufenthalt hier kostbar ist. Ich nehme dieß gern als ein kleines Gegengewicht unseres Glückes an, zumal da es mir noch an nichts gefehlt hat, und noch nicht fehlet, auch meine Praxis immer etwas zunimmt, und die Aussicht zu besseren Umständen da ist.

Als Goethe sein Buch schon hatte drucken lassen, schickte er uns ein Exemplar, und meinte Wunder was er für eine That gethan hatte. Wir aber sahen es gleich voraus, wie der Erfolg seyn würde, und Ihr Brief bestätigt eine Art unserer Prophezeihung. Ich schrieb ihm und zankte sehr. Nun sah er erst ein was er gethan hatte; das Buch war aber schon an die Buchführer gelangt, und er hoffte noch, daß wir uns geirrt haben sollten.

Ehe ich weiter schreibe, bitte ich Sie inständigst diesen Brief gleich zu verbrennen; wenn er verloren gienge, so bekämen wir eine neue Auflage mit Anmerkungen. Ich habe mir vorgenommen, mich künftig zu hüten, daß ich keinem Autor etwas schreibe, was nicht die ganze Welt lesen darf.

Nun aber ersuche ich Sie, bey Mendelsohn und sonst zu äussern, daß Sie gewiß wüßten, daß in dem Buche die Jerusalemische Geschichte hauptsächlich zum Grunde liege. (Dieß ist wahr, und dem Todten gleichgültig.) Allenfalls können Sie hinzusetzen, daß die Charactere zum Theil wahr wären, aber nicht in der Maaße, daß der tragische Erfolg daraus fliessen könne. Wenn uns jemand kennt, so suchen Sie das Nachtheilige, das im Buche von uns liegt, von uns abzuwenden. Meiner Frau Bild ist in dem, was an Lotten liebenswürdig und untadelhaft ist, getreu. Schliessen Sie daraus, wie natürlich es zugegangen, daß ich sie lieben mußte, da ich sie in ihrer unerfahrenen Jugend kennen lernte. Wenn ich von ihr hätte lassen müssen; so stehe ich nicht dafür, ob ich nicht Werther geworden wäre. Darin erkenne ich mich in Albert nicht.

Sagen Sie aber, was soll ich bey der Geschichte anders thun, als sie übersehen. Zu redressiren ist sie nicht. Goethe hat’s gewiß nicht übel gemeint; er schätzte meine Frau und mich dazu zu hoch. Seine Briefe und seine andern Handlungen beweisen es. Er betrug sich auch viel größer, als er sich im Werther zum Theil geschildert hat. Uebrigens kann uns die Geschichte bey denen, die uns nur halb kennen, nicht schaden. Der Augenschein ist zu sichtbar für uns, da unser gutes Verständniß unter einander bekannt ist.

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